Zwei Meldungen machten in den letzten Tagen Schlagzeilen:
– In Deutschland studieren so viele Menschen ohne Abitur wie noch nie.
– Jeder vierte Lehrling wirft hin.
Die erste Meldung scheint die These zu belegen, dass in Deutschland ein „Akademisierungswahn“ (Julian Nida-Rümelin) ausgebrochen ist.
Mit der hohen Abbruchquote in den Ausbildungsberufen bekommt die Sorge um einen Facharbeitermangel neue Nahrung.
Die Jubelmeldung, dass sich die Zahl der Studierenden ohne Hochschulreife oder Fachhochschulreife verdoppelt hat, relativiert sich allerdings, wenn man auf die absoluten Zahlen schaut: Es waren 2016 gerade einmal 56.900 Personen. Der Anteil an allen Studienanfänger liegt der Studie des bertelsmannschen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) liegt bei bescheidenen 2,6% und im letzten Jahr haben 7.200 Studierende ohne Abitur ein Studium abgeschlossen.
Dennoch wird diese Meldung Wasser auf die Mühlen derjenigen lenken, die angesichts der Tatsache, dass 56% eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen, vor einer „Akademikerschwemme“ warnen. (Die Studienanfängerquote ist im Übrigen leicht rückläufig.)
Es gibt eine hohe Plausibilität für die These, dass die hohe Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aus dem Ineinandergreifen von beruflicher und akademischer Bildung resultiert. Macher, Planer und Erfinder können auf „Augenhöhe“ miteinander kommunizieren (Gerhard Bosch).
Sind aber deshalb erstens (1.) die Alarmmeldungen über zu viele Studierende berechtigt?
Was wäre zu tun um mehr junge Leute für die berufliche Bildung zu gewinnen (2.) und vor allem auch zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen (3.)?
1. Haben wir eine Akademikerschwemme?
Die These vom „Akademisierungswahn“ betrachtet Bildung vor allem aus der Perspektive des Arbeitsmarktes, genauer des Fachkräftebedarfs, andere wichtige Bildungsziele werden ausgeklammert.
Solche gleichfalls wichtige Ziele sind z.B.:
– das in nahezu allen Landesverfassungen enthaltene Individualrecht auf eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung oder etwa die Berufswahlfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz,
– die soziale Funktion von höherer Bildung: Ein höherer Bildungsabschluss geht in aller Regel einher mit einem höheren Einkommen und größerer
Arbeitsplatzsicherheit, häufigerer Vollzeitbeschäftigung, längerer Erwerbstätigkeit, mit interessanteren Tätigkeiten, mehr Verantwortung und Abwechslung im Beruf, mit einem besseren Gesundheitszustand, einer längeren Lebenserwartung, höherer Lebenszufriedenheit, höherem ehrenamtlichen Engagement, stärkerem politischen Einfluss, Kurz: ein hoher formaler Bildungsabschluss ist für alle Bereiche des sozialen und privaten Lebens von großer Bedeutung.
In Deutschland wird viel über „Chancengerechtigkeit“ als Fluchtpunkt aus sozialer Ungerechtigkeit geredet, in kaum einem anderen vergleichbaren Land hängt Bildung aber so stark vom sozialen Hintergrund der Familien ab. So lange viele begabte junge Menschen ihr Potential für höhere Bildung nicht ausschöpfen können, hat man keine Bildungsgerechtigkeit.
Debatten über eine „Akademikerschwemme“ treten periodisch immer wieder auf. Die Motive sind oft: Angst vor Statusverlust, Standes- und Elitedenken der Oberschicht, angeblicher Niveauverlust („Nicht jeder gehört auf die Uni“), Überforderung der Hochschullehrer in der Massenuni.
Deutschland ist im OECD-Vergleich nicht etwa ein Bildungsaufsteiger-, sondern ein Bildungsabsteigerland. Nur 19% der jungen Erwachsenen bis 34 sind höher gebildet als ihre Eltern, ein knappes Viertel hat einen niedrigeren Abschluss.
Schließlich muss sich jeder der über den Akademisierungswahn klagt, fragen lassen: Welchen Bildungsabschluss würden Sie sich für Ihr Kind wünschen?
Der Trend zu akademischen Ausbildungen ist kein „Wahn“, also keine Fehlbeurteilung der Wirklichkeit, sondern eine höchst realistische Zukunftseinschätzung. Höhere formale Bildung zahlt sich in Euro und Cent aus:
– OECD: Akademiker verdienen in Deutschland 74% mehr als Menschen ohne Studium und ohne Meisterkurs. Dieses Auseinanderklaffen ist umso bedenklicher, als die Möglichkeit sich hochzuarbeiten in Deutschland sehr gering ist. Gäbe es einen Mangel an beruflich gebildeten Fachkräften wirklich, so hätten sich nach allen Gesetzen der Ökonomie die Lohnunterschiede nicht so weit auseinanderentwickeln dürfen.
– Die Erwerbslosenquote von Akademikern liegt mit 2,4% nicht nur fast dreimal niedriger als die allgemeine Arbeitslosenquote, sie ist auch nur halb so hoch wie die Quote von Arbeitnehmern mit einer Sekundarausbildung (5,3%). (Bei Erwachsenen ohne einen Abschluss im Sekundarbereich = 13%). Von einem „akademischen Proletariat“ kann (jedenfalls noch) keine Rede sein.
– Auch der Beschäftigungsgrad von Akademikern ist deutlich höher: 88% der Erwachsenen mit Tertiärabschluss, 78% mit einem Abschluss des Sekundarbereichs und nur 57% der Erwachsenen ohne Abschluss des Sekundar-Bereichs waren 2012 beschäftigt (neuere Zahlen habe ich nicht gefunden).
– Das Handwerk hat keineswegs nur „goldenen Boden“; 70% der Niedriglohnbezieher haben einen beruflichen Abschluss (Bosch/Weinkopf/Kalina 2009)
– Es gab einen Reputationsverfall der beruflichen Bildung. (BBIB-Befragung unter Jugendlichen: „Bäcker gleich dumm, ungebildet, arm, anspruchslos, gering geachtet“, so das Image unter jungen Leuten)
– Die Aufstiegschancen sind rückläufig, der Anteil von Akademikern unter den Führungskräften ist in den letzten 3 Jahrzehnten von 30,0 auf 42,8% gestiegen (Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ)).
So lange die Unterschiede in der Bezahlung, bei den Karrierechancen, bei der beruflichen Rangordnung und bei der gesellschaftlichen Wertschätzung so groß sind, wie derzeit, ist es hohles Pathos, wenn von einer „Gleichwertigkeit“ von beruflicher und akademischer Bildung geredet wird.
Der Bedarf an Fachkräften mit den jeweiligen Abschlüssen lässt sich im Übrigen nur schwer voraus schätzen. Ich erinnere mich noch gut an Debatten in den neunziger Jahren in der Kultusministerkonferenz, wonach 25% der Medizinstudienplätze eingespart werden sollen. Heute beklagen wir Ärztemangel. Nicht einmal im staatlichen Bereich der Lehrerausbildung gibt es zuverlässige Prognosen.
Der Anteil von Beschäftigten in wissensintensiven Berufen hat sich in der letzten Dekade deutlich erhöht. Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat für 2012 auf Grundlage neuer Berufsklassifikationen einen Anteil von 40,8 % der Beschäftigten in wissensintensiven Berufen ermittelt.
Aus der Perspektive des Fachkräftebedarfs ist der Anstieg der Studienanfängerquote auf etwas mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs kein Grund zur Panikmache. Entscheidend für den Arbeitsmarkt ist die Absolventenquote akademischer Bildung und diese liegt derzeit (leider) bei nur etwa einem Drittel eines Altersjahrgangs.
Betrachtet man noch die Schwundquoten vor allem bei Akademikerinnen (u.a. Kindererziehung, Teilzeitarbeit) so ist ein „Akademikerüberhang“ äußerst überschaubar.
Bei den meisten Mangelberufen besteht ein Bedarf an Akademikern.
Wer also einen vermeintlichen Bildungsnotstand im Bereich der beruflichen Bildung durch einen noch größeren Bildungsnotstand im Hochschulbereich beseitigen möchte, läuft Gefahr eine totale Bildungskatastrophe auszulösen.
2. Gibt es tatsächlich zu wenig Interessenten an einer beruflichen Bildung?
Zwar ist sowohl die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze im letzten Jahr – nach einem jahrelangen Negativtrend – auf 572.200 gestiegen und es wurden mit 523.300 auch wieder mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen. Es gab zum Stichtag 30. September 2017 noch 48.900 unbesetzte Ausbildungsplätze. Allerdings haben sich 603.500 Jugendliche zwischen Oktober 2016 und September 2017 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet um eine Lehrstelle zu finden. Die Ausbildungsplatznachfrage überstieg also das Ausbildungsplatzangebot um über 30.000. Es gibt große regionale, aber auch berufswunschbezogene Ungleichgewichte und Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt.
Nach wie vor befinden sich aber über eine viertel Million junger Leute (2016 waren es sogar noch 298.800) in einem Bildungsprogramm im sog. Übergangsbereich (also Berufsvorbereitungsjahr, das Nachholen eines Haupt- oder Realschulabschlusses etc. ) Insgesamt konnten 202.678 Jugendliche, die einen „Bewerberstatus“ erhalten haben, laut Angaben des DGB 2016 keinen Ausbildungsvertrag unterzeichnen. Sie wurden entweder in Warteschleifen „geparkt“, haben der Bundesagentur für Arbeit (BA) nicht angezeigt, dass sie noch einen Ausbildungsplatz suchten oder ihr Verbleib war der BA unbekannt. Insgesamt gab es 2016 1,2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren, die ohne Berufsabschluss blieben.
Jedenfalls ist die These, dass es in Deutschland mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber gibt, schlicht falsch. Von einem Mangel an geeigneten Bewerbern kann eigentlich nicht die Rede sein, wohl aber gehen die Einschätzungen hinsichtlich der „Ausbildungsreife“ zwischen Arbeitgebern und der Bundesagentur für Arbeit sowie den Gewerkschaften deutlich auseinander. Der DGB wirft den Firmen eine Bestenauslese vor. Im Ausbildungsreport 2016 hält die DGB-Jugend vielen Arbeitgebern vor, nicht „ausbildungsreif“ zu sein.
Wer eine „Akademikerschwemme“ und eine zu geringe Nachfrage nach einer beruflichen Ausbildung beklagt, sollte also nüchtern die Fakten analysieren. (Siehe oben)
Es gibt Gründe dafür, dass für die Ausbildung im Restaurantfach, im Fleischer- oder Lebensmittelhandwerk, bei Malern und Lackierern Azubi-Mangel herrscht. Von den Auszubildenden selbst werden physische und psychische Belastungen, lange Fahrzeiten, ständige Erreichbarkeit, Probleme mit Vorgesetzten, Leistungs- und/oder Zeitdruck, schlechte Pausensituationen, Schichtdienst oder mangelnder Arbeitsschutz genannt. (Siehe im Einzelnen dazu den Ausbildungsreport der DGB-Jugend)
– Seit Jahren ist die Zahl der Ausbildungsbetriebe rückläufig.
3. Warum werfen so viele ihre berufliche Ausbildung hin?
Als Gründe für den Abbruch nennt die Bundesagentur für Arbeit,
– Probleme mit der Berufsschule
– Probleme im Ausbildungsbetrieb (etwa ausbildungsfremde Arbeiten)
– finanzielle Probleme
– Probleme mit dem gewählten Beruf.
(Siehe auch Berufsbildungsbericht 2016, S. 72f. )
Es gibt einen hochsignifikanten Zusammenhang zwischen unbesetzten Ausbildungsplätzen und Ausbildungsabbrüchen. Es liegt sicherlich nicht nur an fehlender Flexibilität, Motivation oder Befähigung der Auszubildenden wenn die Abbruchquote bei den Sicherheits-Fachkräften, bei den Köchen, bei Hotel- und Restaurantfachkräften, bei Malern, bei Gebäudereinigern oder im Bäcker- oder Friseurberuf bei der Hälfte liegt, während bei Azubis in der Verwaltung nur 4,1% ihre Ausbildung abbrechen.
– Das Jammern über zu wenig beruflich Auszubildende und zu hohe Abbruchquoten wäre glaubwürdiger, wenn
+ die Ausbildungsbedingungen attraktiver würden,
+ die Betreuung besser würde,
+ die Bezahlung höher liegen würde,
+ die Arbeitszeiten reduziert würde,
+ die Chancen für Jugendliche mit Haupt- und Realschulabschluss verbessert würden (die Hälfte der Ausbildungsberufe sind faktisch für Hauptschulabsolventen abgeschottet),
+ Weiterbildungsperspektiven eröffnet würden,
+ die Einstiegschancen für jugendliche mit Migrationshintergrund oder geflüchteten Jugendlichen verbessert würden,
+ sich Wirtschaft und Politik stärker um die Qualifizierung von 2,2 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 (= 15% dieser Altersgruppe) ohne abgeschlossene Berufsausbildung kümmern würden,
+ die Wirtschaft attraktivere Angebote für einen Wechsel in die berufliche Ausbildung (z.B. Verkürzung der Ausbildungsdauer) für die große Zahl an Studienabbrechern machen würde.
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