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Kleine Kunst, wilde Nacht – Dem nordirischen Sänger und Songwriter George Ivan „Van“ Morrison zum 80. Geburtstag

Hans Otto Rößer Von Hans Otto Rößer
31. August 2025
George Ivan „Van“ Morrison , 2014

„Wie könnten Narren müde werden!“ (Franz Kafka)

Wer in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Kind zum Jugendlichen und jungen Erwachsenen heranwuchs, konnte leicht der narzisstischen Einbildung erliegen, dass die populäre Musik, die ihn oder sie auf diesem Weg begleitete, eigens für ihn oder sie auf die Welt gekommen sei. Peter Handke, der selbst ein „Fan“ wurde, schwärmte im „Versuch über die Jukebox“ von der „Anmut“(!) dieser erstmals gehörten Musik, die mal Beat, mal Rock und schließlich Pop hieß, und bedachte ihre Wirkung mit dem religiös-spiritistischen Begriff der „Levitation“. Er sah sich durch sie erhoben, in den Zustand des Schwebens versetzt. Der größere Teil der Verzauberten nahm diesen Weg im Gefolge abendländischer Melodik und Harmonik, von Stimmen getragen, die einzeln anhoben, „durcheinander und endlich unisono erbrausten“ (Handke), und gelangte vom Händchenhalten zum Revolver und zur warmen Knarre und schließlich zur Lucy im Himmel. Andere, eine meist männliche Minderheit, entdeckten die Schwarze Americana in der manchmal genialen Aneignung und Zubereitung zu aufgerautem weißem Rhythm & Blues für sich. Heute wird man sich kaum die auftrumpfende Begeisterung vorstellen können, die Handkes „Publikumsbeschimpfung“ selbst bei den notorischen Lektüre-Verweigerern einer 11. Schulklasse des Jahres 1968 erzeugte, und das nicht wegen der Theaterkritik des Stückes, die keinen interessierte, sondern wegen der vorangestellten „Regeln für die Schauspieler“, darunter besonders diese: „‘Tell me‘ von den Rolling Stones anhören.“ Lehrer und Streber konnten damit gar nichts anfangen, die besagten anderen sehr viel.

Zu den Produzenten dieses Blue-Eyed Soul gehörte auch, abseits von London, die kurzlebige Belfaster Band „Them“, die mit ihrem Avant-Punk-Knaller „Gloria“ schlagartig bei den üblichen Tunichtguten berühmt wurde. Den drei Akkorden liegt ein Call and Response Schema auf, das nach einer Phonetik-Übung aus dem Sprachunterricht klingt. Der Sänger beschwört die einzelnen Buchstaben des Namens, als könne er nur so das Unbegreiflich-Überirdische dieser Teenager-Erotik festhalten, und die Band antwortet bestätigend mit dem vollen Namen des Mädchens. Ein Frohlocken, das sich selbst nicht so richtig über den Weg traut.

Sänger und musikalischer Kopf der Band war „Van“ Morrison, der mit 15 die Schule verlassen hatte und fortan halb- oder vollprofessionell Musik machte. Als 17-Jähriger war er der Mittelpunkt stürmischer Auftritte in den Belfaster Clubs. Er sei über die Bühnen gefegt, heißt es, und habe auf den Knien rutschend 10 Minuten darum gefleht, dass irgendeine Schönheit ihr Licht der Liebe anknipst und auf ihn richtet. Den erwachsenen Musiker indes trennten Welten vom Habitus des Rock ʼn‘ Roll-Animals, das sich noch mit 70 die dünnen Haare von der Windmaschine verwehen lässt und den Oberkörper entblößt. Vielmehr stellte er sich schon früh in den Dienst seiner Stücke. Es ist bei ihm immer der Song, nicht der Sänger. Von seinen ersten Plattenaufnahmen 1965 an leuchtet sein Stern seit nunmehr 60 Jahren am Firmament der populären Musik, beständig, aber eher am Rand.

Schon die Musik der „Them“ war von einer Fusion von Blues, Soul, Jazz und Ballade und Folk geprägt, die auch für den musikalischen Weg des Solokünstlers Morrison grundlegend blieb. Man kann das als Eklektizismus abtun, aber diese Breite hat es ihm ermöglicht, über Jahrzehnte immer neue Seiten seiner Originalität zu entwickeln und dabei unverwechselbar zu bleiben. Natürlich haben daran auch exzellente Musiker ihren Anteil, die seinen Weg begleiteten. Hier ist vor allem an den 2021 gestorbenen Saxophonisten und Arrangeur Alfred „Pee Wee“ Ellis zu erinnern, der von Ende der 70er bis in die 80er Jahre musikalischer Leiter in seinen Bands war. Morrison konnte sich so von musikalischen Zeitgeistströmungen fernhalten, ohne ein „Oldie“-Musiker zu werden. Solche Prozesse der Neuerfindung sind alles andere als einfach, gerade in Zeiten von Umbrüchen in der populären Musik und bei zunehmender Differenzierung der Hörerschaft, in der immer wieder neue Distinktionslinien zwischen Kennerschaft und Banausentum gezogen werden. Darin, dass Morrison zwischen 1974 und 1977 kein Album veröffentlicht hat, haben manche ein Indiz für die Existenz einer Krise gesehen, die er u.a. in der Zusammenarbeit mit Mac Rebennack („Dr. John“), Peter Bardens und Pee Wee Ellis überwunden hat. Auch ein Singer/Songwriter ist nicht der singuläre Held der Pop-Musik.

Seine erste und niemals überbotene Sternstunde bescherte dem 23-jährigen Musiker ausgerechnet seine damalige Plattenfirma Warner Bros. Records, die ihm für die zweitägigen Aufnahmen zu „Astral Weeks“, seinem ersten wirklichen Soloalbum, versierte Jazzmusiker zur Seite stellte. Diese setzten in den Kompositionen Morrisons, aber auch im Einsatz seiner Stimme ein Potential frei, das frühere Aufnahmen mancher dieser Songs für Bang Records von Bert Berns weit hinter sich ließ, zum Rohmaterial degradierte. Hier kann man erfahren, was Bob Dylan meint, wenn er betont, dass Songtexte nicht fürs Auge, sondern für die Ohren bestimmt sind. In variierenden, endlos scheinenden Wiederholungen werden Wörter und Silben weniger als Bedeutungsträger denn als Klangkörper eingesetzt, die Stimme wird zum Instrument[i]. Das sind die Momente, die die oft Wahrnehmungs- und Erinnerungspartikel aneinanderreihende Song-Erzählung anhalten, die sich nicht auf Bedeutungen und Festlegungen „stürzen“, sondern sich davon lösen und in denen sich „Sinnliches“ ausbreiten kann, wie Wim Wenders schrieb, der in Morrisons Musik den Spiegel seines Filmideals sah. Im Song über „Madame George“ ist dies zum Beispiel die Klangkaskade: „And the loves that love to love that loves to love that loves to love the loves …“

Dennoch ist auch die Qualität der Texte bemerkenswert. Sie handeln von Themen, die man in der europäischen Kultur bisher fast nur in Gedichten oder in literarischer Prosa finden konnte. Morrison sang von den fremden Geräuschen der Kindheit, dem verheißungsvollen Klacken von Frauenschuhen auf dem Straßenpflaster, von Kindern, die hinter Soldaten herlaufen und Flaschenverschlüsse sammeln, um vom kleinen Geld dafür Zigaretten und Streichhölzer zu kaufen, die Domino spielen, Geschichtsbücher lesen und erste Erfahrungen mit Sexualität und Drogen machen. Er sang von der Klassentopographie einer Stadt, von ihren Plätzen und Straßen, der Hyndford Street im protestantischen Proletarierviertel Belfasts und der bürgerlichen, villengesäumten Cyprus Avenue. Und wie durch die Stadt so führen seine Wege in die Labyrinthe des Inneren, über die Viadukte der Träume und zu den Seelen der Segler vor dem Wind. Morrisons Musik zählte jetzt zu dem, was später (populäre) „Musik für Erwachsene“ (music for adults) genannt wurde. Wo immer die Texte Morrisons diesen Erfahrungsbezug behielten, etwa in Songs über die Kriegskinder des Jahres 1945 und ihre kulturindustrielle Sozialisation, über Filme mit Rod Steiger und Marlon Brando, über das Transistorradio von „Telefunken“, die Radiosender Europas: AFN, Radio Luxemburg, Hilversum, Helvetia, und die Tage vor dem Rock ʼn‘ Roll, blieb er ein ernst zu nehmender Songwriter, dessen Kreativität über kulturelle und ästhetische Grenzen hinaus geschätzt wurde. Wim Wenders, nur gut zwei Wochen älter als Morrison, veröffentlichte in der Zeitschrift „Filmkritik“ (Heft 6, Jg. 1970) eine enthusiastische Lobeshymne auf „Astral Weeks“: Er kenne „keine deutlichere, fühlbarere, hörbarere, sichtbarere, greifbarere: erfahrbarere Musik“ und er hat sich immer wieder einmal dazu geäußert, dass Morrisons Stimme zu kräftig und markant ist, um als Hintergrundgedudel in einem Film zu fungieren. Peter Handke widmete „seinem Sänger“ und dem Sprechgesang über einen Ausflug nach „Coney Island“, das Handke fälschlicherweise für einen „amerikanischen Ort“ hielt, einige Zeilen in seinem „Versuch über den geglückten Tag“, während Morrison einen Text Handkes zum „Song of Being a Child“ umgewandelt hat. Auf diesem Weg gelangte eine Zeile über Spinat und Blumenkohl in die populäre Musik. Als das irische Magazin „Hot Press“ zum 75. Geburtstag Morrisons irische und nordirische Musiker und Künstler aufrief, Kompositionen des Künstlers zu interpretieren und ihn damit zu ehren, deklamierte auch der Präsident der Republik Irland, Michael Daniel Higgins, eine Komposition Morrisons, einen Sprechgesang zu Ehren des anglikanischen Priesters und Poeten John Donne.

Seit „Astral Weeks“ genießt Morrison das fast unbegrenzte Wohlwollen der Rock-Musik-Kritik. Zumindest bis zu den Corona-Jahren konnte er eigentlich machen, was er wollte, und kam bei ihr meistens damit durch. Er gilt als bewährter „singender Poet“ (NZZ) und Mystiker, dessen Wege selbst auf „Pagan Streams“, bestimmt aber auf dem „Celtic Ray“ immer zu Jesus, ersatz- und zeitweise aber auch einmal zu L. Ron Hubbard führen. Dabei bleibt diese Mystik nicht nur nebulös, sondern grenzt bisweilen auch in anderer Hinsicht an „aryan“ Mist, etwa an Slogans der National Front oder wenn sich Morrison den Kopf über die protestantische „weiße Arbeiterklasse“ zerbricht, die dabei ist, ihre gegenüber den katholischen Klassengenossen privilegierten Jobs bei der Werft Harland & Wolff, Belfast, zu verlieren, zu schweigen von seinen Wutanfällen und dem vertonten Gemaule während der Covid-Pandemie. Vielleicht muss man die Irrungen und Wirrungen der Suche auf dem Markt der Weltanschauungen und Religionen als Nebenfolgen seiner musikalischen Neuerfindungen hinnehmen. Wie viele, die ihre Karrieren als Rock- und Pop-Musiker in den 1960er Jahren begannen, musste er eine Antwort finden auf die Frage, wie man weitermachen kann, wenn man (vermeintlich) zu alt für den Rock ’n‘ Roll geworden ist.

Aus vielen Gründen wäre es vergebliche Mühe, der esoterischen „Dylanologie“ so etwas wie eine „Morrisonologie“ an die Seite stellen zu wollen. Vielmehr käme es darauf an, Morrisons Maxime „Keep it simple!“ zu folgen und seinen Genius in den eher beiläufigen, kleinen und unscheinbaren Kompositionen zu suchen, die mit den von ihm so verachteten Schemata einfacher Rockmusik operieren und auch in den lyrics (scheinbar) simpel bleiben, zumindest auf angeberisches Namedropping verzichten. Exemplarisch für diese kleinen unterschätzten Kunststücke soll hier ein Blick auf den 3 ½ Minuten langen Song „Wild Night“ geworfen werden. Er erschien 1971, da war Morrison 26 Jahre alt. Wenn es überhaupt ein Morrison-Song auf die Schul- und Uni-Feten der 1970er Jahre geschafft hat, dann dieser: schnelles Tempo (146 beats per minute), fünf Akkorde, gut tanzbar.

Der Songtext scheint die Jugend zu feiern, vorbehaltlos die Klischees ungehemmter Jugendlichkeit zu reproduzieren, aber das täuscht. Die wilde Nacht, die der Text evoziert, aber nicht beschreibt, und die dröhnende Musik aus der Jukebox weisen auf das Zentrum des erfüllten Begehrens im Romanze-Machen hin, das sie zugleich als Vorspiel vermitteln. Die Romanze, die erst am Ende des Songs beschworen wird, ist die gesteigerte Form des Wunschbildes der wilden Nacht, ihr Ziel und ihre erhoffte Erfüllung. Auch die aufzählenden Partien des Songtextes beschreiben ein dreifaches Davor. Die erste Strophe beschreibt in der Adressierung eines „Du“ in knappen vier Zeilen seine Vorbereitungen für den Weg in die Nacht: Schuhe bürsten, vor dem Spiegel kämmen, der Griff nach Mantel und Hut – keine Innenschau, keine Mätzchen, Fakten.

Dieses „Du“ bleibt der Adressat des Liedes von Anfang bis Ende. Dennoch wendet sich der Blick des Liedes in der zweiten Strophe von ihm ab auf Menschen, die sich in einem anderen Vorher befinden, für die die Sehnsucht nach der wilden Nacht einerseits in ihrem libidinösen Kern noch abstrakt bleibt, allenfalls in Sehnsuchtsblicken lebt, aber zugleich auch von der Musik erweckt und im kollektiven Vergnügen spürbar wird. Die Mädchen, die sich in ihren Aufmachungen wechselseitig mustern, und die tanzenden, Unsinn machenden Jungen an der Straßenecke brauchen beide noch den Schutz ihrer jeweiligen Geschlechtergruppe. Damit ist ihnen bereits der erste Schritt auf eine mögliche Romanze hin verstellt, zumindest erschwert. Sie müssten aus der Deckung durch die Gruppe heraustreten, sich vereinzeln und bloßstellen, vor aller Augen das Risiko einer Zurückweisung eingehen. Stattdessen steckt das Begehren noch im Limbo der späten Kindheit und frühen Pubertät, bleibt mehr Ahnung als Erfahrung.

Das dritte Davor schließlich ist ein lokales: Die Musik, die aus der Jukebox im Inneren eines Tanzlokals nach außen dröhnt wie ein Donnern, beschallt einen offenen Vorplatz, der für die einen die letzte Station vor dem Betreten des Raumes ist, für andere aber die letzte Station der wilden Nacht bleibt, ihr Verharrungsort, weil sie entweder zu jung sind, um in dieses Innere hinein gelassen zu werden, oder weil sie nicht genügend Geld haben, um Eintritt und Getränke zu bezahlen. Dort aber, in den Gruppen auf dem Platz vor den Nachtlokalen, wird die wilde Nacht Realität. In ihrem Trinken und Tanzen produzieren die Cliquen der Mädchen und Jungen ein Spektakel, das den befremdeten oder faszinierten Blicken der Passanten das Erlebnis eines wilden Wunders beschert. An dieser Stelle durchbricht der Song das Schema von Vorspiel und Erfüllung und wird selbstreflexiv im Blick auf die Rockmusik. Das Hören und das Dazu-Bewegen nimmt er ohne jeden instrumentellen Bezug auf anderes wahr, der Sound ist die Sache selbst. Die elektrisch verstärkten Klangreize der Rockmusik, wie ein Donnern, aber ohne die Bedrohlichkeit eines Blitzschlages, affizieren lustvoll (und manchmal schmerzhaft) Ohren, Haut und Körperorgane der Hörenden und Tanzenden und produzieren das Bedürfnis nach Wiederholung dieser Erfahrung. Bei passionierten Hörern dieser Musik überdauert dieses Bedürfnis Pubertät und Jugend und hält, unabhängig von der Position, die der Körper beim Hören annimmt, ein Leben lang an.[ii]

Die Gruppen vor den Lokalen und an den Straßenecken bilden das Gegenelement zum „Du“, das an jedem Punkt des Songs ein vereinzeltes bleibt: Es wird von keinem Freund abgeholt, der ihm die Zweifel abnimmt und ihm Beine macht, trifft auch keinen auf seinem Weg durch nasse Straßen und schließlich lässt der Song auch offen, ob das „Du“ den entscheidenden Schritt in das Innere des Lokals macht oder vielleicht doch umkehrt.

Auf dieser Achse der beiden Elemente des Songs kreuzen sich somit unterschiedliche Perspektiven. Für die einen bleibt die wilde Nacht zwar noch Vorspiel abstrakten Wünschens, aber auch durchaus lustvolles Einüben ins Erwachsenwerden im Boogie Woogie und Heckmeck an der Straßenecke. Für die anderen ist sie bereits auf Erfahrung beruhende Erinnerung und Wunschort zugleich, aber auch nicht vorhersehbare Realität zwischen Erfüllung und Enttäuschung. Die wilde Nacht lockt zwar das „Du“, das weiß, worum es geht, aus seiner Wohnung heraus ins dunkle Offene. Gleichzeitig aber bedarf dieses „Du“, isoliert, wie es zu sein scheint, der Erinnerung, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen. Mehr noch: Diese Erinnerung steht ihm nicht einfach zur Verfügung, sondern dieses „Du“ muss sie eigens herbeirufen, es muss „versuchen“, sich zu erinnern. Das „tryin‘ to remember“ ist die entscheidende Zeile dieses kleinen Songs. Sie ist der Stolperstein, der einen aufhorchen und innehalten lässt: Verdammt, worum geht es eigentlich in diesem Liedchen? Es sind doch nicht die risikoarmen wilden Nächte der frühen Jugend im Schutzraum der Gruppe, die der Erinnerung Mühe machen. Diese Erinnerungen haben kein Verdrängungspotential, können aber auch nicht aufgrund der Grenzen dieser Art wilder Nacht den komplexen Wunsch nach einer wilden Nacht befeuern, die zu einer Romanze führt. Dazu benötigte das „Du“ Erinnerungen, die ihm helfen, die Angst vor Enttäuschungen zu überwinden. Denn die Verlockungen des Begehrens allein sind nicht stark genug. Das „Du“, das sich zum Aufbruch in die Nacht rüstet, benötigt ständige Aufforderungen und Ermunterungen, um endlich herauszukommen. Der Refrain kennt zwar auch noch den Moment der Levitation, wenn der Wind die Füße ergreift und der Ergriffene abhebt. Doch es ist eine raue Erhebung und sie erkaltet immer wieder in der Reflexion, die den Selbstzweifel bannen soll. Der Song zeigt den Wunsch, Romanze zu machen, als in sich brüchig. Der Wunsch produziert nicht nur Erwartung und Glückshormone, sondern damit verschränken sich Zögern und Schüchternheit, das Verzichten, das von der Angst zu scheitern erzeugt wird, die Frustration, am Ende der Nacht auf der nassen Straße allein in die Wohnung zurückkehren zu müssen, in dunkler Einsamkeit. Der Song schreit keinen Coming-of-Age-Kitsch heraus. Die Musik lässt es krachen, der Text nicht. In diesem Song ist die Jugend kein „süßer Vogel“, sondern ein stetiges Risiko, eine Einübung in die Melancholie, die ihr unterlegt ist. Morrison hat später in einem lauwarmen Ding die Jugend der 1000 Sommer besungen und darin dem Schauspieltitel von Tennessee Williams seine Reverenz erwiesen, der jedoch selbst schon bitter ironisch gemeint ist. Auf seinem neuen Album „Remembering Now“ grummelt er, eingebettet in das zuckersüße Hummen eines Frauenchors, etwas vom blühenden Wunder und den goldenen Jugendtagen. Das nehme ihm ab, wer kann. Von einem wilden Wunder ist kein Singen mehr. Man wird ihn ohnehin nicht zu den großen Spaßvögeln unserer Zeit zählen können.

Am 31. August dieses Jahres, einem Sonntag, wird George Ivan „Van“ Morrison 80 Jahre alt. Möge ihm das Schicksal oder die Chemieindustrie noch die eine oder andere wilde Nacht bescheren. Rave on, Van Morrison, thy irish holy fool!

Van Morrison, Wild Night/Wilde Nacht

As you brush your shoesWenn du deine Schuhe bürstest
Stand before the mirrorVor dem Spiegel stehst
And you comb your hairUnd dein Haar kämmst
Grab your coat and hatNach deinem Mantel und Hut greifst
And you walk wet streetsUnd du gehst auf nassen Straßen
Tryin‘ to rememberVersuchst dich zu erinnern
All the wild night breezesAn all die wilden Nachtbrisen
In your memory everIn deiner Erinnerung, immer
And everything looks so completeUnd alles sieht so vollkommen aus
When you’re walkin‘ out on the streetWenn du raus auf die Straße gehst
And the wind catches your feetUnd der Wind deine Füße hebt
Sends you flyin‘, cryin‘Lässt dich fliegen, schreien
Ooh, woo-weeOoh, woo-wee
Wild night is calling, alrightDie wilde Nacht ruft
Ooh, woo-weeOoh, woo-wee
Wild night is callingDie wilde Nacht ruft
All the girls walk byAll die Mädchen gehn vorbei
Dressed up for each otherHerausgeputzt füreinander
And the boys do the boogie-woogieUnd die Jungen machen den Boogie-Woogie
On the corner of the streetAn der Straßenecke
And the people passing byUnd die Passanten
Stare in wild wonderstarren auf ein wildes Wunder
And the inside jukebox roars outUnd die Jukebox im Inneren dröhnt nach außen
Just like thunderWie ein Donnerschlag
[Wiederholung der 3. Strophe][Wiederholung der 3. Strophe]
Come on out and danceKomm raus und tanz
Woah, come on out and make romanceKomm schon raus, mach eine Romanze
The wild night is callingDie wilde Nacht ruft
Come on out and danceKomm schon raus und tanz
Yeah, come on out and make romanceJa, komm endlich raus, mach eine Romanze

[i] Dieses Verhältnis von Text und Musik, das Dylan das „Wunder“ ihres Zusammenspiels nennt (Philosophie des modernen Songs, München 2022, S. 286), erklärt allgemein, warum Songs mit dürftigen Texten funktionieren können und warum sie bei Zuhörern funktionieren, die die Sprache der Texte nicht oder nur zum Teil verstehen. Dies war bei den westdeutschen Jugendlichen der 60er Jahre der Fall. Das damalige Schulenglisch, weit entfernt vom Ziel der kommunikativen Verwendbarkeit, reichte allenfalls dafür aus, ein paar Bruchstücke des Gesangs zu verstehen. Die Verständnislücken wurden durch Phantasie-Englisch oder durch ‚falsche Freunde‘ gefüllt. Prominent dafür ist der Song „Wooly Bully“ von „Sam the Sham and the Pharaohs“ aus dem Jahr 1965. Im Hessischen Rundfunk wurde von Hanns Verres über Wochen mehrfach hintereinander der Anfang des Songs gespielt, um Gewissheit darüber zu erlangen, ob da der Sänger Domingo Samudio tatsächlich sagt: „Walter, mach die Tür zu.“ Heute genügt ein Mausklick, um zu wissen: Er sagt: „Watch it now, he get ’cha.“

[ii] Dies in Erinnerung an den kritischen Juristen, großen Rockmusikkenner und leidenschaftlichen Rockmusikhörer Josef Hoffmann: Popmusik, Pubertät, Narzissmus. In: Psyche H.11, 1988 (42. Jg.), S. 961-980.

 

Bildquelle: SilkTorkderivative work: SilkTork, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

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