„Es wird nicht mehr zurückgeschossen“, nannte der ehemalige ZDF-Chefredakteur Reinhard Appel sein Buch, das 1995 erschien, und in dem er viele Zeitzeugen über ihre Erinnerungen an das Kriegsende 1945 berichten ließ. Heute, 75 Jahre danach, wird in vielen Zeitungen an diese Zeit erinnert, als der Krieg, den Nazi-Deutschland in die Welt getragen hatte mit Tod und Verwüstungen ohnegleichen, mit voller Wucht nach Deutschland zurückkam und vieles zerstörte. Tausende und Abertausende von Menschen kamen in den letzten Kriegswochen noch ums Leben, deutsche Städte wurden von den Bomben der Alliierten in Ruinenfelder verwandelt.
Der Leser des Buchs findet darin u.a. Beiträge von Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, von Erich Loest, dem Schriftsteller, von Fritz Walter, dem legendären Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, die 1954 Weltmeister wurde, von Helmut Schmidt, dem späteren Kanzler, seinem Nachfolger im Amt, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow äußerte sich zum Kriegsende, Walter Scheel, der spätere Außenminister der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Bundespräsident.
Für mich ist der Beitrag von Reinhard Appel interessant, weil sein Thema später noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Appel, ein Pimpf in HJ-Uniform, wollte wie viele seiner Zeitgenossen in seinem Alter seine Heimat verteidigen gegen die Russen, wie er das aufgeschrieben hat. Die Jungs hatten ja keine Ahnung, wie es wirklich stand um Deutschland, sie wussten nicht, dass der Krieg verloren war. Die Hitlerjugend war zur Verteidigung Berlins vorgesehen, eine Hitlerjugend, in der viele nie zuvor ein Gewehr in der Hand gehalten hatten, sollte nun gegen die Rote Armee die alte Reichshauptstadt verteidigen, mit Mann und Maus. Und natürlich hatte er sich freiwillig gemeldet, das war damals so.
Flammender Durchhalteappel
Mitte März 1945, schreibt Appel, sei ihre Einheit zu einer Abendveranstaltung in den großen Saal der Sportakademie des Reichssportfeldes geführt worden, zusammen mit einem Volkssturmbataillon, das ebenfalls im Reichssportfeld ausgebildet worden sei. Chef der Volkssturmeinheit sei ein gewisser Sportführer Karl Ritter von Halt gewesen, ein Funktionär des Olympischen Komitees und erfolgreicher Sportsmann. Das herausragende Ereignis des Abends sei eine flammende Rede von Carl Diem gewesen. Diem war ein Sportwissenschaftler, der bei der Organisation der Olympischen Spiele 1936 in Berlin eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Diem habe 1936, in Erinnerung an die Spiele im antiken Griechenland, den olympischen Fackellauf eingeführt, er war ein Sportführer mit großem Renommee, schreibt Appel, und gerade für die Pimpfe in Uniform eine große Autorität. Und dieser Carl Diem habe in seiner Rede voller Pathos an das tapfere Volk von Sparta erinnert, um die Lage Berlins in seiner Umklammerung zu beschreiben und quasi Berlin mit Sparta zu vergleichen. „Unzweideutig appellierte er an uns, den Opfergang für das Vaterland, auch im Bewusstsein möglicher Unterlegenheit, wie einst die Spartaner nicht zu scheuen“, so Appel und zitiert dann wörtlich Diem:“ Wenn die Perser mit ihren Pfeilen die Erde verfinstern, werden wir im Schatten kämpfen“. So lautete der Satz, der die Hitler-Jugend für den aussichtslosen Endkampf, wenige Wochen vor der Kapitulation, motivieren sollte. „Wunderbar ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland fällt.“ Appel fühlte sich später an Goebbels Aufruf im Sportpalast erinnert: Wollt Ihr den totalen Krieg? Für Diem war „der Krieg der vornehmste und ursprünglichste Sport“. Man schüttelt darüber nur den Kopf, dass so einer über Jahrzehnte Vorbild für den Sport sein konnte.
Reinhard Appel(er ist 2011 gestorben) hat den Krieg glücklicherweise überlebt. Das Ereignis aus dem März 1945 wurde ihm wieder bewusst 1984, als er als Chefredakteur des ZDF in einer Berliner Sportakademie über die Weiterentwicklung der Olympischen Spiele referieren sollte. Da stieß er auf den Namen von Carl Diem, dessen Name eng mit der Kölner Sporthochschule zusammenenhing. Diem hatte auch im Nachkriegsdeutschland eine herausragende Rolle gespielt, viele Ehrungen erfahren, gerade so, als sei vorher nichts gewesen. Und Appel leitete, wie er in dem erwähnten Buch schilderte, sein Referat ein mit dem Durchhalteappel von Carl Diem, aber nicht anklagend, sondern weil er wissen wollte, ob denn dieser Herr Diem über seine Rolle gegen Ende des Krieges nachgedacht und ob sich die Sportwissenschaft mit der moralischen Verantwortung sportlicher Aktivitäten für kriegerische Zwecke auseinandergesetzt habe. Aber natürlich nicht. Von öffentlicher Reue Diems ist nichts bekannt, von ernsthaften Zweifeln von Historikern an Diems Rolle im Nationalsozialismus auch nichts. Diem, ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz, leitete die Sporthochschule in Köln bis zu seinem Tod 1962. Die Deutsche Sporthochschule Köln – bislang die einzige Sportuniversität Deutschlands – hat ihrem Sitz „Am Sportplatz Müngersdorf 6“. Bis 2008 hieß diese Adresse „Carl-Diem-Weg 6“. Gegen die Umbenennung der Strasse aufgrund der kriegerischer Nazi-Parolen von Carl Diem prozessierte damals das Rektorat, unterlag aber vor Gericht. Allerdings wird in der Anfahrtsbeschreibung der Sporthochschule bis heute auf die alte Adresse verwiesen. Auch ein Statement.
Das braune Netz, das Buch gleichen Namens des SZ-Reporters Willi Winkler, hatte auch den Sport in seinen Fängen.