EU-Flagge

Ohne die EU gäbe es mich nicht – Europa ist eine viel größere Idee   

Meinem Sozialwissenschaftskurs wurde in der zehnten Klasse mal die Aufgabe gestellt, unseren Tagesablauf zu skizzieren und herauszufinden, worauf die EU alles Einfluss hat. Bei der Nachbesprechung sind vor allem Gurken- und Bananennormen genannt worden, was naheliegt. Natürlich ist der Einfluss europäischer Gesetzgebung vor allem bei der Regulierung von dem, was als Nahrung so in unseren Körper  oder als Kosmetik auf ihn kommt, präsent. Aber die EU nur darauf zu reduzieren ist nicht nur nachlässig, weil es den Blick nicht aufs Wesentliche lenkt, sondern auch, weil diese Rhetorik Rechtspopulisten in die Hände spielt. Dass Europa eine viel größere Idee ist, und dass sich das auch über die Gesetzgebung in unserem Alltag niederschlägt, zeigt allein mein Lebenslauf.

Zum Beispiel hätten sich meine Eltern ohne das Erasmusprogramm, das meiner Mutter(sie stammt aus Florenz) ein Auslandssemester ermöglicht hat, vielleicht gar nicht kennengelernt. Würden meine Eltern nur aus einem gemeinsamen Land kommen, wäre meine Familie bestimmt um einiges langweiliger – mal ganz von einem weiteren entscheidenden Vorteil abgesehen, den man als Mensch mit mehr als einer Kultur hat: das Bewusstsein, dass es nicht die eine „richtige“ Kultur gibt.

Küsschen oder Hand

Das fängt schon damit an, dass Gesten und Verhaltensweisen nicht überall die gleiche Bedeutung haben: In Deutschland bin ich ganz froh, wenn mir ein neues Gesicht im Familienkreis lieber erstmal die Hand als zwei Küsschen auf die Wangen gibt, in Italien merke ich mir die Person als ein bisschen schüchtern. Das schärft auch das Verständnis dafür, dass man über Unterschiede reden muss, um sich aneinander anpassen zu können: In gemischt deutsch-italienischer Runde fragen Deutsche manchmal, ob es denn eine Konvention gibt, mit welcher Wange man anfängt, und sind ein etwas konsterniert wenn man darauf die Achseln zuckt. Man dreht beim Annäherungsmanöver zum Wangenkuss mit einem oder einer Deutschen eben den Kopf etwas eindeutiger und kann so peinliche Mundbegegnungen vermeiden. (nachdem man abgewartet hat, ob der oder diejenige nicht lieber die Hand ausstreckt.)

Dieses Vorwissen hilft aber nicht nur dabei, zwischen den eigenen zwei Kulturen zu navigieren, sondern schärft auch das Verständnis für das Fremde: Verglichen mit der polnischen Art, drei echte Wangenschmatzer zu verteilen, wirken Italiener so, als würden sie nur schüchtern ein bisschen die Jochbeine aneinanderstubsen. Das heißt nicht, dass man in Polen schmierig ist, es ist eben einfach anders.

Das Beispiel erscheint trivial und ist nicht annähernd so emotional aufgeladen wie etwa der politische Diskurs über muslimische Männer, die Frauen nicht die Hand geben wollen. Was ich aber damit meine: je eher ich mit Menschen zu tun habe, die es eben anders machen als ich, desto eher lasse ich mich auf einen Kompromiss ein und vermeide einen Konflikt, auch einen Konflikt auf internationaler Ebene.

Das steht meiner Meinung nach für Europa: Ich stelle mein eigenes Ego zurück und versuche mit anderen zusammen etwas Besseres zu schaffen.

Bildung und Sprachen

Um aber diesen Kern zu erkennen, braucht es Bildung. Das fängt ganz einfach beim Sprachenlernen an, und damit meine ich nicht, dass wir noch früher Englisch lernen sollten. Eine Lingua Franca macht sachliche Verständigung einfacher, aber Verständigung ist nicht gleich Verständnis: Je besser ich die Muttersprache meines Gegenübers kenne, desto eher kann ich mich in es hineinversetzen.

Gleichermaßen brauchen wir aber auch geschichtliche und politische Bildung. Ohne zu wissen, wie es zur EU gekommen ist, kann ich nicht erkennen, wie sehr ich sie brauche. Und wenn mir nicht die Werkzeuge zum kritischen Hinterfragen und der Freiraum zum Ausdruck meiner Ergebnisse gegeben werden, kann ich sie nicht verbessern. Im Moment sind die Informationen zur EU noch zu dünn, um die EU (be)greifbar zu machen, damit sie in den Köpfen ihrer Bürger Wurzeln schlagen kann – und das wird sie müssen, denn sonst verliert sie ihre Existenzberechtigung und wird wirklich zum vorschriftswütigen Feindbild Brüssel, das der Ungar Viktor Orbán beschwört. Damit das aber möglich ist, muss ihr mehr Einfluss auf das Leben der Menschen erlaubt werden – vielleicht tatsächlich in Form der Vereinigten Staaten von Europa.

 Ich habe von der EU profitiert

Ich vertrete diese Meinung, weil ich mein Leben lang von der EU profitiert habe. Ich durfte vier verschiedene europäische Sprachen lernen und an mehreren Auslandsaufenthalten teilnehmen, sodass ich Freundschaften in verschiedenen Ländern knüpfen konnte. Sogar mein Freiwilligendienst, das FSJ Kultur, wird zum Teil durch Mittel der EU gefördert.

 Meine Auffassung von der Welt ist typisch für ein Individuum meiner Generation mit meinen gesellschaftlichen Privilegien, das heißt, meine verhältnismäßig helle Haut, meine deutsche (mehr als meine italienische) Staatsbürgerschaft, meine Bildung öffnen mir Türen, die vielen anderen verschlossen bleiben.

Europa ist mein Zuhause

 Diese gesellschaftliche Position ist mit der Stellung Deutschlands innerhalb der EU vergleichbar: Deutschland ist finanziell gesehen relativ stabil und genießt großen Einfluss auf andere Staaten, Einfluss, der unverhältnismäßig übermächtig ist. Dass eine so große Diskrepanz zwischen den Mitgliedsstaaten der EU nur zu Missgunst in der Gemeinschaft führen kann, liegt auf der Hand. Natürlich ist das nicht der einzige Faktor, der für die Entwicklung Europas zählt, aber bestimmt ist es auch nicht der letzte, denn Ungleichheit untergräbt den Friedenswillen, der bei der Gründung der Europäischen Union ausschlaggebend war.

 Europa ist mein Zuhause, weil es den Anspruch erhebt, für Solidarität und Gerechtigkeit zu stehen. Es kann als Einheit nur bestehen, wenn es sich an diesen Idealen orientiert.

Bildquelle: pixabay, User myrhome, CC0 Creative Commons

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Stammt aus Deutschland und Italien, hat 2017 ihr Abitur abgeschlossen und leistet ihren Freiwilligendienst an einem deutschen NS-Dokumentationszentrum.


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