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Wie umgehen mit Protesten an Universitäten und Antisemitismus bei jungen Menschen?

Interview mit Professor Meron Mendel

Gunther Hartwig Von Gunther Hartwig
18. Juni 2024
Studentenproteste Pro Palästina

Frage: Antisemitische Einstellungen sind seit Jahrzehnten in der deutschen Bevölkerung verbreitet. Das wissen wir nicht zuletzt aus den Langzeitstudien der Bielefelder Extremismus-Forscher Heitmeyer und Zick. Was hat sich nach dem 7. Oktober 2023 verändert – allein die Zahl der Vorfälle oder auch die Qualität und Struktur des Antisemitismus in Deutschland?

Mendel: Studien und Statistiken sind eindeutig: Der klassische Antisemitismus in Deutschland ist seit langem stabil hoch, und der israelbezogene Antisemitismus steigt. Die aktuellen Vorurteile beziehen sich konkret auf den Konflikt im Nahen Osten und werden durch die Ereignisse dort angeheizt – wie übrigens auch schon bei vorherigen Eskalationsrunden zwischen Israel und den Palästinensern. Aber seit dem 7. Oktober ist der Anstieg antisemitischer Vorfälle viel stärker als früher. Die Zahl der Vorfälle in den letzten drei Monaten des Jahres 2023 war genauso groß wie in den neun Monaten zuvor.

Frage: Sehen Sie neue Allianzen oder Überschneidungen zwischen linkem, rechtem und islamistischem Antisemitismus?

Mendel: Wenn man die Proteste an den Universitäten betrachtet, sieht man mindestens Verbindungen zwischen linkem und islamistischem Antisemitismus. Das ist erstaunlich, weil die Lebensstile der Menschen aus diesen beiden Lagern sehr unterschiedlich sind. Bei Islamisten gibt es Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Homosexuellenfeindlichkeit, was von der progressiven Linken keinesfalls  geteilt wird. Aber sie teilen den Hass auf Israel.

Frage: Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer nennt die Proteste an den Universitäten „sehr ernst zu nehmen“, weil hier „der Kern der Legitimation des jüdischen Staates infrage gestellt wird“. Ist es wirklich so dramatisch?

Mendel: Wenn man die Anzahl der Protestierenden zum Maßstab nimmt, also 100 oder 150 Menschen auf dem einzelnen Campus, dann erscheint das zunächst nicht so dramatisch im Vergleich zu den Massendemonstrationen von 1968 oder gegen den Vietnam-Krieg. Das ist eher eine kleine Minderheit. Aber wenn man mit den Protestierenden redet, wie ich es in Frankfurt getan habe, dann wird schnell klar, es geht ihnen nicht nur um die Beendigung des Krieges in Gaza oder um eine dauerhafte Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Unter den Protestierenden herrscht ein Konsens darüber, Israel in seiner Existenz seit 1948 als illegitimen Fremdkörper in Nahost zu betrachten. Israel wird als Kolonialstaat bezeichnet, und die Parole „From the River to the Sea“ heißt nichts anderes als: Hier soll es nur Palästina geben, für Israel als Staat bleibt da kein Platz. Das ist traurig, denn wir brauchen in dieser Situation friedliche Proteste, keinen extremen Nationalismus.

Frage: Mit den Protestierenden haben sich zahlreiche Professoren und Dozenten solidarisiert. Wo verläuft denn die Grenze zwischen Meinungs- und Versammlungsfreiheit auf der einen, Volksverhetzung auf der anderen Seite?

Mendel: Man muss vorher definieren, wie man den Campus versteht, und ich sage das als Hochschulprofessor. In den letzten Jahren gab es viele Diskussionen darüber, welche Meinungen auf dem Campus öffentlich geäußert werden dürfen. Man hat immer auf das Prinzip hingewiesen, dass die betroffenen Minderheiten die Deutungshoheit darüber haben, was als rassistisch, homophob oder muslimfeindlich gilt. Aber wer Vorträge absagt, um Schwarze oder muslimische Studierende nicht zu verletzen,  darf keine Ausnahme machen, wenn jüdische Studierende die Proteste als Antisemitismus wahrnehmen. . Wir müssen dringend darüber sprechen, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit auf dem Campus verlaufen. Ich glaube, dass es nicht das einzige Kriterium sein sollte, was die von der einen oder anderen Diskriminierungsform Betroffenen subjektiv empfinden. Hier müssen objektive Kriterien angelegt werden, zum Beispiel der Aufruf zur Gewalt oder Vandalismus auf dem Campus.

Frage: Reicht es im Kampf gegen den Antisemitismus aus, Wissen und Informationen besonders  unter jungen Menschen zu verbreiten, etwa durch einen obligatorischen KZ-Besuch für Schulklassen?

Mendel: Es gibt keinen empirischen Beleg dafür, dass der Besuch eines KZ gegen Antisemitismus immunisiert oder zu einem besseren Verständnis des Nahost-Konflikts führt. Ich sehe aber großen Nachholbedarf beim Wissen über die Geschichte des Nahen Ostens, auch unter meinen Studierenden. Da sind allenfalls rudimentäre Kenntnisse vorhanden. Diese Generation informiert sich hauptsächlich durch Videos und Bilder auf TikTok und Instagram. . Es entsteht eine gefährliche Mischung aus Halbwissen und Emotionalisierung, die uns da begegnet. Was die Aufklärung über den Nahost-Konflikt betrifft, versagt unser Schulsystem. Viele Lehrer scheuen das Thema, weil sie selbst uninformiert sind oder weil sie fürchten, dass Schüler widersprechen oder emotional reagieren. Aber genau deswegen sollten Lehrkräfte umso mehr diesen Elefanten im Raum ansprechen und in der Schule fundiert über den Nahostkonflikt aufklären

Frage: Gibt es nicht auch Menschen, mit denen ein Gespräch über antisemitische Vorurteile gar nicht möglich ist?

Mendel: Die gibt es sicher. Aber die Frage bleibt: Woher rühren diese Voreingenommenheit und Verblendung? Da spielen bei der mit TikTok und Youtube aufgewachsenen Generation die von den Sozialen Medien vermittelten Bilder eine entscheidende Rolle. Deshalb müssen wir die Herausforderung annehmen und jungen Menschen vermitteln, worüber eigentlich zwischen Israelis und Palästinensern seit hundert Jahren gestritten wird.

Frage: Sie selbst leben mit Ihrer Frau vor, wie eine friedliche muslimisch-jüdische Kohabitation funktionieren kann. Was lernen wir daraus für das große Ganze?

Mendel (lacht): Das kann man schwer von einer persönlichen Paarbeziehung auf die realen Konfliktpunkte zwischen Israelis und Palästinensern übertragen. In unserem Alltag geht es nicht um Territorien, Wasserversorgung oder heilige Orte, sondern erst einmal um banale Fragen: Wer spült das Geschirr und wer bringt die Kinder ins Bett? Aber im Ernst: Ein Großteil des Konflikts vor Ort rührt daher, dass sich Israelis und Palästinenser kaum persönlich begegnen, nicht in der Kita, nicht in der Schule. Im besten Fall treffen sie sich an der Uni, das ist viel zu spät. Persönlicher Kontakt bleibt das zuverlässigste Gegenmittel gegen Vorurteile, nur so lernt man die andere Perspektive kennen. Das wirkt sich am Ende auch auf politische Einstellungen aus und schafft gegenseitiges Vertrauen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen.

 

Erstveröffentlicht am 14.6.2024 in MOZ

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