Rudolf Seiters gehörte in den Jahren, als er deutsche und internationale Politik wirklich mitgestaltete, eher zu den stillen Zeitgenossen im Lande. Er suchte nicht das Podium, Seiters machte wenig Aufsehen um seine Person. Er stellte sich in den Dienst der Sache, die Politik hieß. Und wenn man sagt, Seiters sei ein Vertrauter des Bundeskanzlers Helmut Kohl gewesen, dann war das so und schloß mit ein, dass Seiters dieses Vertrauen nicht missbrauchte.
Er war loyal zu seinem Chef, diskret, keiner, der die geheimen Dinge im politischen Bonn durchgestochen hätte, um irgendwo zu gefallen. Das wollte er nicht und hatte das auch nicht nötig. Der CDU-Politiker war verlässlich, aber auch, wenn nötig streitbar. Man frage SPD-Politiker, die damals in den 80er und 90er Jahren im Bundestag saßen. Da hat er den Genossen die Leviten gelesen, weil viele von ihnen, wie Oskar Lafontaine, aber auch Gerhard Schröder, zunächst mit der deutschen Einheit nichts anfangen konnten. Heute, am 13. Oktober, wird Rudolf Seiters, seit vielen Jahren Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, 80 Jahre alt.
Ich kann mich gut erinnern, wie er die Bundespressekonferenz an einem bestimmten Sonntag, es war der 4. Juli 1993, ins Bundesinnenministerium einladen ließ, um dort völlig unspektakulär seinen überraschenden Rücktritt zu erklären. Seiters übernahm mit diesem Schritt die politische Verantwortung für die Vorgänge in Bad Kleinen am 27. Juni. Es hatte an jenem Tag auf dem Bahnhof in Bad Kleinen eine Schießerei gegeben zwischen Terroristen der RAF und einer Einsatzgruppe der GSG 9, bei der ein Terrorist und ein Beamter der GSG 9 ums Leben gekommen waren. Es war eine völlig ungeklärte Lage an jenem Sonntag. Aber Rudolf Seiters zog für sich daraus den Schluß, dass er handeln müsse, damit die Unzulänglichkeiten bei der Aufklärung endlich geklärt würden. Ferner wollte Seiters es sich und seiner Familie nicht zumuten, in einen Streit voller Schuldzuweisungen hineingezogen zu werden. Übrigens ergab eine Untersuchung später, dass der Terrorist Grams sich selber erschossen hatte.
Kohl wollte seinen Rücktritt nicht
Man stelle sich das heute vor. Niemand hatte Seiters wegen der Toten von Bad Kleinen kritisiert, nicht mal die Opposition hatte seinen Rücktritt gefordert. Der Bundeskanzler, den Seiters zuvor über seine Rücktrittsabsichten informiert hatte, konnte seinen Minister von diesem Schritt nicht abhalten. Helmut Kohl hatte es versucht, mehrfach, eindringlich, vergebens. Man kann das nachlesen in dem Buch, das der damalige Kanzler-Intimus Eduard Ackermann(Titel: Mit feinem Gehör) geschrieben hat. Nicht nur Ackermann hat den Rücktritt von Seiters sehr bedauert, zeigte aber Verständnis für den Schritt. Er kannte und schätzte Seiters.
Der Mann war mehr als drei Jahrzehnte Mitglied des Deutschen Bundestages für die CDU, der er 59 Jahre angehört. Er gewann seinen Wahlkreis Emsland/Ostfriesland neunmal. Von 1989 bis 1991 war er Chef des Kanzleramtes, danach bis 1993 Bundesinnenminister. Das Amt des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes wird er am 1. Dezember abgeben.
An einer Schaltstelle der Politik
Als Chef des Kanzleramtes saß er in den Jahren der Wende an einer Schaltstelle der Politik. Er war eine Art von Vermittler in den nicht einfachen Gesprächen mit den Mitgliedern des SED-Politbüros damals im bewegten Sommer des Jahres 1989. Er war gefragt, als die Menschen in Scharen die DDR Richtung CSSR und Ungarn verließen, es waren heikle Situationen, Besonnenheit war erforderlich, man durfte nicht überreagieren. Viele werden die Zeiten vergessen haben, als DDR-Bürger Unterschlupf suchten und fanden in den Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest. Die Botschaften liefen über, so voll waren sie. Beispiel Prag, jener Abend des 30. September 1989, Palais Lobkowitz, als Seiters neben dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft stand und Genscher verkündete: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..“. Weiter kam der FDP-Minister nicht, seine bewegenden Worte gingen im Jubel der Menschen unter. Über die Reise wurde Stillschweigen verabredet und eingehalten, damit nichts schiefgeht. Seiters war einer der entscheidenden Bonner Politiker, die die Verhandlungen mit der DDR und der CSSR führte. Ab Sonntagmorgen rollten die ersten Züge mit den Flüchtlingen in Richtung Bundesrepublik.
Rudolf Seiters hatte auch die Kontakte zu den Gesprächspartnern Bonns in Paris, London, Moskau und Washington zu pflegen. Ohne die Zustimmung von Frau Thatcher und Michail Gorbatschow, um nur die zwei zu nennen, wäre es niemals zur deutschen Einheit gekommen. So groß war die Begeisterung im Westen nicht, mitanzusehen, was sich da abspielte. Dann kam der 40. Jahrestag des Bestehens der DDR, eine mehr als spannende Zeit, in der auch unter dem Kürzel SDP eine sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet wurde, heimlich zwar, aber unter den Ohren, muss man wohl sagen, der Stasi. Es waren die Wochen und Monate der Massen-Demonstrationen in der DDR gegen das SED-Regime. 70000 Menschen demonstrierten allein in Leipzig. Am 18. Oktober trat Erich Honecker zurück, er wurde zurückgetreten. Nachfolger war Egon Krenz.
Als die Mauer geöffnet wurde
Und dann kam der 9. November 1989. Helmut Kohl besuchte Polen. Am Abend des ersten Tages, der Kanzler weilte bei einem Abendessen, das der polnische Ministerpräsident Mazowieckie zu Ehren seines deutschen Gastes gab, wurde die Welt überrascht von der Mitteilung von SED-Politbüro-Mitglied Günther Schabowski, dass ab sofort alle Bürger der DDR kurzfristig und ohne Formalitäten Reisen „ins Ausland“ unternehmen durften, also auch in die BRD. Die Mauer, die seit 1961 die Bürger der DDR daran hinderte, das Land zu verlassen, eine Mauer, an der mancher Fluchtversuch tödlich geendet hatte, weil es den Schießbefehl gab, diese Mauer war plötzlich offen. Und Tausende machten sich auf den Weg. Das Fernsehen übertrug direkt.
In Bonn verfolgte Ackermann das Geschehen, er alarmierte auch Rudolf Seiters, der in den Bundestag-das war damals das ehemalige Wasserwerk- eilte, um die Abgeordneten zu informieren. Erstaunen ergriff viele, dann standen die Abgeordneten auf und sangen die dritte Strophe des Deutschlandliedes: Einigkeit und Recht und Freiheit. Währenddessen versuchte Ackermann seinen Chef, den Bundeskanzler in Warschau zu erreichen, was nicht einfach war. Als er Kohl schließlich an der Strippe hatte, wollte der seinem Intimus Ackermann nicht glauben. „Sind Sie sicher?“, fragte Kohl einmal und noch einmal. Ackermann antwortete: „Herr Bundeskanzler, das Fernsehen überträgt live aus Berlin.“ Kohl: „Das ist ja unfaßbar.“
Große Hilfsbereitschaft der Deutschen
Im November 2003 übernahm Seiters das Amt beim Roten Kreuz. Bewegendes hat der CDU-Politiker nun auch als Präsident des DRK erlebt, aber anderes eben. Darunter eine Fülle von Naturkatastrophen, wie den Tsunami in Südasien, das Erdbeben in Haiti, den Wirbelsturm auf den Philippinen, die Not von Millionen im Jemen, in Bangla desch, am Horn von Afrika, den Krieg in Syrien, die Gespräche mit Flüchtlingen im Libanon. Oder die eher schönen Erlebnisse, wie die „2500 Babys, die in Haiti nach dem Erdbeben in unserem großen Lazarett geboren wurden“. In einem Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ schildert Seiters ebenso seine Empfindungen, als er über hundert AIDS-Waisenkindern in Lesotho begegnete, denen man zu einer Aufnahme in anderen Familien geholfen hatte. Jedes Kind habe ein Kästchen in der Hand gehabt, das Erinnerungen an die Eltern aufbewahrt habe. Auch die große Hilfsbereitschaft von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern bei den Hochwasserfluten in Deutschland hat ihm imponiert, wie junge Leute anpackten und den Vorwurf widerlegten, sie dächten nur an sich selbst zu erst und seien nicht hilfsbereit. Auch die Flüchtlingshilfe sei ein solcher Moment. Wörtlich erklärte er in dem NOZ-Gspräch: „Wir können stolz darauf sein, wie Deutschland im Jahr 2015 die Flüchtlingskrise gemeistert hat. Wohl kein anderes Land hätte das so hinbekommen.“
Seine Bilanz nach all den Jahren in der Politik und beim DRK? Er würdigt das bürgerschaftlichen Engagement-allein beim DRK gibt es 400000 aktive ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Im politischen Handeln habe er gelernt, wie wichtig ein innerer Kompass sei, ein Wertefundament, Bürgernähe, das gegebene und gehaltene Wort, Verlässlichkeit. Man müsse pragmatisch die überparteilichen Zusammenarbeit suchen, um Probleme zu lösen. „Es ist das Miteinander, das Dinge voranbringt.“ Sein Wunsch an die Jüngeren: „Engagiert Euch politisch! Meckern kann jeder, gestalten ist aber etwas ganz anderes und vor allem sehr Befriedigendes.“(Bonner Generalanzeiger)
Bildquelle: Wikipedia, Sigismund von Dobschütz, CC BY-SA 3.0