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Hans-Jochen Vogel war ein großer Sozialdemokrat – Zum Tod des Ex-Partei- und Ex-Fraktionschefs der SPD

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
26. Juli 2020
Hans-Jochen Vogel – einen wie ihn bräuchte die SPD. Am Sonntag, 3. Februar, wird er 93 Jahre alt

Hans-Jochen Vogel ist tot, gestorben mit 94 Jahren in einem Münchner Seniorenheim. Er war einer der großen Sozialdemokraten nach dem Zweiten Weltkrieg, der letzte aus der Reihe der großen Alten in der SPD, die längst die Ahnengalerie zieren: Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner, die Troika genannt. Sie und andere wie zum Beispiel Erich Ollenhauer haben die SPD  aus der Opposition in die Regierung geführt, waren Bundeskanzler, Fraktionschefs. Wiederum andere wie Gustav Heinemann und Johannes Rau, Egon Bahr und Erhard Eppler sind zu nennen, die Bundespräsidenten waren, Minister. Und  natürlich auch  Hans-Jochen Vogel. Er war stolz, der ältesten deutschen Partei anzugehören, sie zu führen, ihr und dem Land zu dienen. Er hat gerackert für die Menschen.

Dabei war er nicht der Liebling der Massen, der Dr. Vogel, wie wir Journalisten ihn respektvoll nannten, weil er immer alles zu wissen schien, stets präsent war, nie unpünktlich. Leicht hatten es die Mitarbeiter mit einem wie ihm nicht, weil er all das, was er leistete, auch von den anderen verlangte. Der Champagner-Empfang war nie seine Sache, auch nicht hochdotierte Jobs in der Industrie, die feine Gesellschaft lag ihm nicht, das war nicht seine Welt. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, damit sich die Dinge besserten, damit es auch den anderen am unteren Ende der Tabelle besser ginge. Das war Dr. Vogel.

Er hat gelitten unter der Krise der SPD, die ja anhält trotz mehrfachen Führungswechsels. Und wenn man ihn fragte, hatte auch er keine Lösung parat, sondern eher die Empfehlung an die Genossen, ihre Pflicht zu tun. Das werde schon wieder. Ja, er glaubte an den Wiederaufstieg seiner Partei, er hatte ja den Abstieg, das Verbot, die Verfolgung durch die Nazis erlebt, er war im Krieg in Italien. Er hatte überlebt und später des öfteren an die schlimmen braunen Jahren erinnert. Er wollte, dass die Jüngeren, die das nicht erlebt und erlitten hatten, begreifen. „Mein Gott, wir haben doch eine Geschichte“, reagierte er vor Monaten auf Fragen nach der Existenzkrise der SPD. Will sagen: Wir haben schon anderes überstanden, Bismarck hat uns mit dem Sozialistengesetz verboten, wir haben ihn überlebt, der Kaiser mochte uns nicht, wir haben ihn überlebt, die Nazis haben uns verfolgt, verprügelt, eingesperrt, viele von uns umgebracht, die Kommunisten haben uns drangsaliert, die Idee der SPD hat überlebt. Die Idee: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Einsatz für die Schwächeren. Das Narrativ der SPD, das überall vermisst wird, einer wie Vogel kannte es. Und lebte es vor. 

Gegen das Vergessen, für Demokratie

Der Kampf gegen den Rechtsextremismus war seine Sache immer, weil er nicht vergessen hatte, was damals passiert war, als die Nazis an die Macht kamen und alle Rechte außer Kraft setzten, die Juden verfolgten, sie in die Konzentrationslager einsperrten, sie vergasten. Hans-Jochen Vogel hat vor Jahren einen Verein mitgegründet: „Gegen das Vergessen und für Demokratie.“ Der Verein wendet sich gegen jede Art von Extremismus und Rassismus. Es gelte, die Erfahrungen weiterzugeben, gerade heute, da die Augenzeugen weniger werden. Den jungen Menschen sagen, wo es endet, wenn Menschenrechte verletzt, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten wird, wenn Hetzparolen das Denken ersetzen. Mir sagte er mal vor vielen Jahren, als wir über die Verbrennung der Bücher durch die Nazis diskutierten: Erst brennnen Bücher, dann Menschen. Vogel erwähnte in dieser wie in anderen Gesprächen und Debatten gern das Beispiel des letzten Überlebenden der 94 SPD-Reichstagsabgeordneten, Josef Felder, mit dem er nach dem Krieg mehrfach gesprochen habe. Felder habe immer wieder mahnend erzählt, wie die Reichstags- und die vorangegangene Fraktionssitzung abgelaufen waren und er habe immer wieder die Werte der SPD herausgehoben: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Der Name  von Otto Wels fiel oft, wenn wir über die Geschichte der SPD sprachen, der Name des SPD-Chefs, der 1933 das Nein der Sozialdemokraten zum Ermächtigungsgesetz in der Kroll-Oper begründete:  „Das Leben können sie uns nehmen, die Ehre nicht.“ Die SPD war die einzige Partei, die mit Nein gestimmt hat und dies tat unter großer persönlicher Gefahr. Viele Sozialdemokraten wurden von den Nazis verfolgt, ermordet.

Die SPD-Geschichte scheint heutzutage kein Thema zu sein, obwohl die Rechtsaußen sich breit machen in Deutschland und überall in Europa, die Nationalisten und Rassisten, Fremdenfeinde und Antisemiten. Der Kampf gegen die AfD ist doch geboten, gerade für Sozialdemokraten. Oder haben sie vergessen, wie einer ihrer Großen, Willy Brandt, vor den Nazis flüchten musste nach Skandinavien und sich später manches böse, üble, verleumderische Wort von Nationalisten in Deutschland anhören musste?  Derselbe Willy Brandt fiel im Warschauer Ghetto auf die Knie und bat um Verzeihung. Schon vergessen, dass die SPD mit Willy Brandt einen Friedensnobelpreisträger in ihren Reihen hatte? Man müsse die AfD-Wähler zum Nachdenken bringen, empfahl Vogel den Parteifreunden schon vor Jahr und Tag, man dürfe sie nicht einfach alle als Neonazis bezeichnen und fünf bis sechs Millionen Wählerinnen und Wähler zur Seite schieben. Der Katholik Vogel zitierte dazu aus der Bibel, Matthäus 25: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegegen, ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen, ich war nackt und ihr habt mir etwas anzuziehen gegeben, ich war krank und ihr habt mich versorgt.“ Vogel wollte das nicht als Nächstenliebe verstanden wissen, sondern als Aufgabe des Sozialstaats, damit Menschen gar nicht erst in diese Situation geraten, also nicht hungrig und durstig und krank würden.

Disziplin, Arbeitsintensität, Genauigkeit

Hans-Jochen Vogel hatte die Geschichte seiner Partei nie vergessen. Wer ihn erlebt hat in den 70er, 80er und 90er Jahren in Bonn und Berlin oder wo auch immer in Deutschland, er hat diese Geschichte mit Stolz präsentiert. Vogel war ein streitbarer Demokrat, ein Parteisoldat, den man zu jeder Tages- und Nachtstunde hätte in jede Debatte schicken können, die Argumente hatte er immer parat, sachlich fundiert, präzise formuliert. Der Mann hatte das, was man Ahnung nennt. Er war stets vorbereitet auf den Tag X, auf den Eventualfall eines Regierungssturzes, der dann nicht eintrat. Man frage die SPD-Bundestagsabgeordneten, die unter seiner Führung als Fraktionschef der SPD im Bundestag waren. Er hatte so etwas wie ein Dezernententum geschaffen, jeder war für einen bestimmten Bereich zuständig, musste in der Lage sein, dazu an jedem Tag oder zu jeder Uhrzeit eine Rede vom Pult des Bundestages halten und dem Fach-Minister Paroli bieten zu können. Gesetzentwürfe wurden erarbeitet, die es der SPD ermöglicht hätten, zu jeder Zeit die Regierung abzulösen. Die Opposition  war die Regierung im Wartestand. Vogel nahm das ernst, die Rolle der Opposition, die Alternative zur Regierung zu sein. Mancher wird darüber gelächelt haben, über seine penible Genauigkeit, seine Disziplin, seine Arbeitsintensität. Dann war da noch die Sache mit den Klarsichthüllen, in denen die Papiere wohl geordnet waren und jederzeit hervorgeholt werden konnten.

Der Mann hat einer erstaunliche Karriere hingelegt, ohne den Gipfel erklommen zu haben, gemeint das Kanzleramt. Der Sohn eines Professors für Tierzucht und Milchwirtschaft studierte nach dem Krieg Jura. Er war kein Einserjurist, wie er im Gespräch mit Journalisten mal klargestellt hatte. Mit 34 Jahren war er der jüngste OB in Deutschland, in der heimlichen Hauptstadt München, wo es der Sozialdemokrat Vogel aber mit den Jungsozialisten nicht so leicht hatte. Die gingen mit anderen Demonstranten auf die Straße und wetterten gegen den Vietnam–Krieg, andere verlangten Aufklärung über die Nazi-Zeit. Die Jahre waren unruhig, die 68er legten sich mit Dr. Vogel an. Ich habe damals in München studiert und kann mich daran gut erinnern, wenn er mit Zornesröte den Studentinnen und Studenten entgegentrat. Dem OB gelang das Kunststück, die Olympischen Spiele nach München zu holen und die bayerische Metropole zu modernisieren und einen Teil der Verkehrsprobleme mit einem U- und S-Bahn-Netz zu entschärfen. Eine gigantische Leistung.

Dann wurde Vogel nach Bonn geholt, er wurde Bauminister im Kabinett von Willy Brandt. Nicht jeder SPD-Mann empfing ihn mit Beifall, Herbert Wehner hieß ihn als „weißblaues Arschloch“ nicht gerade willkommen. Später wurde  „Onkel Herbert“ ein Vorbild für Vogel, weil der den Karren der SPD zog. In der Regierung Schmidt wurde Vogel Justizminister, eine schwere Zeit folgte, die RAF führte eine Art Krieg gegen die Repräsentanten der Republik. Als Schmidt die Macht gegen Helmit Kohl verlor, rief die Partei nach Dr. Vogel, der sich in den wenig aussichtsreichen Kampf der Bundestagswahl 1983 warf und verlor. Später musste er in Berlin ran, weil die alte SPD-Hochburg durch Skandale von Genossen ins Wanken geraten war. Aber selbst der rechtschaffene Hans-Jochen Vogel konnte nichts ausrichten gegen Richard von Weizsäcker. Dann wurde er Partei- und Fraktionschef, gab aber beide Aufgaben freiwillig wieder ab, vielleicht weil er merkte, dass Jüngere hinter ihm standen, die Enkel-Generation von Brandt mit Engholm, Lafontaine, Scharping und Schröder. Er ging mit den Worten. „Ich bin dankbar für die Aufgaben, die mir gestellt wurden.“ Und an die Adresse der potentiellen Nachfolger fügte er hinzu: „Führen heißt dienen.“

Bequem war er nie. Interviews mit ihm zu führen, war für Zeitungs-Journalisten nicht selten eine Qual, weil er den vorgelegten Text völlig umschrieb, lediglich die Fragen ließ er unkorrigiert gelten. Ich habe ihn auf Parteitagen der SPD in Berlin erlebt, wie er dem bedrängten Kanzler Gerhard Schröder zur Seite stand und für die auch heute noch heftig umstrittenen Reformen der Agenda 2010 gefochten hat. Wie er sich vehement stemmte gegen die seiner Meinung nach vorhandene Jammerei in Teilen der Gesellschaft über die angebliche Krise des Staates. Vogel sagte, besser donnerte den Delegierten die Sätze entgegen: „Wir versündigen uns, wenn wir den Blick auf die andere Welt vergessen. 80 Prozent der Menschen wären froh, wenn sie in unserer Lage wären. “ Und noch eins sollte man bitte schön nicht vergessen, was ich auf heute fortschreibe:  „Wir haben seit 75 Jahren Frieden.“ Und doch konnte auch Vogel nicht verhindern, dass Abertausende Sozialdemokraten die Partei verließen.  

Hans-Jochen Vogel wird der SPD fehlen. Die deutsche Politik wird ihn vermissen. Er war ein leidenschaftlicher Demokrat, der dem Staat gern gedient hat. Er war ein Vorbild.

Bildquelle: Wikipedia, Bundesarchiv, B 145 Bild-F079276-0009 / Reineke, Engelbert / CC-BY-SA 3.0

 


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