Mit der Besprechung dieses Romans schließt mein kleiner Südstaaten-Zyklus vorläufig ab (William Faulkner: Als ich im Sterben lag; Walker Percy: Der Kinogeher; Der Idiot des Südens; Liebe in Ruinen
Thomas Wolfe (1900 – 1938) schrieb den Roman in den 1920er Jahren. Er bestand zunächst nur aus einer Kiste voller handbeschriebener Blätter oder Seiten, mit denen sich der Autor auf die Suche nach einem Verleger machte. Einer davon hatte die „Nase“ dafür, dass sich in dem Wust große Literatur verbarg. Er machte Wolfe zur Auflage, aus dem circa Fünffachen an Material ein Manuskript von handhabbarem Umfang und lesbarem Handlungsgeschehen zu machen. Das gelang in mühevoller Kleinarbeit unter Mitwirkung des Lektors, und mit dem Resultat hat die literarische Nachwelt ein wahres Kleinod hinterlassen bekommen.
Vom Sujet her ein moderner Bildungsroman, für den Wolfe aus seinem eigenen Leben und Entwicklungsgang geschöpft hat. Der Protagonist Eugene ist wie er der Letztgeborene unter vielen Geschwistern und von Anfang an ein Fremder; er ist anders als die anderen, besonders. Der Junge genießt als einziger unter den Geschwistern eine höhere Bildung: erst besucht er ein privat geführtes College, dann eine Universität in der Provinz, um schließlich nach Harvard auf die Elite-Universität zu wechseln (was am Schluss des Romans in Aussicht gestellt, aber nicht mehr ausgeführt wird). Auch Wolfe hat in Harvard studiert. Und so weiter mit den Parallelen zwischen Autor und Hauptfigur des Werks.
Der Roman ist chronologisch aufgebaut und setzt in knapper Raffung mit den Großeltern Eugenes ein. Gilbert Gaunt, der Großvater, ein Engländer, gerät als Einwanderer in die Vereinigten Staaten unter deutsche Auswanderer – ein interkulturelles Gemisch entsteht, vielleicht bereits ein Vorzeichen für immer wieder betonte kulturelle Fremdheit, die sich auf den Sohn Oliver, Eugenes Vater, überträgt. Der zieht als junger Mann durchs Land, um mehr zufällig in den Südstaaten und hier in der Stadt Altamont hängen zu bleiben und sich niederzulassen. Er, der sich nun Gant nennt, baut sich eine Werkstatt als Steinmetz auf und betreibt ein Geschäft mit Grabsteinen und -verzierungen. Von Jugend auf schwebt ihm vor, einen Engelskopf zu meißeln, wie er ihn einmal an einer Statue gesehen hatte; doch alles sonst, nur das gelingt ihm nicht. Gleichwohl bewahrt er seine Versuche auf – und von Beginn an zieht sich das titelgebende und symbolträchtige Motiv des Engels durch das ganze Werk.
Gant begegnet Eliza, Tochter des Patriarchen Pentland, die Bücher vertreibt, und die beiden – grundverschieden von Herkunft, Gemüt, materieller und Werteorientierung – heiraten, zeugen in elf Jahren neun Kinder, von denen sechs überleben, und führen eine Ehe voller Krisen und Konflikte. Die Gründe hierfür liegen zum einen in den gegensätzlichen Charakteren und Orientierungen: Sie entwickelt sich zur umtriebigen Geschäftsfrau, die mit Immobilien handelt, eine Pension betreibt und raffgierig hinter Geld, Eigentum und Besitz her ist; er ist zufrieden mit dem, was er hat und überhaupt nicht an Zuwachs und Veränderung interessiert, eher konservativ und bodenständig. Sie verkörpern damit die beiden Grundtypen der traditionellen US-amerikanischen Gesellschaft. Zum anderen rühren die Konflikte daher, dass Gant ein Säufer ist; die regelmäßig stattfindenden Sauforgien gehen mit Zornesausbrüchen, wüsten Beschimpfungen und Gewalttätigkeiten einher und wirken sich verheerend auf das Familienleben aus.
Das epochale Jahr 1900 wird auch zum familialen Wendepunkt bei den Gants. Was sich in diesem Jahr alles tut, belegt Wolfe mit zahlreichen Anmerkungen und Hinweisen. In der Familie trägt Eliza ihre letzte Schwangerschaft aus, bringt Eugene zur Welt – ein Name, der wunderbarerweise ‚wohlgeboren’ bedeutet – und macht sich mit ihrer Pension Dixieland selbständig. Gants Leben, das sich spätestens von da an im Niedergang befindet, bezeichnet Wolfe als gewaltige Tragödie des Zufalls. Eliza wird als die Stärkere beschrieben, die sich trotz aller Krisen immer wieder durchsetzt.
Eugene, dem Kind der Zukunft, wird von klein auf eine Empfänglichkeit für Sinnenreize zugeschrieben. Wolfe entfaltet ein Langzeit-Portrait des Jungen, um zum einen alters- und entwicklungsspezifische Eigenschaften zu kennzeichnen, die sich aus dem kontrastierenden Vergleich mit seinen Geschwistern und Altersgenossen ergeben; zum anderen gibt es Konstanten seines Charakters, die sich aus beiden Strängen seiner Herkunft auf ihn übertragen haben. So heißt es zum Beispiel von Ben, seinem Lieblingsbruder, und Eugene, sie seien von Natur aus Aristokraten, eine Gemeinsamkeit, die auf ein edles Gemüt und die Eigenschaft, aus feinem Holz geschnitzt zu sein, schließen lässt. Was Eugene allerdings zum Besonderen unter den Geschwistern macht, ist ein früh angelegter Wissensdurst bzw. die nicht zu stillende Sehnsucht nach Horizonterweiterung auf geistig-kulturellem Gebiet. Sobald er lesen kann, liest er wahllos alles, was sich ihm bietet; er verschlingt Bücher, die Abenteuer und heldenhafte Liebe beinhalten und identifiziert sich mit den Helden; er verliert sich in Phantastereien und Träumereien (wie Eliza meint) so sehr, dass die Eltern den Schüler dadurch kurieren wollen, dass sie ihn zum Geldverdienen (fürs Taschengeld) anhalten.
Über die Daseinsbefindlichkeit Eugenes an der Schwelle zur Adoleszenz schreibt Wolfe:
Die Berge waren ihm Herr und Meister. Sie gaben dem Leben einen Rahmen. Sie waren der Kelch der Wirklichkeit, jenseits von Wachstum, jenseits von Kampf und Tod. Sie waren seine unveränderliche Einheit inmitten ewigen Wandels … Er verstand Wandel, er verstand Wachstum nicht. …
Und all diese körperlosen Phantome seines Lebens stellten sich mit schrecklicher Klarheit und der ganzen verrückten Unmittelbarkeit einer Vision ein. Was fünf Jahre her war, schien zum Greifen nahe, und in Momenten wie diesen hielt er seine eigene Existenz für unwahrscheinlich. Er wartete darauf, von jemandem geweckt zu werden …
Er hörte das gespenstische Ticken seines Lebens; seine machtvolle Hellsichtigkeit, Elizas ungebärdiges schottisches Erbteil, durchglühte die phantomgleichen Jahre und entriss dem gespenstischen Dunkel tausend glimmende Lichter …
Sein Leben wand sich zurück in die bräunliche Trübnis der Vergangenheit wie die gespleißten Litzen eines Leitungsdrahts; er war es, der den millionenfachen Sinneseindrücken Leben, Fortgang und Muster verlieh, die der Zufall in seinem lodernden Inneren entfacht hatte, ein verlorener oder gewonnener Augenblick, eine Kopfbewegung, der gewaltige, ziellose Impuls des Schicksals. Sein hell entflammter Geist klaubte die Lichtpunkte der Erfahrung zusammen, und die Gespenstigkeit alles anderen wurde dadurch umso schrecklicher. So viele der wiederkehrenden Empfindungen, die das Tor zu den magischen Welten der Phantasie und Einbildungskraft öffneten, waren im Strudel der vorbeiziehenden Landschaften aus Zugfenstern erhascht worden.
Wie ein Dreizehnjähriger sein Leben wahrnimmt, das sich an einem ersten Scheitelpunkt befindet, kann kaum blumiger, emphatischer und tiefergehend beschrieben werden, als Wolfe dies tut. Da sind es die Berge rund um Altamont, die dem Jungen Halt und Schutz versprechen. Da gibt es ein frühes Unverständnis für Wachstum und Wandel, womit er ganz nach dem Vater kommt, während er den luziden Blick, die Hellsichtigkeit der Mutter, deren Vorfahren aus Schottland stammen, zu verdanken hat. Da erscheint das Leben so unwirklich und unwahrscheinlich wie ein Phantom, was auch die Erinnerung an Zurückliegendes in greifbare Nähe rückt. Hier gibt es noch kein Maß und Ziel, keine feste Orientierung – nur unzählige Sinneseindrücke und die magische Welt der Phantasie. Nur das Warten darauf, erweckt zu werden.
Es sind die Sprache und der Stil Wolfes, die einen außergewöhnlichen Klang erzeugen. Nahezu auf jeder Seite finden sich Lyrismen wie diese: ‚Einen Augenblick aufgehobener Zeitlichkeit’ oder ‚Als hätte Gott über dem endlosen Orchesterklang der Meere plötzlich den Taktstock gehoben, und das ewige Gewoge wäre verebbt, aufgelöst in den zeitlosen Räumen des Absoluten’. Eine Sprache voller Poesie, die auch in der Übersetzung (hervorragend von Irma Wehrli geleistet) erhalten bleibt.
Dass es Eugene als einzigem unter den Geschwistern vergönnt ist, aufs College zu gehen, verdankt sich – neben der glücklichen Fügung des Zufalls und der Tatsache, dass Eliza mitspielt, indem sie die Investition in ihren Sohn durchkalkuliert, nicht zuletzt, weil sie meint, seine Begabungen kämen von ihr – auch seinen herausragenden schulischen Leistungen. Er schreibt den besten Aufsatz, gewinnt einen Preis und wird daraufhin von den Anstaltsleitern ausgewählt. In zwei Jahren wird sein Hunger nach Wissen, Erfahrung und Weisheit durch systematische Bildung gestillt. Er lernt Latein und Griechisch und liest die Klassiker. Ihm steht eine Bibliothek mit 20.000 Bänden zur Verfügung. Und vor allem hat er in den Anstaltsleitern, dem Ehepaar Leonard, ganz persönliche Förderer: Eugene scheint ihr Liebling unter den Schülern zu sein, für dessen Wohl und Wehe sie sich persönlich einsetzen und verantwortlich fühlen.
Neben Eugene werden die Geschwister portraitiert. Ben gilt als ruhelos, als einer, der unentwegt auf der Suche nach einem Zugang zum Leben ist und der einen dunklen Engel in sich trägt – vielleicht ein Sinnbild für Erfolglosigkeit und seinen frühen Tod? Von Luke, dem Stotterer, heißt es: Er sah die Welt als Posse und Er hatte keine Macht über seinen Dämon und Sein Gesicht war eine Kirche, in der Schönheit und Humor sich miteinander vermählten. Also einer, der nichts ernstnehmen kann, der alles verlacht – warum aber hat er den Sprachfehler, und wofür könnte dieser stehen? Schwester Helen hat eine besondere Beziehung zum Vater aufgrund von Affinität; nachdem sich Eliza auf eigene Füße gestellt und Gant vernachlässigt hatte, fühlt sich die Tochter verantwortlich und übernimmt später auch die Pflege des krebskranken, gebrochenen Mannes – eine Aufopferung, die auf Kosten ihres eigenen Lebens geht und die sie im Nachhinein dem Vater zum Vorwurf macht.
Eugene erlebt in der Adoleszenz den Job als Zeitungsausträger in Niggertown als große Herausforderung. Ihn treibt eine Versagensangst um, die ihn zu größten Anstrengungen motiviert, bis er routiniert genug ist, sein Pensum zu schaffen. Aber was Wolfe von Eugenes inneren Regungen verkündet, liegt jenseits einer Bewältigung von Leistungsanforderungen:
Seltsam ätherische Musik flötete aus dem Dunkel, ein symphonisches Gebrause überflutete in mächtigen Wogen seine allmählich erwachenden Sinne. Dämonische Stimmen, schön und schlafeslaut, hallten durch Finsternis und Licht und spannen den vor Urzeiten geknüpften Faden weiter. Er stolperte blind in das weißgetünchte Gleißen, und seine vom Schlaf umfangenen Lider öffneten sich langsam, als er aus dem Dunkel neu geboren wurde, und die Nabelschnur riss.
Wach auf, o Junge, der du die Schatten hörst. Erwache, o Schatten, zu uns. Geh, geh, o geh und erkunde den Weg. Öffne die Mauer des Lichts. Geist, Geist, wer ist der Geist? Verloren. … O flüsterzüngiges Lachen. Eugene! Eugene. O hierher, Eugene, hierher, Eugene. Hier ist der Weg, Eugene. Hast du es vergessen? Das Blatt, der Fels, die Mauer aus Licht. Beweg den Felsen, das Blatt, den Stein, die nicht gefundene Tür. Kehr zurück, kehr zurück.
An solchen Stellen zeigt sich die Erzählkunst Wolfes, die das tatsächliche, krude Geschehen und Erleben weit übersteigt. Der Junge, der am frühen Morgen noch in der Dunkelheit durch Niggertown rast, sieht sich anscheinend von dunklen Mächten umzingelt, von denen ein Sog ausgeht, eine Verführung, die auf sein Inneres anspricht und der er sich mit aller Kraft zu widersetzen sucht. Und doch erwacht in ihm der Mann – wie nach einer zweiten Geburt nabelt er sich endgültig von der Kindheit ab. Die Metapher des Lichts, die Wolfe immer wieder verwendet, könnte für Wegweisung, vielleicht sogar für Erleuchtung stehen.
Der dämonisierte Ort, das Schwarzen-Viertel, einem Ghetto gleich, ist einer der Verführung; Sexualität, genannt Wackelpudding, wird feilgeboten von einigen Zeitungsabonnentinnen, die selbst der Verachtung durch die Weißen anheimfallen. Eugene entflieht der Situation noch einmal – Scham, Sünde, Stolz und Einsamkeit verspürt er in seiner Gefühlswelt, die sich mehr und mehr als eine verwirrte geriert.
Er stürzt sich erneut in die Literatur, speziell in Gedichte, die seinem erhitzten Gemüt sublimierend zur Therapie gereichen. Regale von Romanen gehören ebenso zu seinem Leseprogramm wie eine intensive Beschäftigung mit William Shakespeare.
Es ist Vater Gant, der dafür sorgt, dass Eugene nach dem College auf eine Provinzuniversität kommt. Zu Beginn des 3. Teils heißt es über den erst Fünfzehnjährigen: Er war ein Kind, als er wegging: Er war ein Kind, das viel Schmerz und viel Übel gesehen hatte und doch ein Phantast des Vollkommenen blieb. … Und sein übervolles, bitteres Herz brodelte in ihm wie glühendes Erz, doch seine ganze verstockte Vernunft schmolz im Feuer seiner Einbildungskraft dahin. Er war nicht Kind, wenn er nachdachte, er war Kind, wenn er träumte … Er glaubte an ein tapferes, heldenhaftes Leben. Er glaubte an die zarten Blüten der Sanftheit und Ritterlichkeit, denen er kaum je begegnet war. Er glaubte an Schönheit und Ordnung und daran, dass er ihre noble Erscheinung dem heillosen Durcheinander seines Lebens abringen könnte. Er glaubte an die Liebe und an den Glanz und die Güte der Frauen. Er glaubte an Kühnheit und hoffte, wie Sokrates höchstselbst in der Stunde der Bedrohung nichts Würdeloses oder Unedles zu tun. Er jubelte, weil er jung war, und glaubte, dass er nie sterben würde.
Wolfe kennzeichnet Eugene als einen schwärmerischen jungen Mann, halb Kind, halb erwachsen, noch nicht ganz reif für die Hochschule, voller Ideale und Mythen, voller Glaube an das, was er in den Büchern gelesen und verinnerlicht hatte. Und so hat er im ersten Jahr an der Universität – neben dem stofflichen – auch ein hartes soziales Lernprogramm zu absolvieren, bis er nicht mehr in die Fallen tappt, die ihm die Älteren stellen. Erneut eine Zeit der Erfahrung von Fremdheit, Scham und Einsamkeit.
Sein früh angelegter Widerwille gegen alles Schematische, gegen alles, was sich allzu glatt in ein Schema einfügte, hatte sich auch gegen die übliche Pfuscherei bei den Lateinübersetzungen gerichtet; doch er erleidet mit seiner sorgfältig erarbeiteten, freien Übersetzung Schiffbruch beim Dozenten, der ihm absurderweise Betrug unterstellt, statt hinter die Schliche der anderen zu kommen. Die Anpassung an das Mittelmaß fällt Eugene schwer, aber er ist inzwischen auch klug genug, um seine Studien strategisch anzugehen.
Eugene wird einerseits als hochbegabt und im Studium erfolgreich beschrieben, andererseits als einer, der eine unerklärliche Last von Mattigkeit und Melancholie mit sich trägt, und dem das Zeitgefühl abhanden gekommen ist. Sein Lektüre-Pensum ist unermesslich; mit dem Beherrschen der klassischen Sprachen hat sich das Spektrum der Literatur noch mehr erweitert – Cicero oder Euripides liest er im Original. Daneben auch so etwas wie Poes Erzählungen. Eigentlich die Fortsetzung und Intensivierung seiner Lektüre, wie er sie bereits auf dem College betrieben hatte.
Es ist auch die Zeit der ersten großen Liebe – die Eugenes gilt Laura und wird unerfüllt bleiben. In poetischer Sprache schreibt Wolfe über Eugenes innere Befindlichkeit: Er empfand das Alter seiner Einsamkeit und seiner düsteren Wahrnehmung. Er empfand die aschfahle Weisheit der Sünde – eine grenzenlose Ödnis, und doch gesehen und erfahren. Als er ihre Hand hielt, fühlte er sich, als hätte er sie schon verführt. Sie hob ihr berückendes Gesicht zu ihm auf … Die ganze junge Schönheit der Welt wohnte für ihn in diesem Gesicht, das sich Staunen bewahrt hatte, das in solch ewiger Blindheit für die Schrecken und die Niedertracht der Welt existiert hatte.
Doch Eugene ist nicht nur ein Schwärmer und Phantast. In den Ferien hat er sich beispielsweise durch harte Arbeit im Hafen selbst gestählt, und diese Erfahrung, ganz auf sich gestellt überlebt zu haben und danach sogar über selbstverdientes Geld zu verfügen, macht ihn frei, glücklich und selbstbewusst.
Auch dass ihm im Laufe des Studiums klar wurde, dass er nie Gouverneur, nie Politiker werden würde, sondern dass er einer für seltsame Unternehmungen sei, wirkt wie eine Befreiung von Fremdbestimmung. Er war glücklicher als je zuvor in seinem Leben, und unbekümmerter. Seine physische Einsamkeit war köstlicher und vollkommener. So gelingt ihm allmählich die Ablösung von seiner Herkunft und Familie, die er, wenn auch mit Rückschlägen, als Selbstfindung und Selbstbefreiung durchlebt. Er besteht ein weiteres Mal die Auseinandersetzung mit seiner Mutter, indem er die familialen Bindungen aufkündigt; nicht Elizas Wunsch, es zusammen zu versuchen, will er folgen: Nein, sagte er. Allein. Ich bin siebzehn Jahre lang hier bei euch in die Lehre gegangen, aber das wird nun bald ein Ende haben. Ich weiß jetzt, dass ich davonkommen werde; ich weiß, dass ich mir, was euch betrifft, nicht viel vorzuwerfen habe, und ich habe keine Angst mehr vor euch.
Als einen empfindlichen Einschnitt erlebt Eugene die schwere Erkrankung und das Sterben von Ben, seinem geliebten älteren Bruder. Wolfe widmet diesem Sterben und dem komplizierten Umgehen damit innerhalb der Familie über zwanzig Seiten an Text; hier werden zum einen die Unbeholfenheit und das Entsetzen im Umgang mit dem nahenden Tod; zum anderen Schmerz und Mitleid, aber auch widersprüchlich-ambivalente Gefühle von Liebe und Hass gegenüber den familiären Bindungen entfaltet. Es gab nicht einen Moment des Hasses, der nicht dutzendfach von Mitleid gebrochen wurde. Kraftlos wollte er sie packen, knuffen, schütteln wie ein lästiges Kind, und sie gleichzeitig umarmen, lieben, trösten.
In die Familiensaga flicht Wolfe die großen geschichtlichen Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg, den Eintritt der USA 1916 und dessen Ende ein, um – auf die lokale Ebene heruntergebrochen – die Phantasien von Heldentum, die mit dem Krieg verstärkt unter der männlichen Bevölkerung aufblühten, wie auch die lukrativen Seiten desselben zu veranschaulichen. Bens Tod und das Kriegsende fallen zusammen, als wäre ersteres ein Symbol für letzteres. Geplagt von Gewissensqualen, macht dieser Verlust es Eugene erneut schwer, die Familie zu verlassen und seinen Weg zu gehen. Wolfe nennt diese Gewissensstruktur das helle, verzweifelte Etwas, das sich in Eugenes Herzen erhob … und sprach, wie eine innere Stimme, mit der er die Argumente für und wider seinen Fortgang abwägt, die ihn ermutigt und bestärkt, es zu tun und alles hinter sich zu lassen – einer der vielen stilistischen Glanzpunkte des Romans. So auch die Szene, als Eugene abends Bens Grab aufsucht: Der Wind zerrte an den Ästen, die welken Blätter bebten. … Der Stern war fern. Die Nacht entfacht. Und licht das Licht. Ein Summen, ein Singen, das tanzende Schweben der Schemen in ihm. Der Stern über der Stadt, das Licht über dem Berg, der Rasen über Ben, die Nacht über allem. Bei aller Mystik: Das ist poetische Prosa oder Lyrismus vom Feinsten. Das Licht und der Stern könnten hier als Sinnbilder des weiteren Bildungsgangs und Lebenswegs von Eugene gedeutet werden, als würde Ben oder sein Geist ihm diesen Weg weisen: aus dem Dunkel zum Licht.
Er schließt sein Studium an der Universität wie erwartet glanzvoll ab. Und die stolzen Eltern nehmen an der Abschlussfeier teil. Was weiter wird, darüber ist sich Gant auch als schwer kranker Mann im Klaren, steht nicht mehr in ihrer Macht. Ein alter Professor nennt in einem Gespräch mit Eugene Harvard als dessen nächsten Bestimmungsort – die Eliteuniversität schlechthin.
Der Roman schließt ab mit einer nächtlichen Szene der Imagination, die an Shakespeares Dramen gemahnt: Eugene trifft Ben, und in einem langen (zwölfseitigen) Gespräch ergehen sich die Brüder in Erinnerungen an Verlorenes: verlorene Zeit, verlorene Städte, verlorene Epen, verlorene Gestalten – und die missglückte Suche nach sich selbst. Ben erklärt Eugene auf die Frage, wo die Welt sei: Nirgends … Du bist die Welt. Und in einem fulminanten Schluss heißt es auf der letzten Seite: Und der Tag erschien und das Lied der erwachenden Vögel und der Platz, in das zarte, perlgraue Licht des Morgens getaucht. Und ein Wind säuselte über den Platz, und Ben war ein Räuchlein, verschwamm vor seinen Augen im Morgengrauen.
Und die Engel auf Gants Veranda erstarrten zu hartem Marmorschweigen, und in der Ferne erwachte das Leben, und schmale Räder ratterten, und langsam klapperten Hufe. Und er hörte das klagende Pfeifen am Fluss.
Doch als er nun zum letzten Mal neben den Engeln auf seines Vaters Veranda stand, schien es, als wäre der Platz schon weit entfernt und verloren; oder vielleicht sollte ich sagen, er glich einem Mann, der auf einem Hügel steht über der Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt: Die Stadt ist nah, sondern seine Augen emporhebt zu den in weiter Ferne aufragenden Gebirgszügen. Abschließend sei noch die Frage nach der Bedeutung des Engel-Motivs aufgeworfen. Der Engel könnte symbolhaft verweisen auf die Familienbande, die Bindungen, die Herkunft, die nicht verleugnet werden kann oder soll, die stärker prägt und fesselt, als es wünschenswert, zu verkraften und zu bewältigen ist. Vom Vater als Statue idealisiert, könnte der Engel auch die besonderen Beziehungen Eugenes zu Gant markieren. Als Bote des Unheils wie des Glücks, als Lichtgestalt wie Todesbringer, scheint der Engel für die ambivalente Familienstruktur zu stehen, der nicht zu entkommen ist. Deswegen: Schau heimwärts. Und deswegen auch der Untertitel: Eine Geschichte vom begrabenen Leben – ein Widerspruch in sich, denn Tote begräbt man und nicht das Leben.
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