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Home Kultur Buchbesprechungen

Die Scham, es nicht geschafft zu haben – Buchbesprechung Fatma Aydemir. Ellbogen Hanser, München 2017

Wolfgang Wiemer Von Wolfgang Wiemer
17. Mai 2017
Buchtitel Ellbogen

Literatur, die unterhalten soll, stellt den Leserinnen und Lesern Figuren vor, mit denen sie sich identifizieren können, mit ihren Fehlern, Schwächen und Stärken oder vor denen sie sich gruseln können, weil sie so ungeheuer böse sind, oder dumm und dreist, Verbrecher.

Hazal ist sympathisch, obwohl alles dagegen spricht: sie ist dumm, sie ist kriminell, sie ist ein wenig rassistisch: Sie nennt Deutsche „Kartoffel“. Sie ist in Berlin geboren und wird gerade 18. Ihre Eltern sind eine türkische Hausfrau, frustriert und tyrannisch und ein türkischer Taxifahrer, gewalttätig, verschwiegen und ungern zu Hause. Die notorische Schulversagerin, Ladendiebin, Drogenkonsumentin, wird an ihrem Geburtstag einen Menschen töten. Trotzdem möchte man ihr helfen, sie vor sich selbst beschützen, viele Buchseiten lang, obwohl längst klar ist, dass sie diese Hilfe hochnäsig zurückweisen würde. Erst am Ende wird man ahnen, dass ihr nicht (mehr) zu helfen ist.
Hazal erzählt ihre Geschichte radikal subjektiv selbst. Sie zieht die Leser in eine Welt, die dem modernen Bildungsbürger vollkommen verschlossen ist, eine türkisch-subproletarische Parallelwelt,
eine Welt, in der Überleben in Würde das Höchste scheint, was ein Mensch erreichen kann – und gerade für Frauen doch so schwer erreichbar ist.

Zum Geburtstag gibt es Schokoladenkuchen mit Marzipan. Hazal erzählt:
„Jeder weiß, dass ich weder Schokotorte noch Marzipan mag, und dass es einen Scheiß bedeutet, dass ich achtzehn werde.Trotzdem grinsen mich alle an, als ich die Torte aus Onkels Bäckerei anschneide, wünschen mir alles Gute für was auch immer und nehmen sich jeweils ein Stück auf ihre eckigen Porzelanteller. Sobald es verdrückt ist, wechselt das Thema auf gebrauchte Autos und das Fernsehprogramm.“
Bei dem Onkel arbeitet sie, Teilzeit: „Ich wische die Regalbretter ab…Danach heißt es wieder warten… Warten bis ich eine Ausbildung habe und nicht mehr in diesen elendigen Laden kommen muss, für diesen Scheißjob, den eine hirnamputierte Eidechse genausos gut machen würde. Warten auf eine bessere, reichere, eigene Zukunft, die es nicht geben wird, weil ich sie längst verpasst habe…“
Das bezeichnet nicht zuletzt ihr Bewußtsein, nicht dazu zu gehören. Dazugehören macht sich unter anderem fest an sicheren Jobs, guter Arbeit, an bestimmten durchaus Jugend-typischen Konsumartikeln, am Besitz von schönen, scheinbar erwachsenen – und verbotenen- Dingen: Kosmetik, Pumps, T-Shirts mit Decolleté. Dass die Freundinnen mit ihren „nuttigen Klamotten“ dann vom Türsteher nicht in den Club gelassen werden, gehört zu den vielen Niederlagen, die in die Katastrophe führen.

Außer Hazal und ihren Eltern treten in wichtigen Rollen auf: ihre zwei besten Freundinnen, von denen eine aus Bosnien stammt, ihr jüngerer Bruder, ihr ukrainischer Kleindealer, den Hazals Bruder ausraubt, (und dem sie das vom Bruder geraubte Geld zurückgibt!), Mehmet, ein aus Deutschland Ausgewiesener, in den sie verliebt zu sein glaubt, obwohl sie sich nur via Skype kennen. Auf ihn projeziert sie ihre Sehnsucht nach Sicherheit. Und Tante Semra, die einzige „Studierte“ der Familie, mit Abschluss in Sozialarbeit und die einzige Person, der Hazal vertraut.

Das Ende der Geschichte ist so offen, wie es das Leben einer Achtzehnjährigen sein sollte und doch lässt es die Leser*innen im Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit zurück. Hazal ist nach Istanbul geflohen, hat gemerkt, was für ein Schwächling Mehmet ist. Immerhin hatte der einen Mitbewohner, der ihr helfen wollte. Dazu kommt es nicht, weil er als angeblich kurdischer Terrorist gesucht und schließlich auch inhaftiert wird. Sie landet zwischen allen Stühlen, nachdem die reiche Geliebte des Kurden sie vor die Tür setzte – besonders gelungen, wie Hazal diese Gözde sieht, wie fremd die Welten sind! Die Obdachlosigkeit verhindert Tante Semra, die ihr nach Istanbul nachreist, durch Buchung eines billigen Hotelzimmers. Die Aussprache mit der Tante, die Hazal zurück nach Berlin holen will, wo natürlich die Polizei auf die Mörderin wartet, führt zum Bruch: „Wie konnte ich denken, dass Tante Semra mich verstehen würde? Ich schütte ihr mein Herz aus und sie kommt mir mit billigen Kartoffel-Sprüchen, dass sich alle Sorgen machen und so. Warum hat sich denn keiner Sorgen um mich gemacht, als ich noch bei ihnen war? ….Und was will Semra? Sie sagt, sie weiß, wie es sich anfühlt, aber einen Scheiß weiß sie. Läuft lässig und schick in der Welt rum, hat all das in der Tasche, wovon ich nur träumen kann. Hat diesen Sonderstatus in der Familie, nur weil sie studiert hat, und alle lassen sie in Ruhe, hat als Einzige einen anständigen Job, und die Deutschen sehen sie bestimmt ab und zu auf Augenhöhe an und denken, oh, die ist ganz schlau für eine Türkin. Und sie denkt, alle könnten dasselbe schaffen wie sie…“.

Fatma Aydemir ist ein großes Erzähltalent, die der Leserschaft eine unbekannte Welt mitsamt den Klischées darüber erschließt. Sie ist in Karlsruhe geboren und lebt als freie Autorin und Redakteurin der „taz“ in Berlin. Diese wenigen biografischen Details legen nahe, dass sie Vieles von dem kennt, was Hazal im Roman auszuhalten hat. Sie hat studiert, wie Tante Semra; aber nicht Sozialarbeit sondern Germanistik. Sie erklärt nichts, sie wechselt im Roman keine Sekunde den Blickwinkel der Täterin, sie urteilt nicht. Sie imitiert den Slang der jungen Frauen, wobei sie der Gefahr entgeht, dass der Ton gekünstelt wirkt oder gar langweilt. Das ist gerade sprachlich sehr gelungen!

Schon lange habe ich kein so faszinierendes Buch mehr gelesen, ein Buch, das einem buchstäblich den Schlaf rauben kann. Ein Roman der darüber erzählt, wie anders es nebenan zugeht. Wieviel schwerer es dort ist, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Zuneigung – ganz zu schweigen von Liebe – zu bekommen. Wie schwer es ist, Würde zu bewahren und etwas zu erfahren, das mit dem sperrigen Wort „Teilhabe“ bezeichnet wird. Fatma Aydemir erzählt die Scham und die Einsamkeit, die Verlorenheit, die sich einstellen, wenn alle diese Dinge des Lebens verweigert werden.
Die Scham, es nicht geschafft zu haben, obwohl man die Ellbogen doch gehörig ausgefahren hat.

Buchbesprechung Fatma Aydemir. Ellbogen Hanser, München 2017
Bildquelle: Hanser Literaturverlage

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Tags: BuchbesprechungEllbogenFatma AydemirFatma Aydemir: Ellbogen
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