Der Mensch ist ein soziales Wesen und auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen. Isolierende Maßnahmen, die dem Schutz der körperlichen Gesundheit dienen sollen, können seelisch krank machen. In der Corona-Krise kommt es daher nicht nur auf die Ratschläge von Virologen und Wirtschaftswissenschaftlern an. Die Politik muss zur Bewältigung der Krise auch die Erkenntnisse von Soziologen und Psychologen berücksichtigen.
Regelmäßig zu Weihnachten häufen sich Notrufe wegen häuslicher Gewalt. Schon wenige ruhige Tage im Jahr, an denen Familien auf sich selbst zurückgeworfen sind, stellen eine unerträgliche Stresssituation dar. Konflikte eskalieren, Kinder und Mütter sind der Gefahr von Misshandlung und Schlägen ausgesetzt. Die Frauenhäuser sind alarmiert. Sie befürchten, dass häusliche Isolation über Wochen oder Monate die Gewalttätigkeit hinter der Wohnungstür dramatisch ansteigen lässt.
Anlass zur Sorge gibt auch die Einsamkeit. Die Zahl der Alleinlebenden wächst seit Jahren, die Krisensituation kann auch für sie eine besondere Belastung bedeuten. Ältere Menschen, die ohne Angehörige leben, büßen ihre letzten verbliebenen sozialen Kontakte ein. Mit den Begegnungen beim Einkaufen oder beim Seniorennachmittag gehen die wenigen persönlichen Gespräche verloren. In der vollkommen neuartigen Krise fehlt das wichtigste Korrektiv, das vor dem Überhandnehmen der Angst schützt.
Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe stellt ihr Online-Programm „iFightDepression“ vorübergehend frei zugänglich, um Erkrankten Hilfestellung im Alltag zu bieten. Psychologen mehrerer Universitäten geben online Empfehlungen, wie sich Phasen in Quarantäne psychisch überstehen lassen. Prof. Dr. Stephan Mühlig von der TU Chemnitz beispielsweise spricht von einem „Lagerkoller“ und nennt zehn Empfehlungen, die davor schützen.
Der Haken: die Tipps sind längst nicht für alle Menschen gleichermaßen hilfreich. Gesundheit ist hierzulande eng mit Wohlstand und Bildung verknüpft. Armut macht krank und verkürzt die Lebenserwartung. Die Verknüpfung gilt auch in der Krise. Unter benachteiligten Lebensbedingungen scheitert die Selbsthilfe.
Eine Empfehlung von Mühlig (und vielen anderen Psychologen) lautet, den Tagesrhythmus beizubehalten. Eine regelmäßige Tagesstruktur begünstigt die emotionale Stabilität. Für eine berufstätige Alleinerziehende ist das leichter gesagt als getan. Die akute Doppelbelastung zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung in der eigenen Wohnung lässt sich kaum stressfrei und kindgerecht bewältigen. Der Psychologe appelliert an Arbeitgeber und Vorgesetzte, Verständnis zu zeigen und Zugeständnisse an die Arbeitsleistung der Mitarbeiterinnen zu machen.
Raus an die frische Luft, lautet eine weitere Empfehlung. Bewegung und frische Luft kommt der körperlichen wie der psychischen Gesundheit zugute, das Immunsystem wird angeregt. Auch sportliche Betätigung im eigenen Zuhause trägt zur Gesunderhaltung bei und verbessert die Lebensqualität. Familien im Eigenheim mit eigenem Garten kriegen das hin, in einer beengten Mietwohnung in der Stadt haben Eltern und Kinder kaum eine Chance.
Das gleiche Problem ergibt sich bei dem Bemühen, eine gute Balance zwischen Zusammensein und Für-sich-sein-Können zu finden. Die eigene Privatsphäre zu schützen und die der anderen zu respektieren, jedem Rückzugsräume zu schaffen. Wenn alle mehr Rücksicht aufeinander nehmen, gibt es weniger Anlass zum Streit, sagt der Psychologe. Und wenn man sich nicht aus dem Weg gehen kann? Dann sollte man Konflikte vermeiden oder schnell regeln.
Die Verlagerung des Schulunterrichts in die häusliche Umgebung verschärft das Problem, dass Kinder aus finanzschwachen und weniger bildungsbeflissenen Familien in unserem Bildungssystem schlechtere Aussichten auf schulischen Erfolg haben. Fällt die Schule komplett aus und die Kinder sind im Homeschooling auf sich selbst gestellt, wirken sich die ungünstigen Faktoren umso spürbarer aus.
An der Universität Leipzig wird jetzt ein Forschungsinstitut für gesellschaftlichen Zusammenhalt gegründet. Der Sozialpsychologe Prof. Dr. Immo Fritsche ist Mitglied und beschreibt die möglichen Auswirkungen der Corona-Krise nicht nur auf die individuelle psychische Gesundheit, sondern auch auf unser Sozialleben: Ob wir uns sozial eingebunden fühlen, bestimmt auch, wie gut wir mit persönlichen Krisensituationen umgehen und uns von ihnen erholen können. Er meint:
„Das Gefühl, wichtiger Teil einer Familie, einer Hausgemeinschaft oder auch einer Gesellschaft zu sein, ist nicht primär davon abhängig, wie viele physische Kontakte ich tatsächlich im Alltag habe. Es kommt eher darauf an, ob ich Zusammenhalt und Solidarität in einer solchen Gemeinschaft wahrnehme und ob ich im Notfall darauf zählen kann, dass mir eine Nachbarin Einkäufe mitbringt.“
Für Personen, die sich selbst als sozial randständig oder gar ausgeschlossen wahrnehmen, sei die Lage schwieriger. „Auf diese Personen sollten wir Einzelnen im Alltag ein Auge haben, aber auch öffentliche Fürsorge- und Beratungssysteme dürfen in dieser Situation auf keinen Fall einknicken.“
Fritsche beschreibt die Gefahr, dass bei langanhaltenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens wichtige soziale Netzwerkstrukturen für Menschen irreparabel verlorengehen. Dies betrifft insbesondere den beruflichen Bereich, wenn durch die Krise der Arbeitsplatz verlorengeht oder das eigene Kleinunternehmen scheitert. Das ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen schlimm für Menschen, sondern vor allem wegen des Verlusts persönlicher Sinnhaftigkeit, sozialer Eingebundenheit und sozialen „Standings“.
Er warnt vor dem zunehmenden Risiko sozialer Konflikte, wenn Gefühle persönlicher Bedrohung und Hilflosigkeit zunehmen. Während die Solidarität in der eigenen Gruppe wachse, sinke die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten und Andersdenkenden. Menschen neigen dann stärker dazu, Angehörige anderer Gruppen abzuwerten und zu diskriminieren. Fritsche: „Wir alle sollten im Alltag darauf achten, dass diese unbewussten und automatischen feindseligen Reaktionen auf Bedrohung uns nicht beherrschen.“
Der Angstforscher Prof. Dr. Georg W. Alpers von der Universität Mannheim äußert sich zuversichtlich: „Für viele Menschen gibt es jetzt nur ein gemeinsames Ziel: bestmöglich durch die Krise zu manövrieren. Man beobachtet immer wieder, dass Menschen in bedrohlichen Situationen über sich hinauswachsen.“ Die ganze Gesellschaft stehe vor einer großen Unbekannten. „Die Bedrohung lauert unmittelbar vor unserer Haustür – ohne, dass wir sie konkret sehen können.“
Zugleich weist auch Alpers auf die Menschen hin, die in Krisen „ganz niedergedrückt werden“: Die darf man jetzt nicht übersehen, nur weil sie vielleicht nicht so laut nach Hilfe rufen können. Tragisch ist, dass es jetzt mit den Kontaktverboten viel schwieriger ist, diese Menschen zu erreichen.“
- Telefonseelsorge 0800/ 1110111 oder 0800/ 1110222
- Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen 0800/ 116016
- Kinder- und Jugendtelefon 116111
- Infotelefon Depression 0800/ 3344533
Bildquelle: Pixabay, Bild von Gerd Altmann(geralt), auf Pixabay License