Hinter Streit in Parteien stecken oft Identitäts- Differenzen. Nicht hinter jedem Streit, aber oft ist das so. Streit zwischen Herbert Wehner und Helmut Schmidt war durch unterschiedliche Lebensentwürfe, Erfahrungen, Verletzungen induziert. Der eine saß im Hotel Lux zu Moskau, fürchtete dort ums Leben; der andere musste Soldat sein in Hitlers Wehrmacht, fürchtete da ums Leben. Es war Streit hinter verschlossenen Türen und über Pressemitteilung, Interview, Hintergrundgespräch. Kommunikations-technisch gesehen eine eher überschaubare Lage, zumeist mit Ereignissen, die sich öffentlich zuordnen ließen.
Das ist heute anders. Parteien kämpfen heute in sich mit unterschiedlichen Identitäten und ihre Leute in den ersten Reihen kämpfen ebenfalls. Die Erfahrung von Not und Elend und Furcht einigt nicht mehr wie zu Zeiten der Brandt, Schmidt, Vogel und Wehner. Umso stärker trennen persönliche Aspekte: Pflicht oder Vergessen, Verantwortung oder Karriere.
Eine große Auswahl an „Waffen“ im Streit steht zur Verfügung. Nicht mehr nur die Pressemitteilung oder ein Hintergrund: Der innerparteiliche Kontrahent (die Kontrahentin) wird mit allem bearbeitet, was sich aufbieten lässt. Wer sich der vorliegenden Möglichkeiten am besten bedienen kann, hat die besten Chancen zu gewinnen.
Die Art wie der bisherige SPD-Landesvorsitzende Nordrhein-Westfalens Sebastian Hartmann ankündigte, nicht mehr für dieses Amt zu kandidieren, ist ein deutlicher Hinweis. Er schrieb an die Mitglieder seiner Partei in Nordrhein-Westfalen: „Die Berichterstattung der letzten Tage zeigte mir, dass die Phase der Bewerbung um ein Amt auf dem Landesparteitag nicht zu einem Fest des Wettbewerbs und der Demokratie, sondern zur weiteren Belastung für die Sozialdemokratie in NRW, für meine Mitarbeiter*innen, meine Familie und mich würde.“
Wer das Pathos weglässt, der findet Enttäuschung über einen Umgang in der SPD, der zerstörerisch wirkt. Wie passt das zum Mythos von der „Herzkammer der Sozialdemokratie“ und von der „roten Ruhr“?
NRW hat mit seiner Grundstoffindustrie und den großen verarbeitenden Unternehmen viele Jahre den Rest der West- Republik gezogen. Es hat ab Mitte der sechziger Jahre einen enormen Strukturwandel absolviert, der nun mit dem Ende der Kohle einen Abschluss findet.
NRW war nach seiner Gründung 1947 freilich politisch überwiegend in der Hand der CDU und darunter vor allem der katholischen Arbeiterbewegung. Das Ende kam mit dem langen Sterben von Kohle und Stahl: „Denn das war das Elixier des sozialdemokratischen Erfolgs in diesem Industriegebiet der Auflösung des Ab- und Umbruchs“, schrieb der Sozialwissenschaftler Franz Walter 2008: „Die Sozialdemokraten versprachen nicht die neue Gesellschaft, keine rote Zukunft; sie versprachen lediglich, sich verlässlich zu kümmern.“
Es war ein erfolgreiches „kümmern“: Während der 73 Lebensjahre NRWs hat die SPD 48 Jahre lang den oder die Ministerpräsidentin gestellt. Zwei knappe Jahre von 1956 bis 1958 mit Fritz Steinhoff, dann ab 1966 bis 2005 und wieder ab 2010.
Das Land war immer noch ökonomisch stark. Die SPD bot zur Bewältigung des industriellen Umbaus und zum Aufbau von Dienstleistung herausragende Leute auf. Aber in dieser Zeit hat die NRW- Sozialdemokratie den Strukturwandel von der Arbeiterpartei in eine Partei mehr und mehr links-liberal- bürgerlich- grünen Zuschnitts nicht verkraftet. Sie hat ihre inneren Widersprüche nicht gelöst. Und heute reagiert sie nur ungenügend und teils ablehnend auf die Entstehung einer neuen, faktischen Arbeiterklasse im weiten Feld der schlecht bezahlten Dienstleistung. Die Partei hat einen durchaus bürgerlichen grünen Teil, einen Flügel, der sich um Belange gesellschaftlicher Minderheiten kümmert und einen an Einfluss einbüßenden Sozial-Flügel.
Hartmann, der erst 2018 auf Drängen anderer den Landesvorsitz übernommen hatte, nachdem die seit 2010 regierenden Sozialdemokraten davon gejagt worden waren, gehört zu denen, die diese prekäre Lage der NRW- SPD begriffen hatten. Er entwickelte ein neues Profil. Er hatte aber viele der immer noch Mitglieder- starken lokalen Unterbezirke nicht hinter sich. Er konnte auch nicht verhindern, dass sich in der SPD-Landtagsfraktion ein Einflusszentrum aus teils 2017 Abgewählten entwickelte, die für den Niedergang der SPD verantwortlich sind. Zu denen gehört der Essener Landtagsabgeordnete Thomas Kutschaty. Während seiner Zeit als Unterbezirksvorsitzender hat sich die lokale Zustimmung zur SPD praktisch halbiert. Als Landesjustizminister glänzte er nach der schrecklichen Silvesternacht von Köln 2015 durch Abwesenheit. Die Sache ist tragisch und irgendwie komisch; wie im realen Leben: Die SPD musste bereits nach der Kommunalwahl 1999 in eine „kleinere Wohnung“ umziehen. So etwas ergibt Streit. Nach der Landtagswahl 2017 wurde die Wohnung erneut kleiner. Und nun fragen sie mal, wer entscheiden will, wer im Wohnzimmer sitzen darf?
Bildquelle: James Heilman, MD, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die SPD krankt nicht an der Führung sondern an ihren Mitgliedern. Menschen aus der „neuen Arbeiterschaft“ sind nicht vertreten. Vertreten sind rel. gut verdienende urbane Angestellte und Beamte die sich nicht als „Arbeiter“ wahrnehmen.
Es gibt noch einen Rest älterer Basis, aber der ist weitgehend inaktiv. Die derzeitige Führung bildet nur genau diese Zusammensetzung ab.