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Politik für die soziale Mitte – Gastbeitrag von Norbert Römer

Gastbeitrag Von Gastbeitrag
30. Mai 2022
Fragezeichen
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, wenn es darauf ankommt, steht für die große Mehrheit der Menschen soziale Sicherheit ganz oben auf der persönlichen und der gesellschaftlichen Agenda. Und in Krisenzeiten kommt es besonders darauf an. Dann geht es ums Große und Ganze, dann ist alles andere zweit- und drittrangig, dann geht es um die Sicherheit im eigenen Leben, im Leben der Familie, der Nächsten, im Zusammenleben mit den Nachbarn, mit der Gemeinschaft. Dann geht es um soziale Absicherung und soziale Stabilität. Deshalb kann es auch nicht überraschen, dass bei allen Befragungen durch demoskopische Institute genau diese Wünsche auf der Prioritätenliste ganz vorn landen. Ja, die Menschen haben ein untrügliches Gespür dafür, dass in unserem Land trotz aller wirtschaftlichen Erfolge der Wohlstand nicht überall ankommt, dass das soziale Gleichgewicht in unserer Gesellschaft empfindlich gestört und sogar hier und da völlig aus den Fugen geraten ist. Da braucht es keine statistischen Belege, da reicht ein Blick auf die Wirklichkeit: Niedriglohnsektor, Kinderarmut, Altersarmut, Langzeitarbeitslosigkeit – das alles sind Zeichen sozialer und gesellschaftlicher Zerfallsprozesse. Selbstverständlich können diese Entwicklungen in unserem immer noch reichen Land aufgefangen und gemildert werden, aber auf Dauer bleiben sie bedrohlich. Und in Krisenzeiten sind sie besonders gefährlich. „Mehr Fortschritt wagen“, hat die neue Regierung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag überschrieben. Völlig richtig! Deutschland braucht Fortschritt in vielen Bereichen – wirtschaftlich, ökologisch, digital, energiepolitisch, auch außen- und europapolitisch, sicherheitspolitisch, aber vor allem sozial. Für die Sozialdemokratie war immer klar, dass die soziale Lage der Menschen entscheidende Grundlage für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt ist und bleibt. Es geht schlicht und einfach um den sozialen Frieden im Land. Sozialer Friede ist nach sozialdemokratischer Lesart ein wichtiger Produktionsfaktor, der neben Kapital, Qualifikationen, Unternehmergeist und Privateigentum entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg ist. Und sozialer Friede ist immer das Ergebnis von sozialem Fortschritt und Mitbestimmung. Diese Erkenntnis war in den sozialliberalen Koalitionsregierungen der 1970er Jahre mit den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt Antrieb für erfolgreiches politisches Handeln, das für die große Mehrheit der Menschen sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt gebracht hat. „Mehr Demokratie wagen“, hat Willy Brandt die Marschroute für das sozialliberale Regierungshandeln vorgegeben. Mitbestimmung, Betriebsverfassung, Aufstieg durch Bildung, Demokratisierung, Rentenreform sind Stichworte dafür, dass Deutschland damit gut vorangekommen ist und dass diese Politik den Menschen gutgetan hat. Inzwischen schwant selbst der CDU, dass sie in der 16jährigen Regierungszeit mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze zwar lange an der Macht geblieben ist, doch wenig für sozialen Fortschritt getan hat. Im Gegenteil: Die vielfältigen Anstrengungen der SPD, in den sogenannten Großen Koalitionen für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wurden von der Unionsfraktion meistens behindert oder gar blockiert. Nach der verlorenen Bundestagswahl dämmert es der Unionsspitze jedenfalls, was diese Verhinderungspolitik für ihr Ansehen bei den Menschen angerichtet hat. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz verordnet seiner Partei deshalb auch eine politische Neuausrichtung und propagiert, dass soziale Gerechtigkeit ganz oben auf ihrer politischen Agenda stehen und der Sozialstaat zukunftsfähig gemacht werden müsse. Da reibt sich so manches CDU-Mitglied erstaunt die Augen. Dennoch bleibt abzuwarten, ob Merz nicht schon bald wieder in seinen alten Sound, „mehr Kapitalismus wagen“, zurückfallen wird. Die SPD muss diese christdemokratische Wendung nicht beunruhigen, sie sollte sich in ihrer politischen Grundhaltung eher bestärkt fühlen. Es ist auf jeden Fall gut, dass neben Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem versierten Hubertus Heil als Bundesminister für Arbeit und Soziales jemand Verantwortung in der Bundesregierung hat, der ganz genau weiß, wie wichtig das Zusammenspiel von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik mit der Wirtschaftspolitik ist. Heil jedenfalls unterliegt nicht dem Irrglauben, dass Sozialpolitik Abfallprodukt von Wirtschaftspolitik sei, dass erst erwirtschaftet werden müsse, was zu verteilen sei. Er hat immer bewiesen, dass sein politisches Verständnis auf der Erfahrung beruht, dass Wachstum und Wohlstand nur auf einer stabilen sozialen Basis gedeihen können. Für die SPD ist das ein dickes Pfund, mit dem sie weiter wuchern sollte. Selbstverständlich ist die Bundesregierung jetzt vorrangig damit beschäftigt, die Menschen und das Land ruhig und konzentriert durch die Herausforderungen der europa- und weltweiten Auswirkungen der russischen Aggression mit dem von Putin angeordneten und brutal geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine zu steuern. Dafür steht vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich auch durch politische Querschüsse nicht aus dem politischen Gleichgewicht bringen lässt. Und der sich auf das Wesentliche konzentriert. Die finanzielle, soziale, wirtschaftliche und militärische Hilfe für die Ukraine und die direkte Unterstützung der zigtausend auch nach Deutschland geflüchteten Menschen aus der Ukraine hier bei uns sind das Eine, das selbstverständlich geleistet wird. Das Andere ist, die wirtschaftlichen, energiepolitischen, technologischen und sozialen Auswirkungen für die Menschen und die Unternehmen und Betriebe in Deutschland in einer Weise aufzufangen, dass es keine Kollateralschäden gibt. Und gleichzeitig gilt es, die längst nicht beseitigte Corona-Pandemie mit ihren ständig neuen Herausforderungen nicht völlig aus dem Blick zu verlieren. Bei all dem, was der Koalition jetzt abverlangt wird, ohne dass dafür im Koalitionsvertrag überhaupt Vorsorge getroffen werden konnte, muss die soziale Balance entscheidende Leitplanke für das politische Handeln bleiben. Kurzarbeitergeld, Wirtschaftshilfen, Steuerstundungen, Entlastungspakete, Familienunterstützung – die Hilfen für Betriebe, Selbstständige, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien sind zielorientiert und lindern die negativen Auswirkungen von Putins Krieg und der Pandemie für Wirtschaft und Gesellschaft. Und sie sorgen mit dafür, dass soziale Brüche vermieden werden können. Das ist viel in dieser schwierigen Situation. Und das beweist, dass die Koalition handlungsfähig ist. Gleichzeitig muss klar sein, dass die soziale Stabilität unserer Gesellschaft auch eine entscheidende Zukunftsaufgabe für die Koalition ist. Deshalb ist es richtig, dass Hubertus Heil jetzt deutlich macht, wie die soziale Ausrichtung der zukünftigen Politik aussieht. Angesichts dramatisch zunehmender sozialer und wirtschaftlicher Zukunftsängste bis weit in die Mittelschichten hinein kommt sein nahes Zukunftsversprechen für finanzielle Abfederungen der neuen Belastungen gerade rechtzeitig. Mit seinem Plan für dauerhaftes Klimageld, das jährlich ausgezahlt wird und für ein Bürgergeld, das in der Höhe tatsächlich die Preissteigerungen ausgleicht, beseitigt er viele soziale Ängste und eröffnet Perspektiven für die Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft. Eine solche zielgenaue Politik für diese soziale Mitte ist gleichzeitig auch geeignet, das Vertrauen in die politische Solidität der Koalition zu festigen und ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern. Die Menschen wollen und brauchen Sicherheit. Heute und in der Zukunft. Das in den Mittelpunkt von Politik zu stellen, ist der Vorstoß von Hubertus Heil allemal wert. Und er gibt Orientierung – für die Gesellschaft und für die Koalition. Zum Autor: Norbert Römer(SPD) ist seit 2005 Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen und war von 2010 bis 2018 Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion.
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Tags: GerechtigkeitLandtagswahl 2022NRWschwarz-grünSoziale GerechtigkeitSozialpolitik
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