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Die Grünen sind Regierungspartei – Pragmatisch, nicht revolutionär

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
16. Oktober 2022
Bündnis90/Die Grünen

Ältere Beobachter der Partei Bündnis 90/Die Grünen werden sich die Augen reiben, wenn sie den heutigen Grünen zuhören. Aus der einstigen Protest-Bewegung, der Anti-Partei, die nur ablehnte und verhinderte, ist eine Regierungspartei geworden, die regieren will, gestalten. Dazu passt der absolute Protest von einst nicht mehr, wer regieren will, muss pragmatisch sein, flexibel, er muss für Mehrheiten werben. Und die sind mit den Stimmen der Grünen allein nicht zu erreichen, dazu braucht es die SPD, die CDU oder die FDP oder mehrere der anderen Parteien.

Regierungspolitik geschieht durch den Kompromiss, ja sogar in Fragen der Atompolitik, die zur DNA der Grünen von Anfang gehört. Dazu gehört die Außen- und Friedenspolitik, Rüstungsgeschäfte auch. Letzteres kann man im Russland/Ukraine-Krieg gut verfolgen. Da stehen die Grünen teils an der Spitze der Bewegung, die dem bedrängten Volk der Ukrainer schneller und am liebsten die besten Waffen der Welt liefern wollen, damit man sich gegen den Aggressor aus Moskau wehren kann. Pazifismus wird deshalb nicht gestrichen, aber im Ernstfall wie jetzt fordert man Waffen aller Art.

Oder nehmen wir die Atompolitik. Nein, die Grünen wollen nicht wieder einsteigen in den Bau neuer Atomkraftwerke, aber sie haben sich einem Kompromiss abringen lassen, damit zumindest die zwei noch laufenden AKW ein wenig länger in Betrieb bleiben. Das scheint geboten angesichts der Energiekrise, in die wir nach Meinung vieler Experten sonst hineinschlittern. Das bedeutet nicht, dass die Grünen ihre ablehnende Haltung zur Atomenergie grundlegend verändert hätten. Die Frage der Beherrschbarkeit von AKW ist ja weiter nicht beantwortet. Der Atommüll liegt irgendwo herum, niemand weiß bisher, wie man ihn entsorgen kann.

Über der Bühne des WCCB in Bonn prangt das Motto der Delegierten-Konferenz: „Wenn unsere Welt in Frage steht. Antworten.“ Das passt zum neuen Selbstbewusstsein der Grünen, das groß geworden ist. Die Partei hat inzwischen rund 125000 Mitglieder und das muss nicht die Grenze nach oben bedeuten. Die Grünen streiten, ja, besser, sie ringen miteinander, aber es geht insgesamt doch sehr friedlich  und pfleglich zu. Andere Parteien müssen aufpassen, die Grünen sind auf der Überholspur. „Unsere DNA ist  Gerechtigkeit,“ so sagt es Ricarda Lang. Das richtet sich auch an die SPD. Die Grünen haben der SPD bei jungen Wählerinnen und Wählern den Rang abgelaufen. Sie fühlen sich auf dem Weg zu einer neuen Volkspartei. 

Gegen die Obrigkeit

Ja, das sind heute andere Grünen-Politiker und andere Grünen-Mitglieder als 1980, als die Grünen-Partei in Karlsruhe gegründet wurde. Damals war es eine Bewegung, bunt zusammen gewürfelt, man war gegen Atom, gegen die Obrigkeit, forderte eine radikale Umkehr in der Industriepolitik vor allem im Umgang mit Autos, weil die Grünen schon zu Beginn ihrer politischen Arbeit die Bedrohung der Umwelt sich auf die Fahnen geschrieben hatten. Damals zogen sie mit Fähnchen, Blumen, Strickzeug und T-Shirts in den Bundestag in Bonn ein. Es war mehr ein Spektakel. Jahre später sah man Joschka Fischer in Jeans und Turnschuhen bei der Vereidigung als hessischer Umweltminister im Kabinett des SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner. Es dauerte bis 1998, ehe die Grünen an der Seite der SPD und von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine die erste Rot-Grüne Bundesregierung bildeten. Dann flog Joschka Fischer auf einem Grünen-Kongreß in Bielefeld ein Farbbeutel ans Ohr und verletzte sein Trommelfell. Es war der Ausdruck des Protestes gegen die Militär-Politik der Regierung, gegen Fischers Außenpolitik, gegen die  deutsche Beteiligung an den Luftangriffen auf Serbien.

Was damals die Ausnahme war, ist heute längst der Normalfall. Die Grünen regieren im Bund mit der SPD und der FDP, in NRW sitzen sie gemeinsam mit der CDU und dem Ministerpräsidenten Hendrik Wüst am Kabinettstisch. In Niedersachsen werden die Grünen wohl mit dem SPD-Regierungschef Stephan Weil regieren, in Schleswig-Holstein tun sie es mit dem CDU-Regenten Daniel Günther, in Rheinland-Pfalz gibt es eine Ampel, die in Mainz das Sagen hat, ein paar Kilometer weiter in Wiesbaden sitzen  CDU und die Grünen gemeinsam in der Regierung und in Baden-Württemberg ist ein Grüner, Wilfried Kretschmann, der Chef in der Staatskanzlei. Die Grünen sitzen in Brandenburg und in Sachsen mit am Kabinettstisch wie auch in Bremen und Hamburg und in Berlin. Lediglich in Bayern wie in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-​Anhalt und im Saarland sind sie in der Opposition.

„Wir suchen die Verantwortung“

Ich habe das bewusst aufgezählt, um deutlich zu machen, wie die Grünen heute in Regierungspolitik involviert sind. Sie sind Regierungspartei von Nord bis Süd von Ost bis West. Da ist pragmatische Politik gefragt. Was denn sonst? Erst das Land, dann die Partei. Das Motto gilt auch für die Grünen wie alle anderen demokratischen Parteien. Grünen-Chefin Ricarda Lang sagte: „Wir suchen die Verantwortung. Und wir schaffen das, weil wir handeln.“Und später ergänzt, wenn man so will, ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour: „Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen die Demokratie.“ Staatstragend, das empfinden viele Grüne heute nicht mehr als Makel.

Wer den Parteitag der Grünen, der ja Bundesdelegiertenkonferenz heißt, in Bonn verfolgt, wird das bestätigen. Wir haben eine Pandemie, die längst nicht erledigt ist, einen Krieg Putins gegen die Ukraine, in dem wir und der übrige Westen Kiew mit Waffen, Geld und Diplomatie unterstützen, wir nehmen Geflüchtete auf. Der Westen hat Russland mit Sanktionen belegt und darauf drehte Putin uns den Gashahn zu. Vielen Menschen hier im Lande drohen massive Energiekosten, vieles ist extrem teuer geworden, für nicht wenige kaum zu bezahlen. Unternehmen kämpfen um ihre Existenz. Wir müssen uns unterhaken, hat Bundeskanzler Olaf Scholz mehrfach betont, die Ampel-Regierung versucht, diesen Leitsatz umzusetzen. Milliarden-Euro-Programme, die einen schwindelig machen könnten, sollen das Schlimmste verhindern. Die Politik ist gefordert, uns heil über den Winter zu bringen. Dass die Grünen in dieser Situation ihrer Führung und ihren Ministern Baerbock und Habeck in der Regierung keine Knüppel zwischen die Beine werfen, ja sie unterstützen, zeigt, dass die Grünen verstanden haben. Sie tragen Verantwortung, auch wenn das nicht jedem von ihnen gefällt.

Klimaschutz als Kernthema

Klimaschutz ist  eines ihrer Kernthemen, wichtig für uns alle, überlebenswichtig, damit unser wunderschöner Planet nicht an Überhitzung stirbt. Dagegen die Kohle als Übergangsenergie für ein paar Jahre, das Dörfchen Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier ist ein Symbol für den Kampf der Klimaaktivisten gegen den Braunkohleabbau. In Lützerath, lese ich, lebe noch ein Bauer, der unterstützt werde von ein paar Dutzen Aktivisten. „Lützi“ nennen sie den Flecken Erde liebevoll wie „Hambi“, den Hambacher Forst. Lützi müsse leben, bleiben. Garzweiler ist auch so ein Symbol. Darüber diskutieren sie, leidenschaftlich, aber sie lassen ihre Minister, Habeck voran, leben. Der Wirtschaftsminister weiß, wie er seine Grünen umarmen muss, damit sie ihm folgen. „Ich war noch nie so stolz, ein Grüner zu sein“, hat er die Delegierten gepriesen. Ovationen folgten.

Dass die Grünen in der Regierungsverantwortung stehen, in Umfragen an zweiter Stelle hinter der CDU, aber vor der SPD, verdanken sie auch Baerbock und Habeck. Die Grünen sind keine Partei der Linken mehr, sie sind längst in die Mitte gerückt. Einer der linken Vordenker, Tarek al-Wazir, Minister im schwarz-grünen Kabinett in Hessen, hat das Ziel vorgegeben: „Wir kämpfen um Platz eins. “ Gemeint die Landtagswahl in Hessen im nächsten Jahr. Hessen, ausgerechnet, da kämpften mal die ganz linken Grünen gegen die Atomwirtschaft und die Startbahn West. Heute sind sie die Etablierten in der Partei, die ohne großen Widerspruch betonen:“ Wir handeln nach Recht und Gesetz“. Gemeint, der Autobahnausbau A 49 in Oberhessen. Früher, in der Opposition, saßen sie auf den Bäumen, um zu verhindern, dass diese gefällt werden. Aber Autobahn-Bau ist Bundessache, da haben sie nichts zu melden. Und tun es auch nicht. Tarek al-Wazir ist Verkehrsminister und muss im Auftrag des Bundes den Bau umsetzen. Die Grünen als Verräter am Klimaschutz? Oder Anhänger der Realpolitik. Sollen sie etwa die Koalition in Wiesbaden verlassen? Wem wäre damit gedient? So sieht es aus. Eine Koalition aus CDU und SPD würde die A 49 zu Ende bauen. Fertig. Ein grünes Dilemma?

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Tags: AtompolitikBündnis90 / Die GrünenDelegierten-Konferenz BonnGrüne DilemmataRegierungspolitikWaffenlieferungen Saudi-ArabienWaffenlieferungen Ukraine
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