Die AfD will „neue Zielgruppen“ erschließen. Im Entwurf für das Wahlprogramm sind neben den Standardparolen gegen EU und Euro, Zuwanderung und Islam, sowie gegen die verhassten „Altparteien“ einige Aussagen untergebracht, die sie als Sachwalter der Interessen von Arbeitern und Angestellten erscheinen lassen sollen.
Der Ort war nicht zufällig gewählt. Im Essener Norden startete die NRW-AfD am vorigen Samstag in den Landtagswahlkampf. Die beiden Bundeschefs Frauke Petry und Jörg Meuthen sprachen, der Landesvorsitzende und Spitzenkandidat Marcus Pretzell und auch der Lokalmatador und örtliche Landtagskandidat Guido Reil. Nicht im eingeschwärzten Sauerland, nicht im Münsterland oder im ländlichen Teil Ostwestfalens wird sich bei der Wahl am 14. Mai das Schicksal der AfD entscheiden, sondern hier, in der von Strukturkrisen gebeutelten Region, die man zuweilen immer noch den „Pott“ nennt.
„Ruhrgebiet wird zum Marzahn Nordrhein-Westfalens“, jubelte Pretzell im Spätsommer vergangenen Jahres, als die Berliner bei der Abgeordnetenhauswahl die AfD gerade in den sozial schwächeren Quartieren im Osten der Stadt mit besonders üppigen Ergebnissen ausgestattet hatten. Ginge es nach Pretzell, soll sich Ähnliches in fünf Wochen an der Ruhr wiederholen. Helfen soll dabei einer wie Reil, immer noch Mitglied der IG Bergbau, Chemie, Energie und bis vor einem Jahr Inhaber eines SPD-Parteibuchs.
Rechtspopulistischer Glücksfall
Reils rechtspopulistisches Eigen-Outing war ein Glücksfall für die AfD. Die Medien stürzten sich auf den Ex-Sozi, der durch die TV-Studios zog und dem seitenlange Porträts gewidmet wurden. Mittlerweile dürfte er nach Pretzell der zweitbekannteste AfD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen sein. Alt-AfDler, die anfangs mit dem Quereinsteiger fremdelten, freundeten sich schließlich mit der Vorstellung an, dass da einer, der erst vor wenigen Monaten zu ihnen gestoßen war, karrieretechnisch an ihnen vorbeizog. Sie wählten ihn schließlich auf ihre Liste zur Landtagswahl, wenn auch auf einen hinteren Platz.
Nur zwei der acht Plakate, die die Partei in den nächsten Wochen NRW-weit kleben will, werben für Personen: Eines zeigt den Spitzenkandidaten Pretzell, das andere Reil. „Vertritt die Interessen der kleinen Leute, statt sie zu verraten“, steht über seinem Bild – und daneben: „Guido Reil, 26 Jahre bei der SPD, jetzt bei uns“. „Primäres Ziel“ der Plakatkampagne sei „die Erschließung neuer Zielgruppen“, verriet die Partei.
„Fruchtbares Terrain“ Ruhrgebiet
In einem Anfang des Jahres bekannt gewordenen Strategiepapier für das Wahljahr 2017 hatte die AfD neben anderen Adressaten ihrer Politik auch zwei Gruppen von Arbeitnehmern besonders in den Blick genommen. Einmal „leistungsorientierte Arbeitnehmer“ mit „liberal-konservativer Werteorientierung“, die einem „rot-grün dominierten Zeitgeist der Beliebigkeit und der Multikulti-Ideologie kritisch bis ablehnend“ gegenüberstünden. Und zum anderen: „Bürger mit unterdurchschnittlichem Einkommen (,kleine Leute‘) in sog. ,prekären Stadtteilen‘, die sich dem dortigen Trend zur Ausnutzung von staatlichen Transferleistungen und zur Verwahrlosung entgegenstellen, sich zu konservativen Werten wie Leistungsbereitschaft, Ordnung, Sicherheit und Patriotismus bekennen, sich von den Altparteien nicht ernst genommen und außerdem als Verlierer der Globalisierung fühlen.“
Besonders (frühere) Wähler von SPD und Linken nimmt die AfD in den Blick: „Ostdeutschland sowie westdeutsche Industriegebiete, vor allem auch im Ruhrgebiet, wo die SPD noch überdurchschnittlich gute Wahlergebnisse erzielt und bislang eine enge Bindung an die Arbeiterschaft und an das Kleinbürgertum hatte, erweisen sich zunehmend als fruchtbares Terrain für die AfD.“
„Kleine Leute“ als Zielgruppe
Die AfD folgt hier dem Beispiel rechtspopulistischer Politiker in Europa, aber auch Donald Trumps in den USA. Die niederländische Partij voor de Vrijheid unter ihrem Vorsitzenden Geert Wilders versuchte vor der Parlamentswahl im März, insbesondere mit Äußerungen zum Renteneintrittsalter und zur Eigenbeteiligung im Gesundheitswesen in der Arbeitnehmerschaft zu punkten. Marine Le Pen, Chefin des Front National (FN), plädiert im französischen Präsidentschaftswahlkampf für eine Aufstockung niedriger Gehälter und Renten, finanziert durch eine dreiprozentige Sondersteuer auf importierte Waren und Dienstleistungen. Donald Trump schaffte es, im „Rust Belt“ Arbeitnehmer auf seine Seite zu ziehen.
Dem im Strategiepapier beschriebenen Ansatz, die „kleinen Leute“ als Zielgruppe anzuvisieren, hatte einige personelle Entscheidungen zur Folge. Einer wie Reil ist dabei die passende Person zur Strategie. Der Ex-Sozialdemokrat, bei der „Alternativen Vereinigung der Arbeitnehmer“ (AVA) mittlerweile zum NRW-Vorsitzenden aufgestiegen, kandidiert auf Platz 26 der AfD-Liste zur Landtagswahl. Der AVA-Bundesvorsitzende Uwe Witt könnte dank Listenplatz 13 im September den Sprung in den Bundestag schaffen.
„Neue soziale Heimatpartei“
Längst greifen nicht mehr nur die selbst ernannten „Arbeitnehmervertreter“ in der AfD häufiger sozialpolitische Themen auf. So wurde Ende März Martin Reichardt als Spitzenkandidat der sachsen-anhaltinischen AfD bei der Bundestagswahl nominiert. In seiner Bewerbungsrede versprach er, er werde sich für an den Rand gedrängte Menschen einsetzen. Agenda 2010 und Hartz IV nannte er „politische Verbrechen“. Die AfD sei hingegen „die Partei der Deutschen“, so Reichardt: „In einigen Jahren werden wir die deutsche Volkspartei sein.“ Andreas Kalbitz, seit Samstag neuer Landeschef in Brandenburg, definiert die AfD bereits als „neue soziale Heimatpartei“.
In ihren Entwurf für ein Programm der AfD zur Bundestagswahl haben die Autoren neben den Standardparolen gegen EU und Euro, gegen Zuwanderung und Islam, gegen „Genderismus“ und die verhassten „Altparteien“ ein paar Aussagen untergebracht, die sie als Sachwalter der Interessen von Arbeitern und Angestellten erscheinen lassen sollen. Demnach ist die AfD jetzt für den Mindestlohn, für weniger Leih- und Werkarbeit, für eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, unter sehr engen Voraussetzungen auch für eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds 1 und höhere Sätze beim ALG 2. Das alles ändert nichts am nationalistischen und auf Ausgrenzung abzielenden Charakter der AfD, soll aber als Lockmittel für die angepeilte „Erschließung neuer Zielgruppen“ dienen.
Demonstrationen und „Großkundgebung“ zum 1. Mai
Die angeblichen „Arbeitnehmervereinigungen“ in der Partei zeigen sich derweil selbstbewusster als in der Vergangenheit. Bisher gibt es drei solche Gruppen: die „Arbeitnehmer in der AfD“ (AidA), die es bereits zu Bernd Luckes Zeiten gab und die nun mit einer „Alternative öffentlicher Dienst“ (AöD) zusammenarbeiten, und jene „Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer“ von Uwe Witt und Guido Reil. Alle drei hatten bislang eines gemeinsam: den völligen Mangel an Einfluss in der Partei.
Nun planen sie aber Großes. AidA hat zum 1. Mai eine Demonstration in Hamburg angemeldet. Angeblich sollen 2000 Anhänger kommen. Ernst nehmen muss man solche Zahlenangaben angesichts der schwachbrüstigen Organisation nicht. Die AVA will freilich hinter der Konkurrenz nicht zurückstehen und zog mit der Anmeldung einer eigenen „Großkundgebung“ in Düsseldorf nach.
Gut möglich, dass aus den bisher drei AfD-„Arbeitnehmerorganisationen“ am 1. Mai sogar vier werden. Denn auch die AfD Thüringen von Partei-Rechtsaußen Björn Höcke ruft zu einer Demonstration am Tag der Arbeit auf. In Erfurt soll sie stattfinden. Dort wird es auch um die Gründung eines „Alternativen Arbeitnehmerverbands Mitteldeutschland“ gehen, der auf die Kurzbezeichnung „ALARM!“ hört. „Sozial ohne rot zu werden“ soll das Motto der Veranstaltung sein. Der Spruch ist nicht neu. Einst warben die Republikaner mit diesem Slogan für sich.
Erstveröffentlichung in „blick nach rechts„, 11.4.2017
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