Welche Folgen hat die Europawahl auf die deutsche Innenpolitik? Warum der YouTuber Rezo so erfolgreich war? Warum Politikversagen ein explosives Gemisch erzeugt? Warum die SPD zukünftig nicht auf Heilsbringer setzen sollte.
Der Pulverdampf zu Europawahl beginnt zu verrauchen, nachdem sich die Kommentatoren in der üblichen Kaffeesatzleserei überboten. Eine kurzatmige Analyse jagte die andere. Um aber zu fundierten Antworten zu kommen, sollte man doch tiefer bohren, also die Entwicklung längerfristig zurückverfolgen. Denn die WählerInnen folgen ihren inneren langsam heranreifenden Überzeugungen, was insbesondere für die nationalen Themen gilt. Die Medien, so belegt es jede seriöse Sozialanalyse, wirken nur als Verstärker. Sie können allerdings eine stärkere Mobilisierung erreichen wenn das gewählte Medium spektakulär ist.
Beispiele: Der 26-jährige Videokünstler Rezo hatte eine Granate auf die Große Koalition abgefeuert und ins Volle getroffen. Mit einem Video bei YouTube, „Zerstörung der CDU“, belegte er anschaulich und konkret das Versagen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD bei den Themen Armut, Frieden, Rente und vor allem Klima. Für die meisten Zuschauer wurde klar, was sie immer schon vermuteten: Lügen, Beschwichtigungen und ein Demokratiedefizit bei den Regierungsparteien. Unterfüttert wurde die Kritik durch die seit Wochen anhaltenden Proteste „Fridays for Future“ von schulschwänzenden Jugendlichen. Die CDU/CSU reagierte erst abwehrend und dann verkrampft spöttisch. Die bereits angeschossene SPD nuschelte schmerzvoll vor sich hin. In Berlin-Mitte herrschte bereits vier Tage vor der Wahl Ratlosigkeit wie immer im hektischen Stillstand. Grüne wurden die Sieger der von nationalen Themen und Personen bestimmten Europawahl. In Frankreich und Italien blieben die Rechtsextremen Sieger: Marine Le Pen und Matteo Salvini, der die Flüchtlinge im Mittelmeer als „Menschenfleisch“ bezeichnete. Der Zeitgeist hat immer Namen und Adresse.
Auch die Journalisten, Teil der politischen Klasse, von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über „Bild“ bis zu „Der SPIEGEL“ reagierten aufgescheucht wie Hühner vor dem Fuchs. Eine Redaktionskonferenz jagte die nächste. Ein „junger journalistischer Amateur“ , wie es abfällig hieß, der mit der blauenTolle, hatte es allen Profis gezeigt: Sie hatten keine zwingende Erklärungen dafür, wie es möglich war, dass Rezo mit einem bildkräftigen, 55-Minuten-Film, wenn auch unterfüttert mit schiefen Fakten, nicht nur junge Menschen aufmischte, sondern einen Rentner vor Wut platzen ließ: „Es ist zum Kotzen, wie wir verarscht werden.“ Dabei ist die Erklärung einfach: Ein glaubwürdiger junger Mann hatte zu den wichtigsten Themen mit einem gezielten Schuss die Propaganda-Architektur zusammenkrachen lassen. Doch Nachdenklichkeit? Fehlanzeige. Im Jubel und Trubel ging wieder alles unter? Nein, die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer dachte über “Regeln“ nach.
Explosive Frustblasen.
Doch halten wir diese Momentaufnahme fest: Über die polierten Phrasen fein ziselierter Ausreden bei den drängenden Top-Themen aber auch bei dem zur Lachnummer verkommenen Berliner-Flughafen-Debakel, den täglichen Staus auf den Straßen und den schon regulären Verspätungen der Züge, entladen sich Gefühlstaus. Täglich. Und vergessen wir in diesem Kontext nicht die zahlreichen anderen Probleme und Herausforderungen, bei denen die Funktionseliten ihre Unfähigkeit und den Unwillen zum Handeln unter Beweis stellen. Es geht ihnen um kurzfristigen Machterwerb und Machterhalt. Aber Politik ohne Leidenschaft überzeugt niemanden. Da gibt es einen Verkehrsminister, der den Dieselbetrug deckte. Eine Landwirtschaftsministerin, die sich weigerte, das krebserzeugende Pflanzengift „Glyphosat“ zu verbieten.
Eine Verteidigungsministerin, die unfähig ist, ihre Flugbereitschaft intakt zu halten oder das Schulschiff „Gorch Fock“ restaurieren zu lassen. Die Liste der Versager lässt sich fortsetzen. Die Sanierung von Brücken, Straßen und Eisenbahngleisen wird verantwortungslos verschleppt. Oder nehmen wir die Plastik- Verpackungen, die angeblich Zeit und Geld sparen, da die Entsorgung nicht gerechnet wird, von der fehlenden Frische gar nicht erst zu reden.
Im grenzenlosen Medienzeitalter schwappt auch jede Diskussion über das irre Verhalten der britischen Abgeordneten in der Brexitfrage oder die Entlarvung des österreichischen Ex-FPÖ-Vorsitzender Christian Strache über die Grenzen. Erfreulich, dass dieser charakterlose Mann ohne jegliche Moral im Nachbarland eine Regierungskrise auslöste. Aus allem entwickelte sich eine explosive Frustblase, vor deren Entladung immer gewarnt wurde, auch und gerade der verstorbene Bundespräsident Richard von Weizsäcker, als er den Volksparteien in einer Denkschrift „Machtversessenheit“ und „Machtvergessenheit“ vorwarf. Dabei zielte er auf die hauptamtlichen Profis in den Politzentralen, die sich gegenseitig reflexhaft deckten. Daran hat sich nichts geändert. Die Parteiführungen sind geschlossene Gesellschaften.
SPD: Die letzten Bruchlandungen?
Aber zurück zur Gegenwart: Wegen erwiesener Inkompetenz wurde vor allem die SPD von den Wählern abgestraft. Im kleinen Stadtstadt Bremen verlor die Partei Willy Brandts eine ihrer letzten Hochburgen. Ein Debakel, wofür es keine Ausreden mehr gibt. Doch wird die noch Volkspartei zu schonungsloser Selbstkritik fähig sein? Wird sie die Art ihrer intransparenten Machtausübung hinterfragen? Die in der Gesellschaft diskutierten Herausforderungen begreifen und dann auch Lösungen vorschlagen? Von der CDU/CSU ist außer den dringlichsten Reparaturen nichts zu erwarten. Ihre Parteigranden verkörpern den Spruch mit dem sich die mexikanischen Bauern verabschieden: „Nichts Neues möge Dir widerfahren.“ Und bei der sogenannten konservativen Partei erschöpft sich auch in der Ära Angela Merkel in der Verwaltung der Gegenwart und der Ausübung der Macht. Auch von der amtierenden CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, im Politikbetrieb des kleinen Saarlands, sind tiefgreifende Reformanstöße nicht zu erwarten. Alles soll bleiben, wie es ist. Auch Furcht vor den Nationalisten und Rechtsextremen macht die CDU/CSU reformunfähig. Aber der Reformstau verstärkt den Gefühlstau. Noch sind die Schülerproteste „Fridays for Future“ kleine Regelverstöße. Aber die Flaschen- und Steinewerfer unter Frankreichs „Gelbwesten“ geben ein Vorgeschmack davon, was auch Deutschland in einer Wirtschaftskrise drohen kann. Der deutsche Untertan nährt dann AfD.
Die SPD, obwohl früher den Reformwillen in ihren Genen, hat den Anschluss an die gesellschaftliche Debatte verloren, seit Bundeskanzler Helmut Schmidt durch die FDP gestürzt wurde. Zu erinnern ist an den Verlust traditioneller SPD-Länder wie Hessen durch Hans Eichel, Nordrhein-Westfalen durch Peer Steinbrück und Niedersachsen durch Sigmar Gabriel. Alle drei Verlierer traten nicht zum Nachdenken bescheiden ins zweite Glied zurück, sondern wurden auf die Bundesebene gehievt als typisches Ergebnis der üblichen Personalmauscheleien. Die Niederlagen werden nicht mehr aufgearbeitet, was längst die Fragen nach endlich wieder effektiven Handlungsinstrumentarien der Parteiführungen aufwirft. Die handelnden Funktionäre jedenfalls sind die Amateure. Haben sie sich gefragt, warum die SPD über eine halbe Million ihrer Mitglieder verloren hat? Liegt es nur daran, dass die Spitzengenossen auf die ungeeignetsten Vorsitzenden gesetzt haben? Oder liegt es nicht in Wahrheit daran, dass sie nicht wissen, was die moderne SPD sein müsste.
Den Mangel schildert der SPIEGEL-Autor Veit Medick in seinem Leitartikel (Nr. 43 vom 20.10.2018): „Es gibt keine ernstzunehmende Kritik an den Verzerrungen des globalen Kapitalismus.“ Er fordert in seinem Leitartikel „die Verteilung des Reichtums, das Finanzsystem und internationale Allianzen radikaler in Frage zu stellen.“ Im Willy Brandt Haus wurde das nicht gehört. Denkfaulheit.
Ergänzend dazu fordert der Jurist und Schriftsteller Prof. Dr. Bernhard Schlink – seit 45 Jahren SPD-Mitglied – von seiner Partei Nachdenken. Die gegenwärtige Politik bezeichnet er im Wochenmagazin SPIEGEL als „eine Politik die auch die Kritik der CDU/CSU sein kann.“ Seine Fragen äußert er in einem Essay (SPIEGEL Nr. 48/24.11.2018): Wie auf die Migration nach Deutschland reagieren? Wie die Bürger in die Verantwortung für das Gemeinwesen nehmen? Wie dem Staat wieder Wirksamkeit verschaffen? Was kann sie aus ihrer Geschichte lernen? – über ihr Verhältnis zur Linken wie zur Rechten? –
Nachdenken bis der Kopf schmerzt.
Auch darüber haben die deutschen Sozialdemokraten schon seit Jahrzehnten nicht nur nachgedacht. Es wurde öffentlich diskutiert, aufgeschrieben und auf zahlreiche Parteitagen beschlossen. Im auf zwölf Jahre konzipierten Langzeitprogramm 1 wird eine spürbare Beteiligung am „wachsenden Produktivvermögen“ gefordert. So steht es im „ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen“, den eine Kommission unter dem Vorsitz des Diplom-Volkswirt Helmut Schmidt und späteren Bundeskanzler erarbeitete. Kein starrer Plan.
Der mittelfristige Rahmenplan enthält konkrete Lösungsvorstellung zur Reform der Bodenordnung (Wohnungsnot), sowie gesundheitliche Leitsätze.
In diesem lernenden, fortschreibenden System wurde die Sicherung der sozialen Existenz, der Schutz des Bürgers vor Unrecht und Verbrechen, sowie eine Neugestaltung des Bildungssystem vorgeschlagen. Das war und ist der einmalige Versuch sozialdemokratischer Grundwerte zu konkretisieren. Die Methode und Lösungsvorschläge sind heute noch von brennender Aktualität. Mit dieser Initiative von Willy Brandt und dem Kommissionsvorsitzenden Helmut Schmidt erreichte die Partei ihre höchste Zustimmung bei Wahlen. Sie war zu der Zeit die modernste Partei Europas.
Das mittelfristige Langzeitprogramm 1 war auch ein Gemeinschaftswerk von Theoretikern und Praktikern. Auch der steinige Weg der Zusammenarbeit war das Ziel. Sein Nutzen: Man konnte ohne die ständigen Kompromisse in eine Regierungskoalition seine Pläne für eine mittelfristige Zukunft veröffentlichen. Sie löste innerhalb und außerhalb der Partei eine lebendige Debatte aus. Die Pläne wurden in der Öffentlichkeit gelobt und kritisiert aber auch von Experten aus der Gesellschaft ergänzt.
Heilsbringer ohne Kompass?
Die Reformbereitschaft erlahmte durch Denkblockade von Andrea Nahles bis Gerhard Schröder. Letzterer ließ als Hilfswilliger der USA die Bundesrepublik Jugoslawien zerbomben und die Arbeitslosen mit Hartz-IV bestrafen. Tausende Mitglieder verließen die Partei: Einige gründeten die Wahlalternative „Soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die später in „die Linke“ aufging.
Nicht nur Konzerne haben konkrete Anforderungen an Ihre leitenden Mitarbeiter, auch jeder Handwerksbetrieb. In der SPD werden diese Posten unter den Regionalfürsten und Fernsehköpfen ausgemauschelt. Die Wahl von Martin Schulz mit 100% der Stimmen offenbarte: eine Partei in Not suchte ihren Heilsbringer. Ein EU-Spitzenfunktionär, der die Partei nicht von innen kannte sollte ihr Orientierung geben. Ohne Kompass. Wer soll es denn machen ist die ständige Frage. Dabei denken alle nur an jene, die es in die Talk Shows geschafft haben.Talentierte Außenseiter, wie fähige Bürgermeister haben kaum eine Chance. Dabei sind die 438 000 Mitglieder ein riesiges Potenzial. Die Parteigremien werden zwar die mit zwei Ämtern sichtbar überforderte Andrea Nahles vom Fraktionsvorsitz und Parteivorsitz mittelfristig ablösen. Es reicht aber nicht aus, wenn einige Personen ausgetauscht werden. Will die SPD noch eine Chance haben, muss sie sich an Haupt und Gliedern reformieren. Konkret heißt das: Kriterien für die Personalauswahl entwickeln, Transparenz und Durchlässigkeit von unten nach oben schaffen.
Inhaltlich müssen sich die Sozialdemokraten nicht neu erfinden. Vielmehr geht es darum die beschlossenen Konzepte im Zusammenhang fasslich darzustellen. Daraus wird konsistente für die Wähler nachprüfbare, realistische Politik.
Beispiel: Die von der SPD geforderte, von den Konservativen bekämpfte Gesamtschule hat sich durchgesetzt. Die CDU/CSU wollte keine Chancengleichheit. Dieses Beispiel beweist, wie man mit Reformen erfolgreich sein kann.
Die Idee der Sozialdemokratie ist für Deutschland und Europa unverzichtbar. Ihre realistischen Antworten und konkrete „Reformvorstellung“ für eine gerechte, freie und mitfühlende Gesellschaft haben sich geschichtlich nicht überholt.
Die Art der Machtausübung muss man selbst auf ihre Tauglichkeit überprüfen. Der Fortschritt besteht darin, falsche Ideen vom Sockel zu stoßen um zu Unrecht gestützte wider drauf zu stellen (Diderot).