Wie konnte es zu diesem Versuch der Selbstzerstörung des studentischen Dachverbandes kommen?
Warum sollte gegen Ende des Jahres 1969 ein zwanzig Jahre zuvor gegründeter studentischer Dachverband einfach „liquidiert“ werden? Ein Verband mit zu diesem Zeitpunkt über 100 Mitgliedshochschulen, bis dahin mit einem Jahresetat von beachtlichen eineinhalb Millionen D-Mark (davon 800.000 DM Bundeszuschüsse und etwa 700.000 DM Mitgliedsbeiträge der örtlichen Studentenschaften); eine Organisation mit einstmals 25 Angestellten, einem angemieteten dreigeschossigen Bürotrakt mitten in Bonn; ein Interessensverband, der in allen einschlägigen Bildungsgremien vertreten war, dessen Mitgliederversammlungen dereinst noch Bundeskanzler Ludwig Erhard persönlich besuchte und für dessen Broschüren Bundespräsident Heinrich Lübke Grußworte geschrieben hat. Auf den Mitgliederversammlungen waren Journalisten aller renommierten Medien und Repräsentanten von Parteien und Ministerien vertreten.
Um das einigermaßen nachvollziehbar zu machen, muss man ein Streiflicht auf die Geschichte des VDS und parallel dazu einen Blick auf die Entwicklung der Studentenbewegung werfen.
Der 1949 als Dachverband der (damals nur Universitäts-)Studentenschaften in den Westzonen und in West-Berlin gegründete „Verband Deutscher Studentenschaften“ (VDS) war bis in die Mitte der sechziger Jahre, ähnlich wie die Repräsentanz der Rektoren in der Westdeutsche Hochschulrektorenkonferenz, ein an die Tradition der Weimarer Zeit anknüpfender studentischer Interessenverband. Er nahm satzungsgemäß studentische Interessen in der Hochschul- und Bildungspolitik wahr, organisierte „wirtschaftliche Selbsthilfe“ für Studierende, pflegte „gesamtdeutsche“ und internationale Beziehungen, er vertrat die „sozialen und kulturellen Interessen“ von Studierenden, unterstützte den „Studentensport“ und förderte das „staatspolitische Bewusstsein“ der – wie der Bielefelder Soziologe Helmut Schelsky sie damals nannte – „skeptischen Generation“ der Nachkriegszeit. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf/Köln 1957
Der Studentenverband hatte zweifellos Verdienste um die Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden, also beim Krankenversicherungsschutz, beim studentischen Wohnen, bei der Einführung und Ausgestaltung des Honnefer-Stipendienmodells (dem Vorläufer des BAföG) oder beim Aufbau des Studentenwerks – dem studentischen Sozialwerk.
Der VDS betrieb Lobbypolitik und nahm – durchaus nicht ohne Erfolg – Einfluss auf die Hochschul- und Bildungspolitik, auf Studien- und Prüfungsordnungen. Er pflegte Kontakte zu Parteien und Verbänden, von der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände – mit der sogar gemeinsame Seminare durchgeführt wurden – bis hin zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
Die zahlreichen Broschüren des VDS waren nicht nur gute Handreichungen für die ständig fluktuierenden Mitglieder der ASten, sondern auch Werbemittel für die Anliegen der Studierenden mit einer breiten öffentlichen Ausstrahlung. Lobby, Publicity, Service, so könnte man die Funktionen des VDS noch bis 1968 neudeutsch zusammenfassen.
Die Verbandstätigkeit auf allen Ebenen und Gremien war ein mit staatlichem Wohlwollen und Zuschüssen begleiteter Trainingsplatz für die Einübung parlamentarischer Spielregeln und war – wie die Ahnengalerie der meist männlichen Vorstände Tissy Bruns, später Journalistin u.a. beim Stern und beim Tagesspiegel, war die einzige Frau ausweist – für viele seiner Spitzenfunktionäre durchaus ein Sprungbrett für eine weitere Karriere in Politik, Wirtschaft oder in Verbänden.
Wie überall damals im studentischen Bereich ging kaum etwas ohne die Verbindungsstudenten, vor allem vom katholischen Cartellverband (CV). Die Mehrheit der Studierenden war eben bis Mitte sechziger Jahre eher deutsch-national, konservativ oder unpolitisch, staatstragend – allenfalls moderat kritisch oder liberal, wie etwa die studentischen Proteste anlässlich der SPIEGEL-Affäre 1962 zeigten.
Ich erinnere mich noch gut an ein Treffen mit dem Vorstand des VDS, an dem ich 1966 als Bundesvorstandsmitglied des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB) teilnahm: Da saßen uns im feinen Zwirn und dem obligatorischen Bier-, Wein- oder Mensurzipfel der einschlägigen Studentenverbindungen an der Weste baumelnd, Eberhard Diepgen (CDU, später Regierender Bürgermeister von Berlin) und Uwe Janssen (SPD, später Fraktionsgeschäftsführer im bayerischen Landtag) gegenüber. Und irgendwie hatte ich – obwohl selbst Studentenfunktionär – schon damals das bedrückende Gefühl, mit diesen Kommilitonen nicht mehr sehr viel gemeinsam zu haben – weder kulturell, geschweige denn politisch. Bei dieser Begegnung war mir schon damals klar geworden, wie weit die Verbandsspitze des VDS entfernt war, von dem was sich politisch etwa an meiner damaligen Uni, der FU Berlin, tat.
Die Struktur, das Personal und die Politik des VDS blieb ab Mitte der sechziger Jahre immer weiter hinter der Entwicklung der Politisierung der Studierenden jedenfalls an den größeren Unis zurück.
Noch 1968, als die Studentenbewegung schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, war der VDS eine mehr oder weniger angepasste studentische Interessensvertretung. Der Verband gab zwar durchaus auch politische Erklärungen ab, etwa gegen Kolonialismus, Rassismus und auch gegen die Notstandsgesetze oder gegen den den Vietnamkrieg, aber das war – jedenfalls für damalige Verhältnisse – noch alles ziemlich „staatstragend“. Das mag man allein daran ablesen, dass sich der VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann nach den Springerblockaden 1968, ausgelöst durch das Attentat auf Rudi Dutschke, noch zum Gespräch mit Bundeskanzler Kiesinger traf.
Wie kam es zur dieser Politisierung eines Teils der Studierenden?
Um die Politisierung eines beachtlichen Teils der Studentenschaft nachvollziehen zu können, bedarf es eines Blicks auf die allgemeinpolitische Situation der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren aus Sicht der politisch engagierten Studierenden. Siehe dazu ausführlich Wolfgang Lieb, 50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er-Bewegung, Blog der Republik vor allem in Teil 1 und Teil 2 .
Die Adenauer-Ära war zu Ende. Die politische und militärische Westbindung und damit die staatliche Abgrenzung zu Ostdeutschland und zum „Ostblock“ waren abgeschlossen, ein rigider Antikommunismus und eine miefige Restauration hatten sich in der Bundesrepublik breit gemacht. Personen mit prominenter NS-Vergangenheit fanden sich in höchsten Staatsämtern wieder. Das Wirtschafts-„Wunder“ wurde allmählich entzaubert – zum ersten Mal gab es in der Bundesrepublik einen Rückgang des Wirtschaftswachstums. Die neonazistische NPD zog in sechs Länderparlamente ein.
In Europa herrschte eine Militär-Junta in Griechenland und auch in Spanien, Portugal und Persien waren Diktatoren mit Unterstützung der Armee an der Macht. Der erste künstliche Erdsatellit – der russischen Sputnik Ende der fünfziger Jahre – löste in der westlichen Welt einen Schock aus. Eine technologische Lücke wurde ausgemacht und der von einem unverdächtigen Konservativen wie dem Philosophen und Theologen Georg Picht 1964 ausgerufene „Bildungsnotstand“ in der BRD wurde zum bildungspolitischen Allgemeinplatz.
Um die wirtschaftliche Zukunft zu sichern, sollte die Wissenschaft aus dem „Reich der Einsamkeit und Freiheit“ (so noch der Soziologe Helmut Schelsky und Leiter des Gründungsausschusses der Uni Bielefeld) in die Gesellschaft oder genauer in die Wirtschaft eingemeindet werden. Aus einer vermeintlich unpolitischen Wissenschaft wurde mit ihrer zunehmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung die “Produktivkraft Wissenschaft“ – wie das die linken Studenten nannten.
Bundeskanzler Erhard propagierte 1965 eine die Interessengegensätze überformende, technokratische Variante einer „Formierten Gesellschaft“ (Reinhard Opitz, in Blätter für deutsche und internationale Politik), die auch die Hochschulen mit dem Ziel einer effizienzorientierten Neuordnung in den Blick nahm. Die parteiübergreifende „Formierung“ fand für eine Minderheit politisch engagierter Studenten (und es waren zunächst ganz überwiegend männliche Studenten) ihren Ausdruck in der Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 und vor allem in deren innenpolitischem Projekt einer „Notstandsverfassung“.
Die hochschulpolitische Parallele zu diesem Prozess der „Formierung“ sahen politisch aktive Studierende etwa
- im Vorhaben eines Bildungsgesamtplans,
- in der Einführung eines Wissenschaftsrates,
- in der („technokratischen“) Neuordnung der Hochschulen durch Landeshochschulgesetze und
- im Beginn der Debatte um ein Hochschulrahmengesetz (in der sozial-liberalen Koalition zusammengefasst in den 10 Thesen des parteilosen Wissenschaftsminister Hans Leussink) oder
- in der Begründung von Zuständigkeiten des Bundes bei der Hochschulbaufinanzierung bis hin zu Gründung einer Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, der BLK,
- in Studienzeitbeschränkungen und Zwangsexmatrikulationen und in der
- Einführung eines „numerus clausus“, mit dem die Überfüllung der Hochschulen beherrscht und die Studienreform voran getrieben und
- im Ordnungs- und Disziplinarrecht, mit dem die um sich greifenden studentischen Rebellionen bekämpft werden sollte,
- in der Auflösung der Studentenschaften als Gliedkörperschaften der Universitäten (so damals in Berlin und geplant in Bayern und Baden-Württemberg (WL)) oder
- in Eingriffsrechten der Kultusbehörden in den Lehr- und Forschungsbetrieb.
Die studentische Kritik galt einer „technokratischen Hochschulreform“, dem einseitigen Abstellen auf Effizienzkriterien im betriebswirtschaftlichen Sinne, dem staatlichen Bemühen um eine „Verschulung“ des Studiums, der Verschärfung der Leistungsanforderungen oder den dirigistischen Tendenzen des Staats im Bereich der Forschung. So vds-Vorstandsmitglied Jürgen Kegler in seinem Bericht über die 21. o. Mitgliederversammlung des VDS, privates Archiv
Ganz wichtige Anstöße für die Politisierung, vor allem für die Protestformen der Studenten kamen aber auch von außen, vor allem durch die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und der „free-speech“- Bewegung in den USA.
In einer Gegenreaktion auf die zusammengeschrumpfte innerparlamentarische Opposition (49 Abgeordnete der oppositionellen FDP standen 450 Abgeordnete von Union und SPD gegenüber) mit Bildung der Großen Koalition 1966 entwickelte sich eine „außerparlamentarische Opposition“ (APO), eine breite Sammelbewegung, die von innerparteilichen Oppositionsgruppen, über Überbleibsel der alten Arbeiterbewegung und der KPD, über Linksintellektuelle, Pazifisten bis hin zur „Studentenbewegung“ – oder wie sie später genannt wurde – zur „studentischen Protestbewegung“ mit all ihren unterschiedlichen politischen Ausrichtungen reichte und die sich gegen das „Establishment“ – heute würde man vielleicht von „Mainstream“ sprechen – stellte.
Die studentische Politisierung war zunächst vor allem durch zwei Motive gespeist,
- vom Drang nach mehr Demokratie – wie das z.B. in der damaligen studentischen „Fibel“ zur Studienreform, der „sds-Denkschrift“ von Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrich Preuß „Hochschule in der Demokratie“ schon 1960 begründet wurde und
- von einer aufklärerischen Rückbesinnung auf eine Wissenschaft im Dienste der Emanzipation (der Selbstbefreiung) und eben nicht im Dienste herrschender ökonomischer Interessen – wie das etwa von Stephan Leibfried in seinem unter linken Studenten damaligen Bestseller „Wider die Untertanenfabrik“ Köln 1967 kritisiert wurde.
Wie die APO insgesamt war auch die „studentische Protestbewegung“ als aktiver und größer werdender Teil der außerparlamentarischen Gegenmacht, keine politisch homogene Bewegung. Es gab dort ganz unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen.
So etwa den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), den Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) bzw. die Jungsozialisten (Jusos) oder später auch den Marxistische Studentenbund Spartakus (MSB Spartakus), den Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) bzw. die Jungliberalen (Julis), die kirchlichen Studentengemeinden, und weit über dieses politische Spektrum hinaus z.B. die sich der bürgerlichen Gesellschaft verweigernden Hippies oder Kommunarden. Selbst der SDS splitterte sich in mehreren Zentren auf, so etwa in die von Wolfgang Abendroth oder Werner Hofmann geprägten marxistischen Flügel in Marburg und Köln gegen die eher von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas und später vor allem auch von Herbert Marcuse beeinflusste Richtung in Frankfurt, teilweise in Berlin oder in Heidelberg.
Alle diese Gruppierungen lieferten sich untereinander teilweise geradezu erbitterten politischen Streit auf Flugblättern und in Redeschlachten auf Versammlungen. Gemeinsam standen sie meist nur in Opposition zu den „Herrschenden“ und in der protestierenden Aktion, also in einer Anti-Haltung, so z.B.
- Anti-Ordinarienuniversität, („Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“),
- Anti-technokratisch eingestufte Hochschulreform,
- Anti-Ordnungs- und Disziplinarrecht,
– Anti-Pressekonzentration und Anti-Springer-Zeitungen und natürlich
- Anti-Notstandsgesetze und
- Anti-Große Koalition,
- Anti Vietnamkrieg
In jedem Falle „anti-autoritär“ – und als autoritär galt so ziemlich alles, was aus dem Establishment geboten wurde. In vielerlei Hinsicht wurde Autorität mit Nazitum und Faschismus assoziiert (Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, 2011, S. 479).
Diese außerparlamentarische Opposition äußerte sich in vielfältigsten und bis dato unbekannten Formen und im Gefolge des Aufschaukelns von Protest und Repression zunehmend massenhaft. Es entwickelte sich eine zunehmende Provokanz und Militanz der studentischen Demonstrationen und Aktionen bei gleichzeitig zunehmenden Konfrontationen mit der repressiv vorgehenden Polizei. An den Unis wurden aus Protest Institute wurden besetzt, Gremiensitzungen „gesprengt“, Barrikaden errichtet. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kam es 1968 zu den Osterunruhen in ganz Deutschland und zu den bis dahin heftigsten Protestaktionen. Weil die Springer-Presse für die Aufhetzung des Attentäters Bachmann verantwortlich gemacht wurde, kam es in Berlin zu massiven Attacken auf das Gebäude des Axel-Springer-Verlags in der Koch-Straße, dabei wurden auch Auslieferungsfahrzeuge für die Zeitungen angezündet. (Dabei lieferte ein V-Mann des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, Peter Urbach, die Molotowcocktails.) Jochen Staadt, Teilnehmende Beobachter (in der FAZ v. 8. Juli 2019, S.6), in einer Darstellung der linken Bewegung aus der Sicht der Geheimdienste in Ost und West, die belegt, wie neben der Wirklichkeit die Berichte der V-Leute oft lagen, so z.B. dass Rudi Dutschke „aus München“ bzw. „aus der VR Polen“ käme.
Die Demonstrationen quer durch die Republik vermittelten den Oppositionellen den Eindruck, sie seien in der politischen Offensive. Was den Aktivisten Mut und Elan gab und einen die Bewegung selbstverstärkenden Effekt
Während die Studentenschaft in Ihrer Mehrheit konservativ, allenfalls liberal an der Erhaltung des eigenen akademischen Status festhielt, wurde von einer politisierten Minderheit ein Studium nicht mehr als „Bildung für Höhergestellte und Bürgersöhnchen“, sondern als „gesellschaftlich notwenige Arbeit“ eingestuft. Der mit der Bildungsexpansion ab Mitte der 60er Jahre Wandel zur „Massenuni“ und eine zunehmende Zahl an Studenten aus unteren Schichten, die ihr Studium selbst finanzieren mussten, galten als Anzeichen einer „Proletarisierung“ der Studierenden. Noch 1970 waren allerdings nur gut 6 % der Studenten Arbeiterkinder
Durch ein neues Verständnis von Wissenschaft, nämlich nicht mehr als Forschung im „Elfenbeinturm“ in „Einsamkeit und Freiheit“, sondern als eine „gesellschaftliche Produktivkraft“, rückten in der Studentenbewegung immer stärker Fragen nach den Voraussetzungen und Folgen des wissenschaftlichen Arbeitens ins Zentrum der Diskussion. „Wissenschaft wurde erkannt als emanzipatorische Kraft, die im Dienste der Befreiung von Menschen aus der Herrschaft von Natur und Gesellschaft steht. Ihre Macht entfaltet sie nicht mehr nur als kritische Reflexion der bestehenden Verhältnisse, sondern sie ist zur Produktivkraft geworden, die unmittelbar materielle Werte schafft.“ (Volker Gerhardt, Jens Jordan und Albrecht Moser „Zur Organisation studentischer Interessenvertretung – Vorschläge zur Neustrukturierung der Studentenschaften und ihrer überregionalen Vertretung“ vom 31. Januar 1969, S.19)
Studentische Politik bekam neben der traditionellen Hochschul- und Bildungspolitik ein zweites – aus- und übergreifendes – Aktionsfeld. Es kam zu einer Dualität einerseits zwischen der Hochschulpolitik als politische Interessenvertretung und zum anderen als Hinterfragung des wissenschaftlichen Tuns. Von der nach links driftenden Studentenschaft wurde ein emanzipatorisches Wissenschaftsverständnis propagiert, das nicht mehr nur der vom deutschen Idealismus geprägten aufklärerischen Befreiung aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“, sondern der Befreiung von (ökonomischer) Ausbeutung und (kapitalistischer) Unterdrückung verpflichtet sein sollte. Es kam zur Gründung von „Kritischen Universitäten“ in Berlin, Hamburg und München.
Hochschulpolitik wurde damit umfassender verstanden als Triebkraft zur Veränderung, zur Reformierung, ja mehr und mehr zur „Revolutionierung“ der Gesellschaft.
Rückwirkungen der Politisierung der Studentenschaft auf den VDS
Die Struktur und das Leitungspersonal des VDS blieben hinter der Entwicklung dieser Politisierung eines beachtlichen Teils der Studentenschaft und damit der ASten jedenfalls an den größeren Unis zurück.
Das erste Aktionsfeld, also die Demokratisierung der Hochschule, konnte noch durch die klassische Interessenspolitik eines Dachverbandes abgedeckt werden. Auf der 20. Ordentlichen Mitgliederversammlung 1968 in München hat sich der Verband beim Thema Mitsprache und Mitbestimmung sowohl politisch als auch personell in etwa auf die Linie des Mainstreams der damaligen politischen Entwicklungen vor Ort gebracht. Vorsitzender wurde Christoph Ehmann (Asta-Vorsitzender in Marburg, von der Humanistischen Studentenunion (HSU)), Volker Gerhardt (Münster, nicht gruppengebunden) wurde Referent für Studienfragen, Jürgen Kegler (AStA-Heidelberg, nicht gruppengebunden) übernahm das Sozialreferent und Björn Pätzold (AStA-Hamburg, SHB) wurde Referent für internationale Fragen. Der VDS bekannte sich zum „politischen Mandat“ und damit zur Gesellschaftskritik über die Hochschule hinaus.
Auf der zweiten Ebene, fälschlich oft als „Politisierung der Wissenschaft“ angeprangert, recht eigentlich aber zu verstehen als die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft, hier fehlten dem Dachverband die angemessenen Organisationsstrukturen.
Schon anfangs 1969 (am 15. Januar) traten die drei bisherigen stellvertretenden VDS-Vorstandsmitglieder Volker Gerhardt, Jürgen Kegler und Björn Pätzoldt geschlossen zurück. (Das vierte Vorstandsmitglied Christoph Ehmann, war schon davor zurückgetreten, weil dieser bei seiner Kandidatur verschwiegen hatte, dass er in Unehren aus der Bundeswehr entlassen und in einem Strafverfahren zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden war.)
In der Rücktrittserklärung der Vorstands-Stellvertreter heißt u.a.:
„Studentenpolitik ist mittlerweile zu selbstmörderischem Handeln geworden: Entweder man riskiert in der Universität das Stipendium, den Studienplatz oder die Freiheit oder man korrumpiert sich im Kontakt mit den offiziellen Institutionen, den Verbänden und Partien, die sich gesprächsbereit geben, hinterrücks jedoch mit Polizeigewalt zuschlagen. Die bisherige Studentenpolitik ist tot.
Die stellvertretenden vds-Vorsitzenden erkennen, daß eine progressive Politik mit dem Anspruch auf Demokratisierung der Gesellschaft langfristig scheitern muß, wenn nicht neue Formen der direkten Konfrontation mit den etablierten Kräften gefunden werden.
Eine solche Politik zu praktizieren, ermöglicht uns nicht die derzeitige Struktur des Verbandes, die ausgerichtet ist nach einem Repräsentativsystem, das die aktiven Basisgruppen zu repräsentieren nicht ermöglicht.
Ständige Kontrolle und Willensbildung durch die Basis muß an die Stelle reinen Funktionärstums treten, das die bisherige vds-Politik trotz ihres neuen Selbstverständnisses ausmacht.
Der vds muß seine politische Legitimation und die Bestimmung seines politischen Selbstverständnisses durch die Studenten erhalten, die den Kampf an der Basis führen….“ (Rücktrittserklärung im Anhang an den Vorstandsbericht für die 21. o.MV S. 71ff., privates Archiv).
Der Rücktritt erfolgte, wie die Zurückgetretenen selbst schrieben, aus „Einsicht in die zunehmende Ohnmacht der demokratischen Studentenbewegung gegenüber den Machthabern und in die Notwendigkeit einer an den Bedürfnissen und Erkenntnissen der arbeitenden Studenten orientierten und folglich entsprechend
umstrukturierten Verbandsorganisation“. Mit ihrem Rücktritt beabsichtigten die Vorstandsmitglieder, „die Diskussion über eine Strukturveränderung des vds innerhalb der Studentenschaften und der Öffentlichkeit zu initiieren und dadurch die Bedingungen für eine Intensivierung der studentischen Oppositionsbewegung zu schaffen.“ (Anträge und Beschlüsse, 21. O.MV Köln März 1969, Vorwort; Verlag Studentenschaft Bonn 1969).
Der schon zuvor zurückgetretene VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann gab eine eigene Rücktrittserklärung ab. Darin erklärt er, dass er zwar die Analyse der politischen Situation seiner Stellvertreter teile und dass er ebenfalls der Ansicht ist, dass reine Lobby-Politik für Studentenvertreter in dieser politischen Situation nur Verschleierungsfunktion haben könne. „Die Behauptung jedoch, der vds-Vorstand habe in diesem Jahr sich in den Apparat der Herrschenden integrieren lassen oder sich nicht dagegen gewehrt, ist weitgehend falsch. Entweder ist die Aufforderung zur „Direkten Aktion“ Verbalradikalismus, oder aber im Falle der Realisierung macht sie auch punktuelle Kontakte zur Erreichung bestimmter Ziele (Ausbildungsförderungsgesetz etc.) unmöglich“. (Rücktrittserklärung im Anhang an den Vorstandsbericht für die 21. o.MV S. 72ff., privates Archiv).
Politisches Chaos auf der Kölner Mitgliederversammlung des VDS
Das Vorstandsmitglied Volker Gerhardt (später Professor für praktische Philosophie an der Humboldt Universität Berlin) hat zusammen mit Jens Jordan und Albrecht Moser Vorstellungen „Zur Organisation studentischer Interessenvertretung – Vorschläge zur Neustrukturierung der Studentenschaften und ihrer überregionalen Vertretung“ vorgelegt. Mit diesem „Strukturpapier“ wurde versucht, eine Brücke zwischen den kleinen und den großen ASten, genauer zwischen den sich als „revolutionäre Avantgarde“ begreifenden SDS-lern aus Frankfurt, teilweise Berlin und Heidelberg, den eher reformorientierten (aber sich gleichfalls als „sozialistisch“ verstehenden) Asten und zu Studentenschaften zu schlagen, die von sog. „Unabhängigen“ repräsentiert wurden. Man sprach von einer „Ungleichzeitigkeit der Politisierung“.
Das Vorstandsmitglied Jürgen Kegler (später Kirchenrat und Honorarprofessor an der Heidelberger Uni) entwickelte das Konzept eines „flexiblen und sich am konkreten Fall spontan bildenden Organisationsnetzes“. (Siehe Eckart Muschol, Perspektiven für einen studentischen Dachverband nach einer Liquidierung des VDS, in: studentische politik 7 – 1969 S. 3ff. (10)). Politische Aktivitäten von Basisgruppen am jeweiligen Ort sollten vom VDS unterstützt werden und das dort erarbeitete Material auf überregionaler Eben ausgewertet werden.
Nicht nur innerhalb des VDS, sondern – daraus entpsringend – auch innerhalb des SDS fand eine sog. „Organisationsdebatte“ statt, es ging dabei vor allem um eine Verlagerung der politischen Aktivitäten auf sich spontan bildende „ad hoc“ – bzw. „arbeitende Basisgruppen“. Der politische „Kampf“ habe einen Grad erreicht, in dem eine überkommene Verbandsorganisation des VDS zum Hemmnis für eine konsequente Unterstützung des Kampfes an den Hochschulen geworden sei.( Zitiert nach Norbert Trautwein, in studentische politik 3 – 1969, S. 75ff.).
Die Vorstellungen vor allem der Frankfurter SDS-Fraktion auf der Kölner VDS Mitgliederversammlung vom 3. – 11. März 1969 gingen in Richtung zur „Gründung einer revolutionären Massenorganisation“, die über die Hochschule hinaus, in die Produktionssphäre, also die Betriebe vordringen sollte. Auf der Mitgliederversammlung in Köln erklärten die Frankfurter, Berliner und Heidelberger Gruppen um den SDS- Bundesvorstand den VDS zum „politischen sozialistischen Kampfverband“. Diese Ausrufung wurde zwar offiziell wieder zurückgenommen, aber eine Mehrheit setzte als Ziele des Verbandes etwa die „Hochschulrevolte“, die „Revolutionierung der Gesellschaft“ oder die Erziehung zu „sozialistischer Berufspraxis“ durch. Der SDS-Bundesvorstand erklärte ganz offen, dass es ihm nur darauf ankomme, den Apparat (VDS) zu übernehmen, um dessen finanzielle und organisatorische Möglichkeiten für die Basisarbeit „auszupowern“ (wie es in einem Flugblatt hieß). (Bericht Jürgen Kegler über die 21. o.MV, privates Archiv).
Als Reaktion auf diese politische Wende verließen 26 der 97 Mitgliedshochschulen den VDS u.a. Köln, Bonn, Stuttgart, Mainz, Karlsruhe und Clausthal-Zellerfeld, einige andere zahlten keine Beiträge mehr. Sechs der ausgetretenen Asten gründeten noch während dieser Mitgliederversammlung am 10. März rheinaufwärts in Bonn einen „Initiativausschuß Deutscher Studenten“ (IDS), dessen Geschäftsführer der zurückgetretene vormalige VDS-Vorsitzende Christoph Ehmann wurde. Der angeblich vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) finanziell unterstützte IDS erklärte, mit der Billigung der neuen Struktur, habe der VDS die Grundlage demokratisch verfasster Studentenschaften verlassen, diese Abspaltung hielt sich deshalb für „politisch legitimiert, die Arbeit des VDS verantwortlich fortzusetzen“. Treibende Kraft war die sich vom „Ring Christlich Demokratischer Studenten“ (RCDS) als „demokratische Mitte“ loslösende „Deutsche Studenten Union“ (DSU), die sich finanziell unterstützt von der Katholischen Studentenverbindung „Rheinstein“ um die Kölner AStA-Chefs Klaus Laepple und später Thomas Köster schon das Jahr zuvor als lockeres Wahlbündnis zusammengetan hatte. Als Gegenverband zum VDS, der immerhin noch 210.000 Studierende vertrat, wurde am 5./6. Juli 1969 in Bonn die IDS in „Aktionsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften“ (ADS) umbenannt. Dieser neue Verband beanspruchte für 60.000 Studierende zu sprechen.
Hart gerungen auch innerhalb der linken Gruppierungen wurde auf der MV in Köln um ein neues „Statut“, dessen wesentliche Elemente die Abschaffung der Fachverbände zugunsten von 10 Projektbereichen (Technik, Naturwissenschaften, Medizin, Produktionssphäre, Ausbildungsbereich I und II, Soziales, Ausländerfragen, Kommunikation) war. Unter Projektbereichen wurden „Arbeitende Gruppen, die an relevanten politischen Projekten theoretisch und praktisch arbeiten“ verstanden (Ziff. 4.2.4. des Statuts). Darüber hinaus sollte der alte „Delegiertenrat“ (aus Vertretern der Landesverbände) durch einen dreißigköpfigen „Zentralrat“ mit imperativem Mandat gegenüber dem Vorstand ersetzt werden. Diesem Zentralrat sollten 20 Vertreter der von der Mitgliederversammlung zu benennenden Studentenschaften und 10 Vertreter der Projektbereichssekretariate angehören (Ziff. 3.2.1 des Statuts). Mit dieser neuen Struktur sollte der VDS für die Arbeit, der Basis- und Projektgruppen geöffnet werden. Dieses neue Strukturmodell mit rätedemokratischen Elementen wurde zunächst mit 233 Ja- gegen 45 Nein-Stimmen und 12 Enthaltungen mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit angenommen. Nachdem jedoch ein daraufhin vom SDS-Bundesvorstand vorgeschicktes Vorstandskollektiv mit zwei Heidelbergern und einem Tübinger SDSler bei den Vorstandswahlen durchfiel, wurde dieses neue Statut nach einer turbulenten Nachtsitzung an einem Montagmorgen wieder mehrheitlich vom Tisch geräumt. Vor allem die sog. kleinen Hochschulen, bei denen die Politisierung gegenüber den großen Hochschulen nachhinkte und bei denen sich noch keine Basis- und Projektgruppen gebildet hatten, fürchteten in den neuen Entscheidungsgremien zu kurz zu kommen.
Zuvor war schon ein als Provokation eingebrachter Antrag des eher „rechten“ Kölner AStA mit einem Bekenntnis „zu der in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland enthaltenen Garantie einer freien, demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung“ nach einstündiger Geschäftsordnungsdebatte nicht befasst worden. Die nur taktisch vorgebrachte Begründung der Gegner dafür war, dass dieser Antrag eine Verengung der 1962 beschlossenen VDS-Charta darstelle. Daraufhin stellte der vormalige Kölner AStA-Vorsitzende Klaus Laepple den Antrag diese alte Charta zu bestätigen, was bei einer Gegenstimme und 9 Enthaltungen auch geschah – eine lammfromme Charta, die allem anderen als der Programmatik eines „sozialistischen Kampfverbandes“ entsprach.
Diese alte Charta sah die Verwirklichung
- der Freiheit von Forschung, Lehre und Studium“ und damit die Autonomie der Hochschule,
- der „freien Meinungsbildung“….
- der „freien Auseinandersetzung in Anerkennung des Andersdenkenden als Partner“,
- des „freien Hochschulzugangs“ und der „Garantie gleicher Ausbildungschancen“,
- der Sicherung der „Möglichkeit der Ausbildung ohne Unterschiede der Geburt, des Geschlechts, der Farbe, der Rasse, der Sprache,… des sozialen Status, des religiösen Bekenntnisses und der politischen Überzeugung“ und „der Möglichkeit der freien Wahl des Ausbildungsweges „entsprechend den Fähigkeiten“ (II. 1. Und 2.)
vor.
Diese Charta wendete sich auch gegen Faschismus, Totalitarismus, gegen die Unterdrückung der Völker, gegen Ausbeutung, gegen Rassendiskriminierung und gegen Militarismus. (Privates Archiv Jürgen Kegler).
Wie chaotisch es bei der Debatte um diese Abstimmung zugegangen ist, belegen danach gestellte ironisch gemeinte Anträge etwa von der Qualität, dass die „heilige Jungfrau durch das Ohr geschwängert, wie mittelalterliche Theologen lehren“ bzw. dass „der Samen… im Rückenmark produziert wird, wie Platon lehrt (Timaios)“…
Der Streit, der nicht nur durch den Austritt der ADS-ASten, sondern auch von der Rivalität zwischen dem SDS und dem SHB bzw. linken unabhängigen ASten genährt wurde, musste auf eine außerordentliche Mitgliederversammlung im Mai vertagt werden. Der bisherige geschäftsführende Vorstand mit Volker Gerhardt, Jürgen Kegler und Björn Pätzold (später in verschiedenen Funktionen an der FU Berlin und schließlich selbständiger Berater) blieb weiter im Amt. Er plädierte dafür, dass der VDS eine Sammelbewegung aller fortschrittlichen Kräfte an den Hochschulen sein sollte.
Nachhutgefechte der 68er-Studentenbewegung Teil 1-5 (alle Teile auf einer Seite)
Nachhutgefechte der 68er-Studentenbewegung – Teil 1
Nachhutgefechte der 68er-Studentenbewegung – Teil 3