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Ein Debattenbeitrag von Sebastian Hartmann: Nach Hartz IV – Abstiegsangst abschaffen!

Sebastian Hartmann Von Sebastian Hartmann
11. Oktober 2018
Hartz IV

„Hartz 4 ist der größte Scheiß“. Mit diesem Zitat einer 17-jährigen ALG II Bezieherin, begründete ein Vertreter der SPD Jugendorganisation Jusos auf dem letzten SPD-Kreisparteitag in meinem Wahlkreis einen Antrag. Was er als ungerecht empfand: Im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen wurde folgendes geregelt: Beziehen Eltern Arbeitslosengeld II und verdient ihr Kind sich neben dem Taschengeld selbst etwas dazu, wird dieser „Hinzuverdienst“ mit dem Arbeitslosgengeld verrechnet. Im Antrag wurde die Abschaffung dieser Regelung gefordert. Die Reaktion eines in Ämtern und Mandaten gestählten Genossen kam sogleich: Die Aussage sei inakzeptabel, da es auch große Vorteile der Reform gäbe und wesentliche Verschlechterungen erst durch die im Bundesrat blockierende Union hineinverhandelt wurden. Der Juso-Antrag wurde später nahezu einstimmig beschlossen.

Die nicht enden wollende Debatte um Hartz IV zeigt einmal mehr: Die SPD ist gefordert, neue Ideen eines sozialdemokratischen Sozialstaats im 21. Jahrhundert zu vereinbaren. Dies muss deutlich weitergehen, als eine reine Rückschau auf die Agenda-Entscheidungen des Jahres 2003 oder einen Bruch mit bestimmten Hartz-Regelungen.

Wir alle wissen: Hartz IV ist zum Symbol geworden. Die dahinterstehenden Systematiken und (Fehl-)annahmen verstärken die Zukunftsängste vieler Bürgerinnen und Bürger und sind Auslöser für Abstiegsangst. „Hoffentlich geht es meinen Kindern mal besser“ wurde abgelöst durch „Hoffentlich wird es meinen Kinder nicht schlechter gehen.“

Wir brauchen neuen starken, solidarischen Sozialstaat, der diese Abstiegsangst konsequent bekämpft. An den Anfang gehören drei grundsätzliche Gedanken, die ganz neue Antworten benötigen. Daraus ableitend sind Grundannahmen zu formulieren:

Erstens: Es ist eine Fehlannahme, dass Arbeitslosigkeit ein individuelles Problem ist. Gerade wir in Nordrhein-Westfalen wissen, dass sich Arbeit und Arbeitsplätze im Prozess eines immerwährenden Strukturwandels permanent verändern. Zudem ist Arbeitslosigkeit zunehmend regional ungleich verteilt. Damit sind auch die Chancen auf einen Einstieg in ein dauerhaftes und erfüllendes Erwerbsleben höchst ungleich verteilt. Das sind ganz konkrete Erfahrungen von Menschen, deren Arbeitsplätze in insolventen Drogerieketten wegfielen oder wegrationalisiert wurden, weil die selbstscannende Kasse im Supermarkt betriebswirtschaftlich günstiger ist. Und der Produktion schauen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit besorgtem Blick auf den Kollegen Roboter, der in immer kürzerer Zeit, immer mehr leistet und keine Pausen zur Erholung braucht.

Unternehmensfusionen, die Verlegung von Werken oder – durch Managementversagen ausgelöste – Unternehmenspleiten können ebenso wie Krankheiten zu einer kürzeren oder lang andauernden Arbeitslosigkeit führen. Ein Leitgedanke der nordrhein-westfälischen Sozialdemokratie lautet: „Bei uns fällt niemand ins Bergfreie.“ Dieses einfache Versprechen muss das Fundament des neuen, starken und solidarischen Sozialstaats werden. Wir sind davon überzeugt: Die Verhinderung von Arbeitslosigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Grundannahme eins: Arbeitslosigkeit ist in der Regel ein strukturelles Problem und in der Ausnahme ein persönliches Verschulden. Dies muss leitend in der Ausgestaltung neuer, verlässlicher sozialer Sicherheit sein.

Zweitens: Wir haben das Versprechen von „Aufstieg durch Bildung“ gegeben. Dieses Versprechen erfüllt sich aber immer öfter nicht mehr. Die zunehmend ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen entfaltet umso mehr seine gesellschaftliche Sprengkraft, wenn sich selbst größte Mühen und Anstrengungen von Menschen nicht mehr bezahlt machen.

„Wer sich bemüht, wird seinen Weg schon machen“ – wenn das nicht mehr gilt, ist das ein weiterer Hauptgrund für Zukunftsängste in der Bevölkerung und ein weit verbreitetes Ungerechtigkeitsempfinden. Diese Frage ist nicht allein am Arbeitsmarkt zu lösen. Hieraus folgt die zweite Grundannahme: Wir Sozialdemokraten wollen den guten und „gebührenfreien“ Start in ein gelingendes Leben garantieren, von der KiTa bis zum Studium und oder der Berufsausbildung. Lasst uns das konsequent fortführen im Hinblick auf die passende Weiterbildung und Qualifizierung in jeder Lebenslage. Das ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit.

Dennoch ist es mit einem ausreichend finanzierten Bildungs- und Qualifizierungssektor nicht getan, wenn das Versprechen des „Aufstiegs durch Bildung“ erneuert und neue Grundlage des starken, solidarischen Sozialstaats werden soll. Wir müssen uns endlich trauen, zentrale verteilungspolitische Fragen nicht nur zu stellen, sondern zu beantworten. Der Staat muss die zunehmende Ungleichheit aktiv bekämpfen – beispielsweise durch ein gerechteres Steuersystem, das gleichzeitig für auskömmliche Staatseinnahmen sorgt. Die Grundannahme drei ist Folge der oben skizzierten Beobachtung: Wir brauchen die Wiederbelebung eines Leistungsgedankens, der sich an Arbeit, ihrem Schutz und fairen Löhnen orientiert und nicht einseitig am steuerlichen Schutz zunehmend ungleich verteilter Einkommen und Vermögen.

Legen wir diese neuen Annahmen einer grundlegenden Sozialstaatreform zugrunde, müssen zumindest fünf Bereiche konkret angegangen werden.

Erstens und systemisch. Der deutsche Sozialstaat braucht eine neue Herangehensweise.

Wenn sich ganze Branchen im digitalen Wandel verändern und möglicherweise die Arbeitsstätte ganz entfällt, hat ein Erwerbsleben schneller und öfter Brüche. Das von der SPD im letzten Bundestagswahlkampf vorgestellte, von Beschäftigungsdauer und Alter des Beziehers unabhängige Arbeitslosengeld Q, kann zur neuen Grundlage werden. In Verbindung mit guten Weiterbildungen wird das – an das letzte Gehalt angelehnte – Arbeitslosengeld I für bis zu vier Jahre bezogen. Nun mag der Ordnungspolitiker einwenden, dass die Verantwortung für individuelle Qualifizierung von Arbeitnehmern und auch die Finanzierung dessen eigentlich bei den Unternehmen liegen muss. Es als zentrale staatliche Aufgabe zu begreifen, ist aber letztlich konsequenter, insbesondere wenn Unternehmen scheitern oder diese Verantwortung nicht mehr tragen können. Zugleich ist die Frage der generellen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I stärker in den Fokus zu nehmen. Unabhängig von Inanspruchnahme einer Weiterbildung, muss sich das Arbeitslosengeld I an der Dauer der vorherigen Beschäftigung orientieren. Ältere Arbeitssuchende gewinnen so ausreichend Zeit, neue Beschäftigung auch im bisherigen Berufsfeld zu finden.

Zweitens brauchen wir eine zweifelsfreie, verlässliche soziale Sicherheit. Arbeitslosigkeit darf nicht zum Sturz ins Bodenlose führen. Vermögenswerte, die im Bereich eines normalen Einkommens liegen und selbst erarbeitet wurden, müssen effektiv geschützt werden. Ein besonderer Schutz gilt dem Wohneigentum. Warum sollte jemand gezwungen werden, seine Wohnung zu verschleudern, damit der Staat dann im Anschluss die Mietkosten übernimmt?

Drehen wir es um: Wir nehmen ab sofort an, dass kein verwertbares Kapital beim Bezieher von Arbeitslosengeld vorhanden ist. Eine oftmals aufwändige Prüfung auf vorhandene Vermögenswerte entfällt und findet nur noch in wenigen, begründeten Ausnahmefällen statt.

Drittens müssen die Sozialleistungen an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt werden. Aktuell nimmt der relative Abstand zwischen Armen und Ärmsten immer weiter zu.
Und wenn das ALG II tatsächlich das Existenzminimum abbilden soll, dann müssen wir zudem das Sanktionsregime beenden. Und selbstverständlich brauchen wir eine echte Kindergrundsicherung, damit am Beginn nicht Armut, sondern eine echte Chance auf ein gelingendes Leben steht.

Viertens ist die Arbeitsagentur radikal umzubauen. Wir brauchen eine Agentur für Arbeit und Qualifizierung. Diese muss ansetzen, bevor Arbeitslosigkeit entsteht. Das bedeutet, präventiv auch in Arbeit befindliche Beschäftige zu beraten und zu begleiten. Denn die Beschäftigten wissen doch selbst am besten, wie für sie persönlich die Zukunft bei der eigenen Arbeit aussieht und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern verfügen über einen hohen Erfahrungsschatz. Lasst sie ihre Arbeit beginnen, bevor Arbeitslosigkeit entsteht und es noch schwieriger wird. Arbeit gehört in den Mittelpunkt gerückt und nicht die Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Ein neuer Schwerpunkt der Arbeitsagentur muss auf der Qualifizierung liegen – bis hin zu individuellem Coaching. Es ist menschenwürdiger und dazu noch viel günstiger, Arbeit zu versichern als Arbeitslosigkeit aufzufangen und ein sehr umfangreiches, auf Sanktionen und Kontrolle basierendes System zu unterhalten.

Fünfter und letzter Leitgedanke ist eine aktivierende staatliche Politik. Sie muss auf regional sehr unterschiedliche Bedürfnisse eingehen. Der von der SPD durchgesetzte Einstieg in den Sozialen Arbeitsmarkt ist ein erster richtiger Schritt. Es müssen weitere Schritte folgen. Das ist die Chance, dass tatsächlich Arbeit in allen Teilen des Landes und für alle Menschen, die sich bemühen, möglich wird.

Die SPD als Partei der Arbeit ist gut beraten, die Diskussion zur Überwindung von Hartz IV nicht aus Sicht wahltaktischer Manöver zu führen. Im Mittelpunkt muss stehen, dass in einer veränderten Welt das Versprechen von Solidarität im Sozialstaat neu gedacht wird. Der Arbeitssuchende ist nicht Bittsteller, sondern ein Mensch mit dem Willen zum selbstbestimmten, freien Leben – und muss auch so behandelt werden.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden uns selbst miteinander versöhnen, um wieder konsequenter an der Seite der fleißigen und ehrlichen Leute zu stehen. Neue, bessere Antworten für einen starken und solidarischen Sozialstaat sind nötig wie überfällig.

Echte, vernünftig bezahlte Vollbeschäftigung ist das Kernziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Denn gut bezahlte, möglichst tarifvertraglich gesicherte Arbeit, bleibt die beste Grundlage für eine auskömmliche Rente. Auch wenn wir in Zukunft anders, produktiver und damit vielleicht auch weniger arbeiten werden – all das muss neu zusammengedacht werden. Der starke, solidarische Sozialstaat muss im Kern seine sozialen Sicherungssysteme und die Versicherung von Arbeit neu entwerfen. Doch damit nicht genug: Der Umbau des Sozialstaates umfasst die Lösung verteilungspolitischer Fragen ebenso wie die Ausgestaltung des Bildungssektors und ein demokratischeres Wirtschaftssystem. Viel zu tun – auf nach vorn!

Bildquelle: pixabay, user geralt, CC0 Creative Commons

 

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