Man muss nicht den Aussagen von Forsa-Chef Manfred Güllner folgen, um auf die Misere der einstigen Volkspartei SPD hinzuweisen. Es reicht ein Überblick über den Stand der Meinungsumfragen in Deutschland, der tief blicken lässt. Beispiel NRW, wo die SPD von 1966 bis 2005 regiert hatte: Im bevölkerungsreichsten Land an Rhein, Ruhr, Emscher und Lippe erreicht die SPD heute gerade noch 16 Prozent der Stimmen, würde jetzt ein neuer Landtag gewählt. Die regierende CDU mit Ministerpräsident Hendrick Wüst käme auf 41 Prozent. Heinz Kühn und Johannes Rau hießen die Sozialdemokraten, die diese SPD-Ära prägten. Wolfgang Clements Amtszeit in Düsseldorf war nur unwesentlich länger(1998 bis 2002) als die von Peer Steinbrück(2002 bis 2005) und die von Fritz Steinhoff(1956 bis 1958). Es sei noch erwähnt, dass Hannelore Kraft(2010 -2017) den CDU-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers nach nur einer Legislaturperiode ablöste, ehe sie von Armin Laschet(CDU) aus der Staatskanzlei verdrängt wurde. Jetzt ist die SPD in der Opposition, was Mist ist, warnte vor vielen Jahren der SPD-Sozi Franz Müntefering die Genossen.
Die Misere der bundesdeutschen Sozialdemokratie kann man in NRW besichtigen. Der Beobachter der politischen Lage an Rhein und Ruhr sucht fast vergeblich nach den Köpfen mit SPD-Aufschrift. Dem widerspricht nicht, dass mit Bärbel Bas eine Sozialdemokratin auf dem SPD-Parteitag in Berlin an die Spitze der ältesten deutschen Partei gewählt wird, (gleichberechtigt mit Lars Klingbeil) die aus Duisburg kommt und auf eine klassische SPD-Laufbahn zurückblickt. Bärbel Bas, das sagen die, die sie kennen, über sie, sei „eine von uns“. Ich komme aus dem Ruhrgebiet und weiß ein solches Lob einzuschätzen. Bodenständig, immer normal geblieben, auf dem Teppich eben, nie abgehoben, sie kennt die Menschen und die kennen sie. Eine von ihnen, die ihre Sprache spricht.
Aber das ist es auch schon, mehr fällt mir an Namen nicht ein, wenn ich über die SPD in NRW nachdenke. Wo sind die Kühns, die Raus, die Possers, die Heinemanns, Farthmanns, Schnoors. Und wer über die Lage der SPD räsoniert, der fragt auch nach den Köpfen der Partei im Ruhrgebiet. Dort war ihr Stammland, dort wurde ein Besenstil gewählt, wenn SPD draufstand, so ein Spruch. Der Essener Gustav Heinemann wurde 1969 Bundespräsident.
Und heute? Heute stellt die CDU z. B. die Oberbürgermeister von Essen und Oberhausen. Und wer ein paar Kilometer weiter rheinaufwärts blickt, dem fällt auf, dass die einstige SPD-Hochburg Köln von Henriette Reker regiert wird, einer parteilosen Juristin, wiedergewählt von Grünen und der CDU. In Gelsenkirchen ist die in weiten Teilen rechtsradikale AfD auf dem Vormarsch, in manchen Vierteln des Reviers stärkste Kraft.
Forsa-Chef Güllner sieht in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel „eine dramatische Ausgangslage“ für die SPD und ihren Vorsitzenden Klingbeil. Die SPD verliere kontinuierlich Wählerinnen und Wähler aus der Mitte der Bevölkerung, er vermisst eine Strategie des SPD-Chefs. Keine Aufbruchsstimmung, nirgendwo in der SPD, weder im Norden, geschweige im Süden oder Osten der Republik.
Willy Brandt und Helmut Schmidt
Man wagt gar nicht an die Zeiten von Willy Brand und Helmut Schmidt zu erinnern, Jahre, in denen aus der SPD die Volkspartei wurde. Brandt wurde verehrt, seine Politik der Aussöhnung mit dem Osten wurde zwar von der Union bis aufs Messer bekämpft, aber Brandt erhielt den Friedensnobelpreis, gewann Wahlen, er stand für die Reform der Gesellschaft, das moderne Deutschland. Brandt war der Erfinder des Satzes vom blauen Himmel über der Ruhr. Aufstieg durch Bildung, das war im Grunde revolutionäre Politik der SPD mit Brandt. Die junge Generation lag ihm zu Füßen. Die SPD avancierte zu einer Partei, die Zugang hatte zur Kultur, zu den Universitäten, zur Welt des Theaters. Und als Schmidt von Kohl gestürzt wurde in einem konstruktiven Misstrauensvotum, brach die lange Zeit der Brandt-Enkel an, so nannte man die Nachfolgerinnen und Nachfolger, wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Renate Schmidt. Dazu gab es einen Hans-Jochen Vogel als Partei- und Fraktionschef, den schon erwähnten Rau, nicht zu vergessen Egon Bahr, Hans-Jürgen Wischnewski, Peter Glotz und Holger Börner, Erhard Eppler. Oder Hans Koschnick und viele andere wahre Persönlichkeiten. Ich weiß, die waren sich nicht immer einig, Brandt, Schmidt, Herbert Wehner, haben aber die Partei nach vorn gebracht, zur Regierungspartei. Und heute?
Es fällt auf, dass die SPD seit Jahren Mitglieder verliert. Heute zählt die ehrwürdige Sozialdemokratie gerade noch 370000 oder 375000 Mitglieder. Vor 40 Jahren waren es noch knapp eine Million. Damit mag man sich abfinden, weil es ja stimmt, dass alle Vereine und Organisationen Mitglieder verlieren, das trifft die Gewerkschaften, das trifft beide Kirchen.
Bei der SPD fällt auf, dass sie ungeachtet ihrer heutigen Misere seit 1998 im Bund regiert oder mitregiert(Ausnahme: 2009-2013 Regierung CDU/CSU/FDP). Gerhard Schröder(SPD) löste 1998 den Dauer-Kanzler Helmut Kohl ab und kam auf 40,9 Prozent der Stimmen. Die SPD stellte als stärkste Fraktion sogar den Bundestagspräsidenten: Wolfgang Thierse. Vier Jahre später konnte Schröder seine Mehrheit nur noch hauchdünn verteidigen: SPD und Union kamen auf 38,5 Prozent der Stimmen, Edmund Stoiber fehlten nur ein paar Tausend Stimmen zur Kanzlerschaft. Schröder verlor dann in der vorgezogenen Wahl gegen Angela Merkel, die eine Regierung mit der SPD ohne Schröder bildete: Vizekanzler war Franz Müntefering, der Mann aus dem Sauerland, bodenständig, „einer von uns“ würden Sozialdemokraten rühmen.
Die SPD, schrieb vor Jahr und Tag ein Journalist, siege sich zu Tode. Ganz so war es nicht, aber richtig war, dass sie mit der Ausnahme von 2009 mit Angela Merkel als Kanzlerin regierte. Und diese SPD war ja auch in anderen Politik-Bereichen präsent, sie stellte immerhin drei Bundespräsidenten: Heinemann, Rau und jetzt Frank-Walter Steinmeier. Und nein, die SPD ist nicht die Partei, die es in die Opposition zieht. Man schaue in die Länder: Die SPD stellt die Ministerpräsidenten in Hamburg(Erster Bürgermeister Peter Tschenscher), in Bremen(Bürgermeister Andreas Bovenschulte), Niedersachsen(Olaf Lies), Mecklenburg-Vorpommern(Manuela Schwesig), Brandenburg(Dietmar Woidke), Rheinland-Pfalz(Alexander Schweitzer), Saarland(Anke Rehlinger). Und nicht zu vergessen, wo die SPD als Juniorpartner mitregiert: in Hessen, Berlin, Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt.
Wer diese Zusammenstellung liest, könnte meinen, die SPD stünde doch gut da. Dem halte ich die aktuellen Meinungsumfragen entgegen: in Hessen käme die SPD, würde heuer gewählt, gerade auf 13 Prozent, die CDU auf 36 Prozent, in Thüringen würden nur 8 Prozent die SPD wählen, in Brandenburg nur noch 23 vh(minus 7,9 vh), in Schwerin nur noch 21 vh(minus 18 vh), in Niedersachsen immerhin noch 25 vh, während die CDU momentan auf 30 vh käme, an der Saar hielte die SPD mit 30 vh ihre Spitzenstellung, büßte aber 13, 5 Prozent der Stimmen ein, in Rheinland-Pfalz verlöre die SPD mit 24 Prozent ihre Mehrheit(minus11,7vh) an die CDU mit 28,6 vh. Düster das -Bild der SPD in Baden-Württemberg und Bayern. Im Ländle käme die SPD auf schlichte 11,4 vh, die CDU auf 31 vh, die Grünen auf nur noch 20 vh, in München erreichte die SPD nicht mal 10 Prozent der Stimmen.
Lars Klingbeil werden die Zahlen bekannt sein, im Grunde ist die SPD nur noch in Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Saarland und vor allem in Rheinland-Pfalz einigermaßen stabil. Vor allem in Mainz wirkt die SPD noch als Volkspartei, die die breite Mitte für sich reklamiert. Rheinland-Pfalz war mal eine CDU-Domäne mit den Ministerpräsidenten Peter Altmeier, Helmut Kohl, und Bernhard Vogel, aber seit 1992 ist das Land in SPD-Hand: Rudolf Scharping, Kurt Beck, Malu Dreyer, Alexander Schweitzer regierten oder regieren das Land der Rüben, Reben und Raketen. Warum das so ist? Nah bei de Leut, nennen das Experten. Da ist was dran, man muss nur mal das schöne Land bereisen, die SPD ist dort wirklich präsent, man kennt sich. Wie sagte einst Angela Merkel: Sie kennen mich. Ist das die Lösung?
Die SPD regiert und steckt doch tief in der Krise? Darüber täuscht auch nicht hinweg, dass die Koalition im Bund unter Friedrich Merz mit 7 SPD-Ministern bestückt ist: Lars Klingbeil(Finanzen), Boris Pistorius(Verteidigung), Bärbel Bas(Arbeit), Stefanie Hubig(Justiz), Verena Hubertz(Wohnen/Bau), Carsten Schneider(Umwelt , Reem Alabali-Radovan(Entwicklungshilfe). Überrepräsentiert oder? Gut verhandelt von Klingbeil? Die SPD hat schließlich mit 16,4 vh ihr historisch schlechtestes Ergebnis erzielt. Kanzler war Olaf Scholz, Wahl-Manager aber auch und vor allem Lars Klingbeil. Wie erklärt er das Ergebnis? Und vor allem wie soll der Weg aus dieser Misere sein?
Welches Narrativ erfindet Lars Klingbeil für seine SPD, damit die Wählerinnen und Wähler wieder SPD wählen? Und nicht die AfD zum Beispiel? Friedens-Partei will, muss sie sein, auch, ganz gewiss, das gilt nicht nur für die Autoren des „Manifest“. Die SPD muss wieder Partei der Arbeit werden oder besser für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Kümmerer, da sein, wo es wehtut, stinkt, wie es Sigmar Gabriel einst gefordert hat. Ein weiter Weg. Vielleicht findet Klingbeil ja eine Idee bei Willy Brandt, er sagte in seiner ersten Regierungserklärung: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. Oder: Wir wollen mehr Demokratie wagen. Oder wie es sein Freund Kurt Kreuch ausdrückte. „Wir haben nicht die Politik gemacht, die die Gesellschaft zusammenhält“. Und: die SPD habe die kleinen Leute aus dem Blick verloren. Er frage Bärbel Bas, was das heißt. Die kennt sich aus. Ist eine von ihnen.
Und noch etwas Herr Klingbeil, Herr Pistorius: Rolf Mützenich ist kein Putin-Versteher, kein Realitätsverweigerer, er ist auch kein Militarist, das sind Sie auch nicht. Aber er ist einer, der nachdenkt, den die Partei gut braucht. Grabenkämpfe sind fehl am Platz. Deutschland braucht eine geschlossene SPD, gerade auch im Kampf für diese Demokratie und gegen die Verfassungsfeinde von der AfD.