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Home Kultur Buchbesprechungen

Gegen das Vergessen: Henning Boëtius: Der Gnom. Lichtenberg-Roman

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
7. Juli 2019
Georg Christoph Lichtenberg

DCF 1.0

Der Roman erschien 1989; an ihn soll 30 Jahre später erinnert werden. Denn es handelt sich um ein seltenes Dokument biographisch-literarischer Entschlüsselung eines Gelehrtenlebens, das voller Widersprüche, Ambiguitäten und Obsessionen war, nämlich das des Georg Christoph Lichtenberg, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt und gewirkt hat. Körperlich mit dem Makel der Kleinwüchsigkeit und doppeltem Buckel aufgrund eines verdrehten Brustkorbs versehen, verfügte er kompensatorisch über genialische Geisteskräfte, die so vielfältig waren (in den Bereichen Mathematik, Astronomie, Physik, Satire/Literatur, Philosophie), dass sie schon wieder zum Problem wurden: noch gegen Ende seiner Lebenszeit fragte sich Lichtenberg selbst, was er denn nun sei – ein Identitätsproblem war es weniger als eines der Entscheidung. Denn Forscher, Wissenschaftler, Gelehrter war er allemal.

Henning Boëtius zeichnet mit viel Einfühlungsvermögen ein realistisches Bild von Lichtenberg, den er stets Georg nennt, aus der Kinder- und Jugendzeit gewählt, um so nah wie möglich an seiner Hauptfigur dran zu sein. Dabei wird sichtbar, dass bestimmte Eigenschaften, Vorlieben und Abneigungen, Verhaltensmuster von Kindheit an angelegt waren: so die Einsamkeit, die er, weil selbstgewählt, als Stärke empfand; so die Leidenschaft des Beobachtens und sich als Kind dabei Versteckens, als kröche er in sein Schneckenhaus; so die Liebe und Sexualität, die er anfangs nur erleben konnte, wenn er unsichtbar blieb; er war auch von klein auf ein großer Träumer, und aus späteren Jahren heißt es dazu: Merkwürdig, daß Träume zwischen Vergangenheit und Zukunft keinen Unterschied machen. Für Träume steht die Zeit still. Deshalb liebte er sie so.

Hier soll nun keine Rekonstruktion des Lebensweges Lichtenbergs aufgrund des Romans vorgenommen werden, vielmehr soll das Augenmerk auf die Person und die schon angedeuteten Dilemmata gelegt werden, so wie sie der Roman bereitstellt.

Das Problem, sich nicht entscheiden zu können oder zu wollen bzw. anderes zu wählen als zu erwarten war, zeigt sich bereits bei der Wahl seines Studienortes: nicht nach Gießen (damals die hessische Metropole der naturwissenschaftlichen Forschung und akademischen Ausbildung) zog es den gebürtigen Darmstädter, sondern nach Göttingen, wo der berühmte Mathematiker A. G. Kästner lehrte. Und nach Studienabschluss wollte er, wenn auch nur als Hauslehrer, unbedingt in Göttingen bleiben, auch wenn ihm eine lukrative Professur in Gießen zugesagt war. Ein Studienfreund bescheinigt ihm, über ungewöhnliche Talente zu verfügen, die Georg seines Erachtens verschleudere. Zu diesen zählt vor allem, in einem einzigen Satz die voneinander entferntesten Dinge in einen Zusammenhang zu bringen. Und weiter:

Du hast einen bestimmten Witz, einen natürlichen Hang zur Satire, der vielversprechend ist. Du kannst leicht und spielerisch schreiben und dabei zugleich ernste Themen in ein ihnen angemessenes Licht rücken. Das ist in Deutschland ein höchst seltenes Talent. Gewöhnlich findet man es nur in England, wo niemand ein vernünftiges Wort zu sagen vermag, ohne es mit einer feinen Schicht aus Spott zu glacieren. So solltest du schreiben. Du bist immer noch zu akademisch. Wahrscheinlich liegt das daran, daß Du ein Stubenhocker und Büchernarr bist. Dir fehlt es an Reisen.

Das ging nicht spurlos an Georg vorbei, zumal er auf den Freund bauen konnte. Auch er selbst ist sich klar darüber, dass er viel zu zögerlich ist in seinen Entscheidungen und dass er seiner schon früh angelegten Affinität zu England nachgehen sollte. Und so unternimmt er dann auch seine erste große England-Reise, wo ihm König Georg III. höchst persönlich nicht nur einen freundlichen Empfang bereitet, sondern ihm auch alle möglichen Annehmlichkeiten, Kontakte und Beziehungen angedeihen lässt, die ihm förderlich sein sollen.

Ein zweiter mehrwöchiger Aufenthalt Jahrzehnte später bescherte Lichtenberg alles, was er sich nur denken und wünschen konnte, nämlich beste Forschungsbedingungen, tiefe Freundschaften, Anerkennung und Reputation, fürstliche Bezahlung u.a.m. Recht eigentlich geht es ihm hier in jeder Hinsicht besser als in Göttingen, er wird hofiert und eingeladen, auf Dauer in England zu bleiben – doch Lichtenberg zögert und zagt, bis er sich dagegen entscheidet und nach Deutschland zurückkehrt. Ganz nach dem Muster, sich nicht festlegen zu wollen, sich nicht entscheiden zu können. Und das, wo er Englisch wie seine Muttersprache spricht, wo er Shakespeare und dessen Theater rühmt, weil es von breiten sozialen Schichten verstanden und in Scharen besucht wird, was auch mit der Sprache zu tun hat. Georg war sich nach der Aufführung sicher, daß es nie einen deutschen Shakespeare geben würde und daß dies an der Sprache läge, die zwar schön ist, sich aber allen Gegenständen auf Stelzfüßen nähert. Seine Leidenschaft für das Theater gründet darin, dass ihm das fiktive Leben auf der Bühne als Medizin gegen die Krankheit des wirklichen Lebens erschien. England sollte sein Leben lang Lichtenbergs heimliche Liebe bleiben. Ausdruck davon ist, dass er sich (teures) englisches Bier schicken ließ, das er als poetische Flaschenpost ansah.

Lichtenberg, auch in Deutschland längst Professor der Physik, war ein Forscher durch und durch. Er liebte das Beobachten und Experimentieren, ordnete von früh bis spät Versuche an und machte so manche bahnbrechende Entdeckung; so etwa fand er heraus, dass die Elektrizität doppelpolig in plus und minus angelegt sei oder was es mit der Luft und der Thermik auf sich hat; sein ganzer Stolz waren seine kostbaren Instrumente und sein Observatorium. Er wechselte ein Forschungsgebiet, wenn sein Interesse daran erlahmte, gegen ein anderes; war überwiegend Naturwissenschaftler, aber auch in der Philosophie beschlagen (seine Kant-Lektüre war ihm ein erotisches Vergnügen); seine privat organisierten Vorlesungen wurden in späteren Jahren von hunderten Studierenden aufgesucht. Sein Name erlangte Berühmtheit, er war eine höchst anerkannte Kapazität, wenn auch nicht ohne Neider und Konkurrenten. Ihn suchten Geistes- und Standesgrößen aus Wissenschaft, dem Adel, Klerus und der Kunst auf oder heim, wie man will: Der Besuch der Großfamilie von Hardenberg etwa, im Schlepptau war der Geheime Rat Göthe, kam einer Heimsuchung gleich, und an der Schreibweise des Namens von Goethe wird die abschätzige Beurteilung des Gastgebers deutlich. Georg beobachtete den Geheimen Rat Göthe aus dem Augenwinkel. Ihm schien, daß er nie ein unbewegteres Antlitz gesehen hatte. In dem künstlichen Licht sah er wie von Gips gegossen aus.

 Auch Klopstock kommt nicht gut weg. Ein Hochwürden des geistig-literarischen Lebens, den Lichtenberg als geladener Gast einer kulturellen Veranstaltung so erlebt: Als Rahmenprogramm wurde musiziert. Klopstock sagte kein Wort. Er applaudierte auch nicht. Ein mildes Desinteresse ging von ihm aus. Georg wußte, daß er an diesen Lesestunden gutes Geld verdiente. Irgendwie verstand er den Mann. Er hatte im Grunde nichts zu sagen. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als möglichst vielsagend ins Leere zu blicken. Und als Klopstock bei der Verabschiedung Lichtenbergs diesem mit beiden Händen aufs Schiff hilft, indem er ihn hochhievt, wird spöttisch bemerkt: „Starke Hände hat er“, dachte Georg, „zweifellos hat er seinen Beruf verfehlt.“

Lichtenberg war ein Meister der Satire und des Spotts, er war angriffslustig gerade gegenüber Respektspersonen und Berühmtheiten wie etwa dem großen Schweizer Physiognomiker Lavater. In einem Zeitschriftenartikel unter dem Titel „Über Physiognomik. Wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“ schreibt er unter anderem:

Bezieht man denn alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen? Was bei dem Manne Farbe wirkt, wirkte bei dem Kind Form … Daher vermutlich die regelmäßigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen, die sicherlich weder an Geist noch Herz Vorzüge besitzen, die wir nicht auch erreichen könnten. Oder ist Versehen der Seele und der Amme einerlei, und wird die erstere nach Verdrehung ihres Körpers ebenfalls verdreht, daß sie nun gerade einen solchen bauen würde, wenn sie wieder einen zu bauen kriegte? Wie?

Lichtenberg nimmt hier Partei für die sozial und körperlich Benachteiligten, all die, die unter Not und ungesunden Bedingungen aufgewachsen sind und deshalb nicht über die ebenen Gesichtszüge und den perfekten Körperbau verfügen wie die Wohlhabenden (und er bezieht sein eigenes Schicksal der körperlichen Versehrtheit voll mit ein); deswegen all diese für minderwertig anzusehen, verbittet er sich. Man kann in dieser Polemik durchaus eine frühe Kritik der Rassenlehre sehen, die zweihundert Jahre später den Nationalsozialisten zur Legitimation der Judenverfolgung diente.

Trotz aller gesellschaftlichen Anerkennung, die Lichtenberg zuteil wurde, war und blieb er ein einsamer und unglücklicher Mensch voller Skrupel und Selbstzweifel. Darauf deuten etliche Stellen  im Roman hin. Da heißt es etwa, dass er große Angst vor Endgültigkeiten hatte. Oder es ist die Rede  von einem Dilemma der Unentschiedenheit zwischen der Reinheit – sei es ein weißes, noch unbeschriebenes Blatt Papier oder sei es ein unberührtes Mädchen – und dem Gebrauch, der Vernutzung auf Kosten des Reizes.

Es gab kein Entrinnen aus diesem Widerspruch. Wie immer konnte er nur abwarten, nur verzögern, nur die Entscheidung für das eine oder das andere, das leere oder das beschriebene Papier, die Jungfrau oder die Ehefrau auf später verschieben. Und deshalb kam er sich feige vor, deshalb ging es ihm schlecht, deshalb fühlte er sich krank.

Die vielen Talente, über die Lichtenberg verfügte und die er forschend und schreibend auf den verschiedenen Gebieten realisierte, bescherten ihm kein stabiles Selbstbewusstsein, im Gegenteil, sie verwirrten ihn auch und machten ihn unsicher und ratlos. Er litt unter der Zerrissenheit seiner Existenz.

Aber was wollte er eigentlich? Wollte er Satiriker, Rezensent, Schriftsteller werden? Oder Astronom? Oder Physiker? Freund des Königs? Er wußte es nicht. … So war es wirklich mit seinem Leben: Es gab zuviel Zusammenhang, zuviel Ansätze, zuviel Verliebtheiten, zuviel Begonnenes und nicht Zuendegeführtes. Er mußte endlich eine Lücke finden, durch die er hindurchschlüpfen konnte in ein deutlicheres Dasein.

Immer wieder geht es um das Dilemma der Entscheidungen; sich nicht festlegen zu können oder zu wollen, ist das zentrale Verhaltensmuster Lichtenbergs, das ihm, wenn nicht zum Verhängnis, so aber doch zum strukturellen Unglück geworden ist. Einerseits zuviel von allem, andererseits alles nur halb. So sieht seine Lebensbilanz aus, wenn er von sich sagt, er habe ein Leben voller Halbheiten geführt. Wenn er ehrlich zu sich war, mußte er eingestehen, daß er sich ein Leben aus Halbheiten aufgebaut hatte wie eine unzulängliche Versuchsanordnung in seinem physikalischen Kabinett. Er war halb Schriftsteller, halb Physiker, er war halb verheiratet und halb Vater. Er war halb krank und halb gesund. Auch sein Ruhm war nicht ohne Halbheiten. Auf die Spitze des Selbstzweifels getrieben, heißt es, alles wirkte so, als sei er ein genialer Kopist seiner selbst. Das Original schien verloren.

Radikaler kann man sich die kritische Bilanzierung eines Gelehrtenlebens kaum vorstellen.

Und das, obwohl er doch so vieles geleistet und geschaffen und gedacht und geschrieben hat, allen voran auch seine implizite Pädagogik, in der er Witz und Wahrheit zusammenbringen wollte:

Auch er wollte die Menschen erziehen, aber möglichst so, daß sie es kaum bemerkten. Und er wollte ebenfalls Täuschung und Lüge bekämpfen, indem er sie enthüllte. Doch sollten die Betroffenen dabei lachen können. Das würde sie vielleicht am ehesten bekehren.

Zu guter Letzt war Lichtenberg also auch ein Aufklärer, und als solcher ein Geistesverwandter von Lessing. Beide schätzten sich gegenseitig. Lichtenberg war ein Aufklärer mit Humor – doch das wäre dann noch ein Talent neben den vielen anderen, für ihn selbst zuviel, für die Nachwelt unschätzbar. Ein genialer Roman über einen genialen Menschen.

Bildquelle: Wikipedia, Pressestelle der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, CC BY-SA 2.5

 

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Tags: AbweichungBehinderungGenieGeorg Christoph LichtenbergHenning BoëtiusHumorNormenRoman "Der Gnom"Unterschiede
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