Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil wurde auf dem Bundesparteitag abgestraft. Bei der Wahl des Vorsitzenden der SPD bekam er ohne Gegenkandidaten magere 64,9 % der abgegebenen Stimmen. Ein Drittel der Delegierten verweigerte ihm seine Zustimmung. Dass Lars Klingbeil nach der Bundestagswahl im Februar 2025 mit einem verheerenden Ergebnis für die Sozialdemokratie und im vollen Wissen darum, dass es angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse nur zu einer Koalition mit der CDU/CSU kommen kann, sich sofort die Spitzenposition für die Verhandlungen gesichert hatte, war und ist umstritten. Auch der damit verbundene Machtanspruch Klingbeils, dem Rolf Mützenich als Fraktionsvorsitzender wie auch Saskia Esken als Co-Vorsitzende der SPD weichen mussten, wird ihm nach wie vor verübelt. Doch das erklärt nicht ein Wahlergebnis mit verheerender Außenwirkung. Dieses ist eher Ausdruck von einer politischen Haltlosigkeit, die sich schon im Ergebnis des 1. Wahlgang bei der Kanzlerwahl widerspiegelte: Eine nicht allzu kleine Anzahl von Politiker:innen gefallen sich darin, unterm Tisch gegen Schienbeine zu treten, anstatt mit offenem Visier in eine politische Auseinandersetzung mit denen einzutreten, deren Wirken man für verhängnisvoll hält. Was offenbar wird: ein Niedergang einer moralisch gebundenen Haltung im streitigen politischen Diskurs und eine erschreckende inhaltliche Leere und offensichtliche Hilflosigkeit in angespannter Lage. Das Verhalten des einen Drittels der Delegierten legt aber auch die Folgen des allgemeinen Geredes von der „Verengung des Meinungskorridors“ offen. Dieses erweist sich als ein fatales Entschuldigungsmodul für mangelnde Glaubwürdigkeit.
Wenn so viele Delegierte gegen einen Vorsitzenden Lars Klingbeil votiert und ihre Stimmabgabe sicher nicht unabgesprochen vollzogen haben, dann frage ich mich: Warum hat niemand den Mumm gehabt, gegen Klingbeil zu kandidieren? Warum hat niemand eine Rede gehalten mit der Aufforderung an Lars Klingbeil, seine Kandidatur zurückzuziehen? Die Antwort ist leicht gefunden: Das hätte eine inhaltliche Positionierung vorausgesetzt, einen programmatischen Plan für sozialdemokratische Politik in den nächsten 10 Jahren. Dazu war offensichtlich niemand bereit und/oder in der Lage. Ja, die verschwommene Programmatik ist die größte Baustelle der SPD. Sie hat in den letzten Jahren auf keinem Politikfeld eine Meinungsführerschaft erringen können. Auch darum verharrte die SPD bei den Umfragen während der Ampelkoalition mit einem SPD-Kanzler Olaf Scholz über Monate bis zur Bundestagswahl bei 16 Prozent. Eine Meinungsführerschaft erreicht eine Partei aber nur, wenn sie eine Zukunftsvision für Bürger:innen entwickeln kann und von dieser eine begehbare Treppe in die Wirklichkeit zu bauen vermag.*
Dass es daran auf breiter Front mangelt, macht auch das sog. „Manifest“ deutlich. Beabsichtigt war, mit diesem eine breite Diskussion über die zukünftige sozialdemokratische Friedenspolitik zu initiieren. Doch das Papier blieb in den Denk- und Argumentationsmustern der 80er Jahre stecken. Es konnte weder der radikalen Abkehr der USA von Europa, noch der kriegerischen Abwehr Russlands gegen alle demokratischen Aufbrüche in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Rechnung tragen. Die aufbegehrenden Bevölkerungsgruppen in Ländern wie Belarus, Georgien, Moldavien sind im „Manifest“ ebenso wenig ein Thema wie eine grundlegende friedenspolitische Machtoption der Europäischen Union. Es ist auch im Blick auf die Ukraine leider nicht getan mit der Forderung nach „Diplomatie“ und Gesprächen mit Russland. Solange es der SPD nicht gelingt, zu einer neuen friedenspolitischen Vision nicht militärischer Konfliktlösungen zu gelangen, die Ausgangspunkt aller internationalen Politik sein sollte, fehlt der völlig berechtigten Kritik an den gigantischen Aufrüstungsprogrammen der Länder der EU und der NATO ihre Überzeugungskraft. So sind wir als SPD in die absurde Situation geraten, dass sich die rechtsextremistische, nationalistische, autokratieaffine AfD zusammen mit dem BSW als Friedenspartei aufspielen kann. Aus dieser Falle muss die SPD so schnell wie möglich heraus. Das wird aber nur gelingen, wenn wir als SPD
- aufhören, die unwürdige Liebedienerei eines NATO-Generalsekretärs Mark Rutte gegenüber der Trump-Vance-Bande im Weißen Haus mitzumachen und in Trump einen Verbündeten zu sehen; (wir sollten uns an die Seite des Kindes aus Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ stellen, das laut ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“ Donald Trump, vor allem seine Kumpanei mit Wladimir Putin, sind ein Verhängnis für die ganze Welt! Wie will man mit einem, der die Demokratie im eigenen Land zertrümmert, diese verteidigen?)
- im Erhalt der freiheitlichen Demokratie den wichtigsten Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und der EU sehen;
- die EU zu einem von den USA, Russland und China unabhängigen Staatenverbund ausbauen;
- eine regelbasierte Politik, die Achtung des Völkerrechtes und der Menschenrechte nicht zur Disposition stellen;
- eine von den USA und der Netanjahu-Regierung Israels unabhängige friedenspolitische Perspektive für den Nahen Osten entwickeln;
- nur die Euro-Beträge in die Rüstung zu investieren bereit sind, die zur Verteidigungsfähigkeit eines demokratischen Europas nötig sind.
Das alles erfordert eine grundlegende Erneuerung sozialdemokratischer Friedenspolitik jenseits von „Zeitenwende“ und „Kriegstüchtigkeit“. In gleicher Weise bedarf es neuer Visionen zukünftiger Sozial-, Gesellschafts- und Kulturpolitik. Hier sind Visionen für eine menschen-, zeit- und ortsnahe Lösbarkeit komplexer Aufgaben und Probleme nötig. Das setzt ein demokratisches Staatsverständnis voraus, das im Bürger und in der Bürgerin die treibende Kraft sieht. Nicht nur für ihn:sie, sondern vor allem mit ihm:ihr muss die SPD Politik machen. Darum hat sich die SPD vor allem die Frage zu stellen: Mit welcher Programmatik können wir Bürger:innen begeistern und zum Mittun bewegen? Der Aufgaben und Herausforderungen sind genug, um aus der Not eine Tugend zu machen. Letztere bedarf aber auch einer inneren Aufrichtigkeit, eines moralischen Kompass und einer ethischen Grundorientierung eines:r jeden Sozialdemokraten und Sozialdemokratin, sollen Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit keine Worthülsen bleiben.
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* Als sehr hilfreich empfinde ich Gedanken, die der Historiker und langjährige SPD-Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen Karsten Ruldoph in einem Artikel für die Johannes-Rau-Gesellschaft geäußert hat: „Weckruf an die Linke“