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Home Kultur Buchbesprechungen

Wiedergelesen: Virginia Woolf Die Fahrt hinaus

Petra Frerichs Von Petra Frerichs
31. März 2019
Virginia Woolf

Es ist ihr erster Roman, und sie tat sich schwer daran: schrieb ihn immer wieder (genau genommen fünfmal) komplett um, weil sie höchste Ansprüche an seinen Stoff und seine Form legte, bis er 1915 endlich erscheinen konnte. Das Buch handelt von nichts Geringerem als von den Geschlechterbeziehungen, den verinnerlichten Normen, die auf Ungleichheit und deren selbstverständlicher Hinnahme in den Mann-Frau-Beziehungen beruhen, von der Schwierigkeit, über Gefühle zu sprechen, weil es für sie keine Sprache, auch keine literarische Sprache gibt, und schließlich von der ungestillten Sehnsucht nach Freiheit und Gleichheit auch im Geschlechterverhältnis, nach gemeinsamer und egalitärer Emanzipation. Und das in einer Zeit (Anfang des 20. Jahrhunderts), in der traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen noch nahezu ungebrochen dominierten. Die bürgerliche Ehe galt als ideale Lebensform. Die frühe Frauenbewegung steckte noch in den Anfängen; das Frauenwahlrecht wurde erst 1918 in Großbritannien durchgesetzt.

Virginia Woolf versucht ihr Thema am Beispiel einer jungen Frau namens Rachel Vinrace abzuhandeln, die sich auf einer Fahrt hinaus befindet – von vorn herein ist der Titel auch als Metapher zu verstehen: zum einen unternimmt sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel (Mr. und Ms. Ambrose) in der Tat eine weite Überseereise nach Südamerika für etliche Monate, in denen sie auf Mitmenschen trifft, die ihrer individuellen Entwicklung förderlich sind, vor allem in Gestalt von zwei jungen Männern, mit denen sie intensive Sinngespräche führt; zum anderen deutet der Titel auf Prozesse der Bewusstwerden und Befreiung von Unmündigkeit, von Zwängen und Unterdrückung, eben auf Emanzipation hin; und die Ferne, das Hinaus, soll vielleicht auf die Schwierigkeit dieser Prozesse, die Mühsal der Erlangung von Fortschritten der eigenen Entwicklung verweisen. Der dafür gewählte fiktive Ort in Südamerika, in dem eine Gruppe von Akteuren wie in einem Mikrokosmos agiert, könnte – anders als die Großstadt London – der Überschaubarkeit und Transparenz des Geschehens dienen.

Während die einheimische Bevölkerung dieses Orts nur am Rande eine Rolle spielt, sind es britische Urlauber*innen, die allesamt in einem Hotel untergekommen sind, unter denen sich auch die Ansprech- und Kontaktpersonen für Rachel und ihre Tante befinden. Dies sind vor allem ein junger Schriftsteller namens Terence Hewet, ein belesener, kritisch und quer denkender Zeitgenosse, und sein Freund St. John Hirst, der sich als eigensinniger Denker mit eher theoretischen Veranlagungen entpuppt. Für die bis dahin illiterarische, weltfremde und naiv-unerfahrene, aber dadurch auch unverbildete Rachel, die einzig dem Klavierspiel anhängt, spielt sich das von Langeweile und Gleichmut geprägte Urlauberdasein der Hotelbewohner als fremde Welt ab, das es bestenfalls zu beobachten gilt, statt es zu teilen. Doch bei Gelegenheit von selbstorganisierten Picknicks und Ausflügen kommt man sich näher und lernt sich kennen. Es bilden sich je nach Sympathie und Interessen wechselnde Gruppierungen, aus denen auch erotisch motivierte Beziehungen hervorgehen.

Doch von zentraler Bedeutung sind die eingangs erwähnten Gespräche, die zwischen den drei jungen Leuten immer wieder zustande kommen. V. Woolf legt ihnen sozusagen die sie selbst bewegenden Fragen über existentielle Probleme in den Mund. So, wenn es über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heißt: In Wahrheit ist man doch nie allein und nie in Gesellschaft, meint Hewet, der Schriftsteller. Karl Marx hatte in einem ähnlichen Zusammenhang von der Vereinzelung des Individuums gesprochen, die im höchsten Maße in der Gesellschaft stattfindet, was nur vermeintlich ein Widerspruch ist, wenn man die Vereinzelung als Form der Entfremdung begreift.

Auch über das Verhältnis von geistigen und emotionalen Fähigkeiten geht der Disput, etwa mit der Frage, ob sich Verstand, Geisteskraft und Intelligenz einerseits und Einfühlungsvermögen, Verständnis und Zuneigung andererseits gegenseitig ausschließen, was Hirst bezweifelt. Eine aufgeklärte Haltung, wenn man bedenkt, dass die Geisteskraft stereotyp und bipolar als männliche Befähigung und die Empathie als weibliche angesehen wurden.

Brisant und bis heute relevant ist die Frage nach der Machtstellung in den Geschlechterbeziehungen, insbesondere auch nach dem Anteil der Frauen an ihrer Unterdrückung und Unterordnung. Hewet meint dazu:

‚Die Hochachtung, die Frauen, selbst gebildete, sehr eigenständige Frauen vor Männern haben. … Ich glaube, wir müssen die Art von Macht über euch haben, die wir angeblich für Pferde haben. Die sehen uns dreimal so groß, wie wir sind, sonst würden sie uns niemals gehorchen. Eben aus diesem Grund neige ich dazu zu bezweifeln, daß ihr je etwas anderes tun werdet, selbst wenn ihr das Wahlrecht hättet.‘ Er blickte sie nachdenklich an. Sie erschien ihm sehr weich und empfindsam und jung. ‚Es wird wenigstens sechs Generationen brauchen, bis ihr dickhäutig genug seid, um an die Gerichte und die Geschäftszimmer zu gehen. Bedenken Sie doch, was für ein Tyrann der Mann gewöhnlich ist‘, fuhr er fort, ‚der gewöhnliche, hart arbeitende, einigermaßen ehrgeizige Anwalt oder Geschäftsmann, der für die Familie aufzukommen und eine bestimmte Position zu verteidigen hat. Und dann müssen die Töchter natürlich hinter den Söhnen zurückstehen; die Söhne brauchen eine Ausbildung, sie müssen schließlich schuriegeln und rackern für ihre Frauen und Familien, und so geht das alles wieder von vorn los. Und im Hintergrund gibt es währenddessen noch die Frauen … Glauben Sie wirklich, daß das Wahlrecht Ihnen irgendetwas einbringen wird?‘

Auf die Spitze getrieben ist Hewet der Auffassung, dass die Frauen das Vorrecht des männlichen Geschlechts verinnerlicht haben und somit ihre Schlechterstellung auf einer quasi freiwilligen Unterwerfung beruht; das Bild, das sie vom Manne haben und zurückspiegeln, ist ein Zerrbild aufgrund von enormer Vergrößerung desselben. Und solange sich die Frauen dieses Mechanismus‘ nicht bewusst werden, solange sie sich in diese materielle und symbolische Ordnung fügen, wird auch das Wahlrecht ihnen keine Befreiung und nicht mehr Gleichheit bringen. Mit dieser Haltung nimmt Hewet sozusagen einen feministischen Standpunkt ein, der auf seine Gesprächspartnerin Rachel positiv im Sinne von Bewusstwerdung zu wirken scheint.

Das zeigt sich auch daran, dass sie sich anlässlich eines Kirchenbesuchs – einer bis dahin von ihr selbstverständlich vollzogenen allsonntäglichen Handlung – erstmals dieser Form der sklavischen Ergebenheit und Unterwerfung unter eine Institution bewusst wird und diese kritisch hinterfragt.

Der junge Schriftsteller ist es auch, der sich für das stumme Leben der Frauen, vor allem auch der älteren, interessiert; alles, was Rachel ihm über dieses verborgene Leben am Beispiel ihrer beiden alten Tanten, die sie anstelle ihrer verstorbenen Mutter großgezogen haben, erzählt, ist für ihn bedeutsam; er weiß nichts davon, weil es auch in der Literatur nicht vorkommt, begreift aber schnell, wie die Mechanismen funktionieren: alles, was diese Frauen tun für den feingewirkten Stoff des Lebens daheim und wie sie sich verhalten, geschieht mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit, und die Männer in den Familien begegnen ihnen gutmütig, aber herablassend. Das alles ist auch Stoff für Hewets literarisches Projekt; er hat vor, einen Roman über das Schweigen, das Unausgesprochene zu schreiben, in dem er die Erzählungen Rachels verwerten kann.

Die Nähebeziehung der drei jungen Leute hinterlässt auch Spuren der emotionalen Verstrickung; sie fragen sich wechselseitig, ob sie verliebt seien, und wenn ja, dann wer in wen, und was das überhaupt sei, dieses Verliebtsein und die Liebe. Unweigerlich stellt sich dann auch die Frage nach eventuellen Konsequenzen in der Perspektive des Heiratens und der Ehe – zumal Anfang des 20. Jahrhunderts, als Liebe und Sexualität jenseits der ehelichen Gemeinschaft verpönt waren. Und es ist abermals Hewet, dem eine Reihe unerfreulicher Bilder von Ehe und Ehepaaren in den Sinn kommen, die ihn zu dem Entschluss führen, niemals zu heiraten.

Er verband damit unmittelbar das Bild von zwei Menschen, die allein am Kaminfeuer saßen; der Mann las und die Frau nähte. Dem folgte ein zweites Bild. Er sah einen Mann aufspringen, seiner Frau eine gute Nacht wünschen, ihre Gesellschaft verlassen und sich mit dem lammfrommen und zugleich verstohlenen Ausdruck dessen, der sich zu einer bestimmten Art von Glück davonschleicht, aus dem Staub zu machen. Beide Bilder waren gleichermaßen unerfreulich und mehr noch ein drittes, das Ehemann und Ehefrau und den Freund zeigte; die Ehegatten warfen einander flüchtige Blicke zu, als erfüllte es sich mit Genugtuung, sich wortlos untereinander zu verständigen, da sie sich im Besitz der höheren Wahrheit befanden.

Diese Schreckbilder von der Ehe hat sich der junge Schriftsteller nicht ausgedacht, sondern sie beruhen auf empirischer Beobachtung in seinem Umfeld. Jedes der drei Beispiele steht für eine Problematik, die mit der Institution der Ehe in direktem Zusammenhang zu stehen scheint: strikte und unhinterfragte Rollenteilung; heimliche Flucht des Mannes aus der Gemeinsamkeit als partielle Befreiung von Zwängen; stummes Einverständnis aufgrund von Anpassung und Abschleifung von Differenz, dargeboten als Übereinstimmung und Überlegenheit gegenüber Dritten. Und Hewet fragt sich, wo denn die Autonomie und Freiheit der Einzelnen bleibe, wenn sie sich gebunden haben. Er findet sie nicht unter Verheirateten, wohl aber unter den Nicht-Verheirateten:

Als er … an unverheiratete Leute zu denken begann, sah er sie als tätige Wesen, denen ganze Welten offenstanden; vor allem standen sie sämtlich auf ein und demselben Grund, gleichermaßen ohne Schutz und Privileg. Die menschlich vollkommensten unter seinen Freunden und die ausgeprägtesten Persönlichkeiten waren sämtlich Junggesellen und Junggesellinnen; tatsächlich stellte er zu seiner eigenen Überraschung fest, daß die Frauen, die er am meisten bewunderte und am besten kannte, unverheiratet waren. Die Ehe schien den Frauen noch schlechter zu bekommen als den Männern.

Das ist natürlich Virginia Woolf in reinster Form; es sind ihre eigenen Lebenserfahrungen und ihr verzweifelter Versuch, nach Lebensformen zu suchen, um jenseits der bürgerlichen Normen auch im Zusammenleben von Mann und Frau den Fesseln und Festlegungen nach Geschlecht zu entkommen und Emanzipation zu ermöglichen. Die Kritik an der Institution der Ehe wird im Roman nicht abstrakt geführt, sondern immer wieder am lebendigen Objekt ihrer Protagonist*innen, hier am Beispiel der Urlaubsgäste oder mit Blick auf das eigene Umfeld daheim. Anhand konkreter Fälle wird dann zur Verallgemeinerung geschritten, um die Wirkungen der Institution und der Strukturen auf die Menschen zu resümieren: da ist zum einen die Verhäuslichung als Problem zu nennen, zum anderen die permanente Kompromissbildung. Hewet denkt an Eheleute in der Krise, wenn er meint:

Es stand außer Zweifel …, daß es für die Welt weitaus besser gewesen wäre, wenn diese Paare sich getrennt hätten. Selbst noch die Ambroses, für die er tiefe Bewunderung und Hochachtung empfand – war nicht auch ihre Ehe bei aller Liebe, die mit im Spiel war, ein Kompromiß? Sie gab ihm nach; sie verhätschelte ihn; sie erledigte tausend Dinge für ihn; sie, die doch anderen gegenüber die Wahrhaftigkeit in Person war, war ihrem Gatten gegenüber nicht wahrhaftig, war es auch ihren Freunden gegenüber nicht, wenn die in Konflikt mit ihrem Gatten gerieten. Es war ein rührender, seltsamer Makel ihres Wesens. Vielleicht hatte Rachel ja recht, als sie damals abends im Garten gesagt hatte: ‚Wir bringen das Schlechteste am andern zum Vorschein – wir sollten getrennt voneinander leben.‘

Eine radikale Kritik an der Ehe wird hier formuliert: selbst als Liebesdienst zieht die Frau den Kürzeren und scheint es nicht zu merken; das Arrangement als modus vivendi; Geborgenheit und Gemütlichkeit auf Kosten von Autonomie und Freiheit; Verhäuslichung (auch des Mannes) als Einschränkung, als Rückzug vom öffentlich-gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen Leben.

Wie ihre Schöpferin, ringen die Protagonist*innen im Roman nach Auswegen und Lösungen; dabei stellen sie sich dem Problem der Wahrhaftigkeit und Authentizität des sprachlichen Ausdrucks; sie machen das Sprechen und Schreiben über Gefühle und Empfindungen zum Ausgangspunkt, in ihren Augen das Schwierigste überhaupt. Was ist das Glück? Was macht glücklich? Was ist die Liebe, unter welchen Bedingungen kann sie gedeihen? Wie spricht man darüber, und welchen Anforderungen muss das Schreiben darüber genügen? Es ist das Ringen um eine Sprache für Emotionen jenseits der Lüge, Vertuschung und Verleugnung, damit eine ehrliche, authentische Verständigung darüber gelingen kann. Des Weiteren geht es den Beteiligten um alternative Lebensformen, die die besagten Einschränkungen durch die herkömmlichen zu überschreiten versprechen. Es ist Evelyn, die ihren Traum vom Besseren und Mehr im Leben entfaltet; Ausgangspunkt ist bei ihr auch wieder die Kritik am Bestehenden:

Alles schön und gut, die Liebe und der heimische Herd, die Einfamilienhäuser mit ihrer Küche unten und ihrem Kinderzimmer oben, die so abgeschlossen und selbstgenügsam waren wie Inselchen im reißenden Strom der Welt; aber die wirklich wichtigen Dinge waren doch wohl die großen Ereignisse, die moralischen Feldzüge, die Kriege, die Ideale, die Dinge eben, die draußen in der großen weiten Welt stattfanden und sich unabhängig von den Frauen vollzogen, die sich mit so schöner Gelassenheit den Männern zuwandten.

Sodann unterbreitet sie die Idee, einen Klub zu gründen:

… einen Klub, der alles Mögliche bewirken sollte, der wirklich tätig werden würde. Sie redete sich in einen wahren Feuereifer hinein, denn, so beteuerte sie, sie war sich ganz sicher, mit zwanzig Leuten – nein, zehn würden schon ausreichen, wenn sie Köpfchen hätten -, die entschlossen wären, wirklich etwas zu tun, statt nur davon zu reden, könnten sie nahezu jeden Mißstand abhelfen, der existierte. Was gebraucht wurde, war Grips. Wenn nur Leute mit Grips – natürlich würden sie auch einen Raum brauchen, vorzugsweise in Bloomsbury, wo sie sich einmal wöchentlich treffen könnten …

Es ist bezeichnend, wie V. Woolf diese Evelyn kennzeichnet: emphatisch, auch etwas wirr, leicht elitär und voller Tatendrang. Sie spricht von der großen weiten Welt, die am Leben der Frauen vorbeigeht, weil sie in ihren vier Wänden ihr kleines Glück suchen. Sie will gebildete und gescheite Leute um sich versammeln und einen geistigen wie emotionalen Austausch organisieren. Nur reden reicht ihr nicht, sie will im Kreis Gleichgesinnter etwas tun, um den Mißständen zu begegnen. Dieser leicht utopische Überschuss in ihrem Plädoyer soll vielleicht auf die Schwierigkeiten bei der Realisierung dieses Projekts verweisen, und die Autorin weiß, wovon sie spricht: es gab diesen Klub in Bloomsbury wirklich, in dem sie sich mit ihrem Ehemann und einem Kreis von Vertrauten und Freunden zwecks Austausches über politische, wissenschaftliche und literarische Fragen regelmäßig trafen. Das war ein Anfang, doch von alternativen Lebensformen konnte noch keine Rede sein.

Alles in allem stellt dieser Roman sehr viel an eingefleischten Mustern und Strukturen des bürgerlichen Lebens und der Geschlechterbeziehungen in Frage, so dass ihm eine Vorreiterrolle in der feministischen Bewegung zukommt. Manches  liest sich wie aus heutiger Zeit geschrieben, und es wird auch morgen noch seine Gültigkeit haben. Denn das Streben nach einem selbständigen, selbstbestimmten Leben und freier Entfaltung der Person ist ein unerschöpfliches Thema und für die allermeisten noch lange nicht erreicht.

 

Bildquelle: Wikipedia, Fotograf George Charles Beresford, public domain

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Tags: EmanzipationGefühleGeschlechterbeziehungenMann-Frau-BeziehungenSehnsucht nach Freiheit und GleichheitUngleichheitUnterdrückungVirginia Woolf
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