Die Corona-Pandemie absorbiert viel von unserer Aufmerksamkeit, doch in ihrem Schatten setzen sich andere Krisen fort. Die Klimakrise, die Kriege in Syrien und Libyen, die bedrohliche Lage in den Flüchtlingslagern, die Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit… Die Liste der gefährlichen Entwicklungen, die im Krisenmodus weithin übersehen werden, ist lang.
Ein aktuelles Beispiel aus Anlass des Tschernobyl-Jahrestages: Seit mehr als drei Wochen brennen die Wälder von Tschernobyl, und kaum jemand nimmt Notiz davon. Die Waldbrände wirbeln radioaktive Partikel im Waldboden auf, sie bedrohen die Stromversorgung der Reaktorgebäude und Abklingbecken. Schwere Rauchschwaden lasten auf der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Ärzte warnen vor unbeherrschbaren radioaktiven Gefahren, sollte eine Eindämmung der Brände nicht rechtzeitig gelingen.
Prypjat in der heutigen Ukraine ist der Ort, an dem es vor 34 Jahren zum atomaren Super-GAU kam. Am 26. April 1986 explodierte dort ein Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die größte Atomkatastrophe der Menschheitsgeschichte forderte viele Millionen Strahlenopfer und wirkt bis heute nach. Die Ärzteorganisation IPPNW erinnert an die rund 800.000 Liquidatoren, die damals ohne Schutzausrüstung in den Kampf gegen die Katastrophe kommandiert wurden. „Gleichzeitig sind unsere Gedanken bei den Helferinnen und Helfern, die aktuell in der Sperrzone von Tschernobyl versuchen, die Waldbrände unter Kontrolle zu bringen“, sagt der Kinderarzt und Co-Vorsitzende der IPPNW Deutschland, Dr. Alex Rosen, „und den Menschen in der Ukraine, die befürchten müssen, dass ihr Land erneut von den radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomindustrie überzogen wird.“
Neben der Ukraine war das heutige Belarus (Weißrussland) am stärksten von dem nuklearen Fallout betroffen. Im Frühjahr 1986 zogen die radioaktiven Wolken quer über Europa und regneten auch auf Regionen in Deutschland herab. Im bayerischen Wald und in Teilen Österreichs und Tschechiens sind Wildschweine, Beeren und Pilze bis heute so stark verstrahlt, dass ihr Verzehr das Krebsrisiko relevant steigern würde.
In der Sperrzone rund um Tschernobyl rotten nach wie vor große Mengen an radioaktivem Schutt vor sich hin. In unmittelbarer Nähe zum Sarkophag, der den havarierten Reaktor 4 umgibt, lagern die ausgebrannten Brennstäbe der Reaktoren 1 bis 3 in oberirdischen Abklingbecken.
„Jede noch so geringe zusätzliche Strahlendosis erhöht das Risiko, an Krankheiten wie Krebs, Schlaganfällen oder Herzinfarkten zu versterben“, sagt Rosen. Es gebe „keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Radioaktivität harmlos wäre“. Sollten sich die Waldbrände auf hoch kontaminierte Teile der Sperrzone ausbreiten, entstehe für die Menschen in der Ukraine und Belarus erneut eine akute Gefahr. „Es ist ein Ritt auf Messers Schneide und eine ganz und gar unwillkommene Erinnerung an die Zeit des Super-GAU vor genau 34 Jahren. Schon damals konnte man nur hoffen, dass die Löscharbeiten Erfolge zeigen und der Wind sich nicht dreht.“
Die französische Strahlenschutzbehörde IRSN stellt laut IPPNW eine Ausbreitung der Rauchwolken quer über Europa fest. Eine erhöhte Strahlendosis sei noch nicht gemessen worden. Noch sind aber auch die Feuer nicht gestoppt. Nach zwei Wochen erfolgloser Löschversuche hat die ukrainische Regierung internationale Unterstützung erhalten – auch aus Deutschland. Die Löscharbeiten wurden verstärkt und Tausende zusätzliche Feuerwehrleute in die Sperrzone beordert.
„Sie sind für diesen Einsatz aber nicht ausreichend geschützt vor den stark erhöhten Strahlenwerten vor Ort und wir machen uns daher Sorgen, dass sie ihren mutigen Einsatz mittelfristig mit ihrer Gesundheit bezahlen werden“, sagt Alex Rosen. Er warnt grundsätzlich vor den Gefahren der Atomenergie. Die sei „nachweislich keine Lösung für die Energieprobleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“.
Bis zur nächsten Atomkatastrophe sei es nur eine Frage der Zeit. „Das nächste Tschernobyl, das nächste Fukushima, könnte überall geschehen – auch hier in Europa. Die Pannenmeiler von Doel, Tihange, Temelin, Beznau oder Fessenheim lägen allesamt in unmittelbarer Nähe zu Deutschland, aber auch hierzulande sollen noch bis 2022 Atommeiler weiter betrieben werden.“ Rosen: „Das nächste Tschernobyl kann auch Gundremmingen heißen.“
Bildquelle: Pixabay, Bild von lukaspawek, Pixabay License