Birkikteyiz - Wir stehen zusammen

Mitten ins Herz

„Birkikteyiz“ steht in Türkisch auf einem kleinen Plakat, das Trauernde im Gedenken an die Opfer von Hanau an einem der Schauplätze des rassistischen Verbrechens aufgestellt haben. Übersetzt heißt das so viel wie „Wir stehen zusammen“ – und das ist am Abend nach dem Anschlag tatsächlich der Fall: Tausende Menschen sind nicht nur in Hanau zusammengekommen, um ihrer Fassungslosigkeit und Wut einen Ausdruck zu geben, sondern auch in Frankfurt, in Köln, in Berlin. Aus der Mitte der Gesellschaft heraus haben sie gemeinsam eine tiefe Solidarität mit den Betroffenen gezeigt, die alle einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Es ist eine Solidarität, die sozialen Zusammenhalt signalisiert, obwohl unser Land in Wirklichkeit doch von einer unsichtbaren Trennlinie durchzogen wird: Wer im Hinblick auf seine Herkunft optisch nicht in der großen Masse verschwindet und/oder sich offen zu Judentum oder Islam bekennt, ist immer noch – und seit der Flüchtlingskrise wieder verstärkt – mit Alltagsrassismus konfrontiert. Ob im Privat- oder Berufsleben: Auf dem Fußballplatz sind sie Beschimpfungen ausgesetzt, bei Diskussionen über „Ausländer-Kriminalität“ und in vielen anderen Situationen werden rassistische Witze gerissen, die die Betroffenen innerlich ankratzen.

Ein Gefühl der Unsicherheit

Was macht das vor allem mit jungen Leuten, die vom Pass her Deutsche sind und deren Familien vielleicht schon seit Generationen in diesem Land leben? Viele fühlen sich zugehörig, haben ihren Lebensmittelpunkt hier. Sie haben bisher kein großes Anderssein empfunden außer dem, das von außen mitunter an sie herangetragen wird. Doch dieses fragile Gleichgewicht, das u.a. wegen der NSU-Morde schon auf wackeligen Beinen stand, auf der positiven Seite aber regionale Heimatgefühle fraglos auch zuließ, ist durch den Terrorangriff von Hanau so tiefgreifend erschüttert wie niemals zuvor. Was in den migrantischen Kommunitys kurz nach der Hanauer Horrortat vorherrscht, das sind neben blanker Trauer auch Ratlosigkeit, Angst und Wut. Es ist das Gefühl, sich auf allen profanen Wegen nicht mehr sicher zu fühlen, sogar in vermeintlich geschützten Situationen wie beim Besuch einer Shisha-Bar auf der Hut sein zu müssen. Dieser maximale Akt der Menschenverachtung wird auch dazu führen, dass vor allem die jungen Erwachsenen, die ins Herz ihres Daseins getroffen wurden, noch mehr unter sich bleiben werden. Ihr Vertrauen in die Politik wird weiter nachlassen, und durch die Polizei fühlen sie sich ab sofort noch viel weniger geschützt, als das bisher schon der Fall war. Manche werden daran denken, das Land zu verlassen, andere werden einfach nur öffentliche Plätze in Zukunft meiden, wieder andere in Reaktion auf die generell zunehmenden Anfeindungen verstärkt auch selbst Aggressionen entwickeln. Er erzeugt Wut, wenn man erfährt, dass der Attentäter von Hanau den deutschen Behörden offenbar bekannt gewesen sein soll. Für so manchen Beobachter sind dabei die Parallelen zum rechtsextremen Mord an Walter Lübcke und zum NSU unverkennbar.

Ein geschlossenes rassistisches Weltbild

In eine völlig falsche Richtung läuft da der Versuch, die rassistische Gesinnung des Täters von Hanau im Verhältnis zu seiner angeblichen psychischen Großstörung zu marginalisieren. In den Herkunftsländern der Betroffenen wurde diese Tendenz sehr wohl und auch sehr schnell registriert und kommt gar nicht gut an. Zumal – aufgrund des meist fehlenden Insiderwissens hinsichtlich der deutschen Medienlandschaft kann im Ausland zwischen seriösen und populistischen Quellen nicht so genau unterschieden werden. Was ankommt, das ist zunächst einmal immer das, was am lautesten hinausposaunt wird! Und das ist fatal: Denn von Deutschland erwartet die Welt eine besondere Verantwortung im Hinblick auf alles, was mit Rassismus/Antisemitismus zu tun hat. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Zahl rechter Straftaten wieder ansteigt – 25 Jahre nach den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen ist rechter Hass erneut alltäglich geworden. Seit 1990 wurden nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung mindestens 178 Menschen von Rechtsradikalen umgebracht, und die Zahlen steigen wieder an. 

Der Anschlag in den sozialen Medien

Und was passierte in den Stunden und Tagen direkt nach dem Anschlag in den sozialen Netzwerken, vor allem auf Facebook und Twitter? Zwar zeigten das offizielle Deutschland mit all seinen Institutionen sowie auch Politikerinnen und Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens proaktiv ihre Anteilnahme. Doch im privaten Bereich blieb es auffallend ruhig. Gingen bei zurückliegenden islamistischen Anschlägen stets Spruchbilder wie „Je suis Paris“ oder „Je suis Berlin“ viral, so hat es im Falle von Hanau zwar vergleichbare Memes gegeben, jedoch war deren Verbreitung kein Selbstläufer, der sich als Massenphänomen einstufen ließe. Vermutlich aus Scham haben die meisten biodeutschen Demokraten entweder gar nichts gepostet oder sie sind sofort in eine nüchterne analytische Betrachtung verfallen, während es für den ein oder anderen Freund mit Migrationshintergrund vielleicht wichtig gewesen wäre, vermehrte Zeichen der Solidarität auch auf privaten Seiten im Netz zu entdecken. Das hätten helfen können, die ersten Tränen zu trocknen, den Schock auszuhalten. Wirklich beschämend ist die nicht von der Hand zu weisende Annahme, dass die Reaktionen im Ganzen wohl auch deshalb so bescheiden ausfielen, weil hierzulande viele Menschen mit Sisha-Bars und der dortigen Klientel nicht viel zu tun haben. Das war bei  Anschlägen wie in Paris und Berlin völlig anders, denn den Besuchern eines Rock-Konzerts oder eines Weihnachtsmarktes fühlt die Masse sich nahe, mit großem Pech hätte es einen auch selbst treffen können. Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die afd-nahe Facebook-Szene. Aus politischem Kalkül wurde das Thema dort entweder totgeschwiegen oder es wurde, wie schon beschrieben, auf die Geistesverfassung des Täters angespielt. Durch rechtsbraune Echokammern geistert derweilen eine neu erfundene Verschwörungstheorie, die behauptet, die arabische Mafia stecke hinter dem Anschlag. Dies alles sind keine erfreulichen Entwicklungen. Vom deutschen Staat und seiner Art, mit dem Geschehenen umzugehen, wird der Erhalt einer friedlichen interkulturellen Gesellschaft in einem hohen Maße mit abhängen: Nicht zuletzt wird die migrantische Bevölkerung nach mehr Sicherheit rufen, und sie wird auch erwarten, dass wir dem Rechtsextremismus noch deutlicher den Kampf ansagen als das bisher der Fall war. Die auf Marktplätzen kurz aufscheinende Solidarität darf also nicht zwei Tage später wieder vorbei sein! Und endlich müssen Konsequenzen zu sehen sein: Das sind wir Ferhat, Sedat, Gökhan und all den anderen, die in Hanau und anderswo ihr Leben verloren haben, auch schuldig.

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Gül Keskinler lebt seit einigen Jahrzehnten in Deutschland. Die „Deutsch-Türkin“ ist Chefin der Agentur für Interkulturelle Kompetenz EKIP in Köln, die Konzepte für Bildung, Qualifizierung und Kompetenzerweiterung entwickelt und umsetzt. 2006 - 2016 ehrenamtliche DFB-Integrationsbeauftragte.


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