Die Hubschrauber kreisen laut über der großen Menge an AktivistInnen, die – in weißen Maleranzügen und in Reihen einander untergehakt – über die Äcker ihren Weg Richtung Wald suchen. Kurz vor der Waldgrenze rufen die ersten: „Wir sind mehr! Wir sind mehr! Wir kommen durch.“ Die Zahl der AktivistInnen übersteigt deutlich die der Hundertschaft. Dies soll der Beginn der größten Massenaktion im Kampf für Klimagerechtigkeit werden. Doch der weitere Weg durch den Wald ist kein leichter. Über rutschige Baumstämme kletternd, gebückt durch das Unterholz, teils rennend, bewegt sich die Masse durch den Wald. Einige fallen oder verlieren den Anschluss an ihre Gruppe. Die PolizistInnen tauchen immer wieder von verschiedenen Seiten auf und schneiden der Gruppe den Weg ab. Wie auf Videos später zu sehen ist, verhindern sie dies auch mit entschiedener Härte – doch: Sie wirken immer wieder überfordert. Ich folge dem pinken Finger – einer der fünf Gruppen, in denen sich die AktivistInnen organisiert haben. Der rote, goldene und silberne Finger bahnen sich, wie ich später erfahre, ihren Weg über die Autobahn. Ziel sind die Gleise der Hambachbahn.
Die Soli-Demonstration „Ende-Gelände für die Kohle“ beginnt an diesem Samstag – circa eine Stunde zuvor – wie die meisten Demonstrationen beginnen: Wartend steht die Menschenmenge auf einem Feld in der Nähe von Buir, vor Kälte von einem auf das andere Bein stampfend, einige suchen noch nach FreundInnen unter den Versammelten, andere blicken bereits in Richtung Lautsprecher-Wagen. Familien mit kleinen Kindern und Hunden stehen neben Gruppen von Jugendlichen und RentnerInnen, die Stimmung ist gut. Die Reden beginnen – OrganisatorInnen und AktivistInnen kommen zu Wort. Ein aktivistisches Künstlerduo aus den USA ist extra angereist, um Solidarität zu zeigen und erzählt von seinem eigenen Kampf gegen den Bau einer Öl-Pipeline im Reservat der Native Americans.
Nach kurzer Pause setzt sich die Demonstration in Bewegung. Es wird zur Musik getanzt, gesungen und immer wieder ist zu hören: „What do we want?“ und laut kommt die Antwort: „Climate justice!“ Der Demonstrationszug ist erst wenige Meter weit gekommen, als sich plötzlich die Hälfte der DemonstrantInnen loslöst und mit farbigen Rauchbomben über den Acker Richtung Wald läuft. Die Organisatoren der Demo rufen über die Lautsprecher zur Ordnung. Dies sei kein offizieller und legaler Teil der Demonstration. Doch viele schließen sich an und rennen hinterher. Das „Fangspiel“ mit der Polizei hat begonnen. In engen Reihen marschieren die ca. 1.000 AktivistInnen mit leichtem Abstand vorbei an den Polizeipferden und einzelnen PolizistInnen. Sie rufen: „Stay calm!”, „No gaps!“, „Don’t run“ und versuchen die riesige abgesonderte Gruppe, so gut es geht zusammenzuhalten. Vieles davon werden sie am Tag zuvor im AktivistInnen-Camp geübt haben.
Als die ersten den Wald erreichen, macht sich die Freude und Erleichterung breit. „Schön, wieder hier zu sein“, höre ich zu meiner Rechten. Doch die Polizei versucht sich schnell zu organisieren und den Weg der Gruppe abzuschneiden. Es wird zu einem anstrengenden „Katz-und-Maus-Spiel“, doch die AktivistInnen scheinen zu gewinnen. Die Motivation ist groß. Ebenso die Solidarität. Immer wieder helfen sie sich durch das Dickicht, teilen Essen und Wasser, warnen laut vor Hürden und halten die Gruppe beisammen. Sie sind gut organisiert. Irgendwann ist wieder ein Feld durch die Bäume zu erkennen. Die Polizei wartet schon draußen vorm Wald, doch es sind zu wenige. Immer schneller rennen die AktivistInnen jetzt von allen Seiten und sehen ihr Ziel: die Gleise der Hambachbahn. Einige PolizistInnen stehen in einer Kette vor dem Abhang, an dem es zu den Gleisen geht. Wir gehören zu den ersten, die sie erreichen. Als einige der Gruppe versuchen, durch die PolizistInnen zum Abhang zu gelangen, greifen sie hart durch. Ich höre einen Aufschrei neben mir und sehe, wie eine Aktivistin niedergeschlagen wird und hart mit dem Kopf aufprallt. Doch es sind zu viele für die Hundertschaft. Die weißen Maleranzüge strömen von allen Seiten auf sie zu und rutschen zwischen den PolizistInnen den Abhang runter. Resignation oben, riesige Freude unten. Die Menge auf den Gleisen jubelt und schwenkt das Banner mit der Aufschrift: „Oops, we blocked it again!“ Als ich mich an den Rand setze, höre ich hinter mir einen Polizisten sagen: „Alles Nazis.“
Die Hambachbahn – die sonst im 15-Minuten-Takt Kohle transportiert – ist blockiert.
Bildrechte: Anna Pöhls