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Russland. Ein paar Beobachtungen und Gedanken zum Verständnis mit einem unwahrscheinlichen Schluss – auch für Putin

Gerd Eisenbeiß Von Gerd Eisenbeiß
25. März 2024
Moskau bei Nacht

Eine Gesellschaft sollte stets vor dem Hintergrund ihres Weges aus der Vergangenheit beurteilt werden, denn sie ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Man kann dabei sehr ungerecht werden, wenn man die Entwicklung der eigenen Gesellschaft vergisst. Je weiter wir in Westeuropa zurückschauen, desto ähnlicher ist die Gegenwart in Russland (aber auch in anderen Weltregionen) unserer eigenen Vergangenheit!

Alles, was hier über Russen gesagt wird, bedeutet nicht, dass es in Russland nicht viele Menschen gibt, die die Welt unvoreingenommen und oft weitgehend ähnlich sehen wie kluge Leute im Westen. Autoritäre Regime haben aber meist erfolgreich verhindert, dass diese Menschen Organisationen bilden, ihre Sicht verbreiten und Einfluss gewinnen können. Wesentliches Instrument sind unscharfe Gesetze, die jede kritische Äußerung strafbar machen können, z.B. das russische Gesetz über „Ausländische Agenten“; Patriotismus-Gebot und Vorwürfe von „Verrat“ tun ein Weiteres. Wer Angst hat, sein Gesprächspartner oder auch nur ein unbeteiligter Zuhörer könnte ihn anzeigen, wird sehr vorsichtig in seinen Äußerungen.

Aber Russen wissen seit Jahrhunderten, dass die Macht lügt, ja, dass es normal ist, dass die Macht lügt. Man nimmt es nicht besonders übel –  so ist es halt und damit ist man gewohnt zu leben. Um gut und einigermaßen sicher zu leben, macht man ohne schlechtes Gewissen mit: wo die Obrigkeit lügt und betrügt, muss man eben schauen, wo man bleibt. Dieses System der Lügen wird für so selbstverständlich gehalten, dass man überzeugt ist, dass es überall so ist – auch im „Westen“. Um dieses Bild zu stabilisieren, ist  das Abschotten von unkontrollierten Informationen entscheidend wichtig, auch ggf. das Ächten und Kriminalisieren anderer Ansichten. Es ist interessant, dass solche Strategien auch im „freien Westen“ funktionieren: Trump, Johnson, Berlusconi und insbesondere Orban und Kaczynski sind damit erstaunlich weit gekommen, auf deren Spuren jetzt auch z.B. Fico und Vucic in Slowakei und Serbien wandeln.

Deshalb fällt es keiner Macht in Russland schwer, frei erfundene Geschichten über den Westen, seine moralische Verkommenheit und seine bösen Absichten zu erzählen. Sie werden umso eher geglaubt, als die Russen seit Jahrhunderten ein ungebrochenes, imperiales Verständnis von ihrer besonderen Rolle in der Welt haben – auch ohne Putin, der diesen Anspruch nicht wecken, sondern nur bedienen muss. Einen mächtigen Mann an der Spitze zu haben, macht stolz. Russland kommt Herrschaft über andere zu, weil es mit 11% der globalen Landoberfläche riesig ist, und weil es von der orthodoxen Kirche bestätigt  „heilig“ ist. Nicht moralisch verkommen zu sein insbesondere in Bezug auf Sexualität wie der Westen, macht den einfachen Russen ähnlich stolz wie den einfachen Moslem. Als Deutscher begegnet man in dieser Analyse der eigenen Geschichte vom imperialen Ende 1918 und dem katastrophalen Versuch einer imperialen Auferstehung 1933-1945 sowie der immer noch nur teilweise überwundenen Homophobie.

Nicht unähnlich arabischen und anderen Völkern sehen sich die Russen gern als Helden und Opfer zugleich. Zum Heldentum gehört die historische Eroberung des größten Staats- und Einflussgebietes der Welt (vor 1990 16% der globalen Landoberfläche), und ganz besonders der Sieg über den Faschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“, von der aktuellen Macht intensiv gepflegt.

Um dieses Heldenbewusstsein zu fördern, werden die Gräueltaten Stalins aus den Büchern und Klassenzimmern entfernt und die Tatsache tot geschwiegen, dass der Sieg im Weltkrieg im Wesentlichen ein angelsächsischer war, an dem die Russen Anteil hatten, nachdem sie von den Amerikanern im „Pacht- und Leihvertrag“ von 1941 üppig mit Panzern und anderen Waffen ausgestattet worden waren (siehe Wikipedia zu „Pacht- und Leihvertrag“).

Als Opfer sehen sich Russen nicht nur wegen Hitlers Überfall 1941 (mit dem man zuvor eine Beutegemeinschaft auf Kosten u.a. Polens und der Balten gebildet hatte), sondern zurzeit auch gern, weil sie ihre imperialistische Beute, d.h. große Teile ihres Kolonialreichs[1] von der Elbe bis an den Pazifik seit 1989 Stück für Stück verloren haben. Dafür dämonisiert die Regierung den „Westen“ seit einigen Jahren als „Nazi“-Bande, die Russland schaden, ja „vernichten“ will. Russen haben kein Verständnis für die Ängste ihrer Nachbarn; soweit diese slawische Sprachen sprechen, behauptet man sogar einen historischen, wenn nicht gar „heiligen“ Führungsanspruch: Moskau sei das Dritte Rom nach dem Untergang der beiden Reiche von Rom und Byzanz – symbolisiert durch die Caesaren-, also Zarenkrone.

Russen können das Funktionieren der Demokratie wahrscheinlich nicht verstehen; sie haben es ja auch nie erkämpft und es wurde ihnen nie beigebracht wie uns Deutschen. Es ist ihnen daher leicht zu vermitteln, dass westliche Staaten genauso funktionieren wie ihr eigenes Land, d.h. mit zentraler, letztlich alles entscheidender Macht mit lediglich dekorativer Garnierung durch Wahlen und Parlamente. Autoritärer Führungsstil wird als selbstverständlich auch als Stil des Westens, insbesondere der USA unterstellt. Dass Gerichte und Presse tatsächlich unabhängig von der Regierung arbeiten, dürfte vom „normalen Volk“ für sehr unwahrscheinlich gehalten werden. Die russische Führung, insbesondere Putin, weiß es natürlich besser – oder sollte man sagen, er könnte es besser wissen, wenn er nicht längst Opfer von Diktatorenblindheit ist, also überhaupt noch unangenehme Nachrichten an sich heranlässt. Auch Putin kann allerdings nicht verkennen, dass Russland international nur von solchen Machthabern ohne opportunistische Gründe unterstützt wird, die wie er ihr eigenes Volk schwer schädigen, etwa Aleksander Lukaschenko, Baschar al-Asad, Kim Jong-un, Daniel Ortega, Nicolás Maduro, Ali Chamenei, Isayas Afewerki etc. – ein wahres Horrorkabinett.

Jedenfalls ist Putin sehr interessiert, das verzerrte Bild des hass- und verachtungswürdigen Westens in der Öffentlichkeit zu stabilisieren. Russen sollen das autoritäre, ins faschistische gleitende System als selbstverständlich und alternativlos akzeptieren. Hatte das kommunistische Herrschaftssystem bis 1989 wenigstens noch ein kollektives Korrektiv für den Generalsekretär, nämlich das Politbüro, kennt Putins System schon lange keinerlei Korrektiv zur Ein-Mann-Herrschaft mehr, ist also längst hinter Chruschtschows Stalin-Kritik von 1956 zurück gefallen ist.

Russlands Weltbild ist erkennbar dem seines Präsidenten ähnlich; das macht die Symbiose des Diktators mit seinem Volk ziemlich stabil: Russland ist allein und trotzt als Helden- und Opfervolk einer feindlichen Welt. Diese Welt steht unter amerikanischer Hegemonie und sollte daraus befreit werden. Diese Befreiung sieht man als möglich, wenn man zur Ordnung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückkehrt, d.h. zu souveränen Imperien unter starken Führern mit Vasallen-Staaten im Gefolge. Nicht eine UNO in New York, sondern ein Kränzchen von ein paar Großen in einem „Jalta“ wie 1945 sollte das Schicksal der Welt bestimmen.

Vor dem Hintergrund von Russlands besonderer „heiliger“ Mission dürften für Putin auch in einer solchen Welten-Ordnung Verträge keine übergeordneten, sondern nur taktische Instrumente sein. Entscheidend für seine russische Politik würde weiterhin allein das russische Interesse sein, wie er es für Russlands Größe und seinen eigenen Ruhm als nützlich sieht. Rechte Dritter zählen dabei nur entsprechend ihrer militärischen Stärke.

Leider ist aus dieser Analyse zu schließen, dass auch das plötzliche Verschwinden Putins im Knast oder Sarg die russische Politik höchstens sehr langsam verändern dürfte. Ein Sturz Putins muss als recht unwahrscheinlich gelten – geschähe er doch, dürfte die wahrscheinlichste Putsch-Konstellation eine von Offizieren mit Unterstützung von Oligarchen sein, jedenfalls keine demokratische Erhebung. Bei aller Unwahrscheinlichkeit: schon römische Kaiser wurden von ihrer Palastwache gestürzt, so letzthin auch einige Präsidenten in der Sahelzone.

Die Motive für einen (unwahrscheinlichen) Putsch? Offiziere dürften Putins strategisches Versagen längst erkannt haben. Geplant war ein rascher Durchmarsch bis Odessa und Lemberg in 1 bis 2 Wochen und kein verlustreicher Stellungskrieg über mehrere Jahre am Ostrand der Ukraine. Und die Oligarchen wollen wieder das Leben überall auf der Welt auf Luxusjachten genießen und ihren Kindern und Enkeln die beste Erziehung bieten, die es im offiziell verhassten, heimlich aber bewunderten und beneideten Westen gibt.

[1] Lenin hat das russische Herrschaftsgebiet nach dem 1. Weltkrieg ohne Scheu, ja prahlend als zweitgrößtes Kolonialreich bezeichnet.

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Tags: Geschichte RusslandsPutinRusslandUkraine-Krieg
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