Staatsraison hin oder her: Wie groß ist eigentlich der Unterschied zwischen der russischen und der israelischen Aggression gegen Nachbarländer?
Ja, natürlich, Israel wurde beständig aus den Nachbargebieten Gaza und Libanons angegriffen und am 7. Oktober Opfer einer unsäglichen Terrorattacke, gefolgt von einer unmenschlichen Geiselnahme; Russland wurde von niemandem angegriffen, sondern sein Diktator erfand Existenzbedrohungen aus der benachbarten Ukraine, um seinem Traum eines wiedererstehenden großrussischen Imperiums näherzukommen.
Trotzdem: rechtfertigt dieser Unterschied unterschiedliche Politiken gegenüber der mittlerweile unbegrenzten Aggression gegen israelische Nachbarn und Palästinenser in den besetzten Gebieten? Die Parallelität von Putins Vorgehen in der Ukraine und Netanjahus Landnahme in Gaza und Syrien wird immer bedrückender. Beide Politiker bewegen sich weit außerhalb des Völkerrechtsrahmens der Vereinten Nationen und gehören wegen ihrer persönlichen Verantwortung, ja persönlicher Täterschaft, vor internationale Tribunale wie z.B. den internationalen Gerichtshof in Den Haag. In beiden Fällen spielt die US-Regierung unter Trump eine schlimme Rolle, weil sie die brutalen Aggressionen letztlich unterstützt – im Falle der Ukraine zwar nicht total, aber kleinkrämerisch auf exakte Bezahlung für erratische Hilfe aus, im Falle Israels fast schon wie ein Vasall.
Trotzdem unterstützen wir die entfesselten aggressiven Großisraelstrategien mit Waffen und Vetos, wo immer angemessene Verurteilungen auf der internationalen Tagesordnung stehen. Während wir dabei mit Rüstung helfen, verurteilen wir in höchster moralischer Entrüstung die auf ein Großrussland zielende imperialistische Aggression in der Ukraine.
Sieht „unsere“ Politik nicht, dass es der israelischen Regierung längst um ein größeres Israel geht mit ungleichen Rechten für nichtjüdische Bewohner? Und um Siedlungs- und Vertreibungspolitiken in den eroberten Gebieten Gaza und Westbank, möglicherweise auch bald auf libanesischem und syrischem Gebiet? Geht es der israelischen Regierung nicht um die strategische Langfrist-Blockierung eines arabischen Staates in Palästina? Kann man wirklich so blind sein, nicht zu erkennen, dass hier ein Großisrael geschaffen werden soll, das nur die jüdische Identität gelten lässt und andere zu dauerhaft nachrangigen Bewohnern degradieren will, bis sie auswandern oder aussterben?
Gibt es in Europa nicht einen weitgehenden Beurteilungskonsens, dass es die juristischen Probleme des israelischen Ministerpräsidenten sind, die ihn „zwingen“, seine politische Mehrheit nicht in der Mitte der Bevölkerung und des politischen Spektrums zu suchen, sondern rechts außen in Kreisen radikaler Siedler und jüdischer Nationalisten, die Trumps Idee eines touristischen Gaza-Paradieses bejubeln?
Ist es wirklich die Sicherheit Israels – eine deutsche Staatsraison -, um die es hier geht, oder ist es nicht geradezu eine Gefährdung der längerfristigen Existenz dieses Staates in Palästina, was da im momentanen Siegesrausch bei totaler Unterstützung aus Washington jenseits des Völkerrechts und der Humanität geschieht?
Wenn wir uns an die Gründungsgeschichte des Staates Israel erinnern, so sind wir Deutsche uns sicher bewusst, dass es die Vernichtungsverbrechen deutscher Politik vor gut 80 Jahren waren, die wohl entscheidend waren, dem auch anderswo drangsalierten jüdischen Volk eine staatliche Heimstatt zu gewähren. Deshalb war die immer wiederholte Zusicherung, die Sicherheit dieses Staates sei deutsche Staatsraison voll gerechtfertigt, die sich jedoch nie auf Großisraelträume bezogen hat. Da aber am 29.11.1947 die europäischen und amerikanischen Mitglieder der Vereinten Nationen diese Heimstatt auf britischem Mandatsgebiet in Palästina gewährt haben (ohne Zustimmung Großbritanniens und arabischer Staaten und weitgehend gegen die Stimmen der wenigen UNO-Mitglieder aus Asien und Afrika), sollten wir auch die Sicherheit eines menschenwürdigen Lebens der dort beheimateten palästinensischen Bevölkerung in unsere Verantwortung einbeziehen – z.B. durch eine Erklärung, dies gehöre auch zur deutschen Staatsraison.
Die aufgezeigte Parallelität zwischen der russischen und israelischen Strategie sollte eigentlich zu gleicher Beurteilung und gleichen Reaktionen der freien Völker Europas führen, also auf Personen zielende Sanktionen und wirtschaftliche Boykottmaßnahmen, insbesondere Unterlassung von Waffenlieferungen.
Sicher sollte Deutschland gegen Israel nicht voran gehen, aber gemeinsame Maßnahmen der EU, Großbritanniens und anderer Staaten nicht behindern, solange das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967 nicht in Frage gestellt wird. Es darf aber festgestellt werden, dass die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina für die arabischen Völker eine große Zumutung war, woraus eine besondere Verantwortung der Gründungsbefürworter erwachsen ist, der arabischen Bevölkerung Palästinas zu eigenständiger Existenz und gutem Leben zu verhelfen – so wie wir auch das ukrainische Volk unterstützen.