Jahrzehntelang zählte das niedersächsische Oldenburg in Nachkriegsdeutschland nicht gerade zu jenen Städten, die im Bekanntheits-Ranking deutscher Metropolen auf Anhieb genannt werden würde. Da zählten weder die Jahrhunderte alte stolze Geschichte noch das letztlich gescheiterte Bemühen einer beträchtlichen Mehrheit der Einwohner, der Stadt und dem Umland den Status eines eigenen Bundeslandes zu verschaffen. Bundestag und Bundesrat verhinderten 1975 den in einer Volksabstimmung geforderten Separatismus der Oldenburger mit knapper Mehrheit.
Die Stadt an der Hunte blieb auf viele Jahre eine unentdeckte Schönheit auf der bundesdeutschen Landkarte. Da half selbst das traditionelle Grünkohlessen nichts, zu dem die Stadtväter alljährlich die politische Prominenz einlädt und mit dem ganztags gebräuchlichen „Moin, moin“ begrüßt, zunächst in Bonn und bis heute in Berlin. Auch die gelegentliche Verwechslung anreisender Referenten mit dem gleichnamigen Städtchen in Schleswig-Holstein vermochte daran nichts zu ändern, sieht man einmal vom Spott ab, den beispielsweise Journalist und Literat Sebastian Haffner erdulden musste, der im schleswig-holsteinischen Oldenburg vergeblich die Weser-Ems-Halle suchte, die doch im Nordwesten Niedersachsens mit zahlreichen Zuhören gefüllt an diesem Abend auf seine scharfzüngigen Ausführungen wartete — diesmal vergeblich.
So etwas wie Aufmerksamkeit erregt allenfalls die regelmäßig durchgeführte Umfrage der Zeitschrift Capital nach dem bundesdeutschen Wohnort mit höchster Lebensqualität, die ebenso regelmäßig Oldenburg auf den ersten Plätzen führt. Erst jüngst sollte die 160 000 Einwohner zählende Universitätsstadt aus ihrem Schattendasein heraustreten. Zwei bizarre Ereignisse, die unterschiedlicher nicht sein könnten, rückten die Stadt Ende des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts unverhofft ins mediale Scheinwerferlicht, sorgten für Schlagzeilen und bundesweite Publizität.
Da ist zunächst das Wirken eines Krankenpflegers in den Städtischen Kliniken und im benachbarten Delmenhorster Krankenhaus, dessen nahezu unermüdlich krimineller Einsatz im Notdienst über 100 Patienten das Leben kostete. Inzwischen mit der Aussicht auf vermutlich tatsächlich lebenslange Inhaftierung abgeurteilt, versuchen die Oldenburger seitdem wieder in die Normalität zurückzukehren.
Aber was heißt schon Normalität in einer Zeit hyperventilierender Internetnutzer in sogenannten Sozialen Netzwerken? Dabei stünden die Chancen nicht schlecht in einer Region, deren Bürger sich nur zu gern an die Potentaten von einst erinnern. Denn mit ihren Großherzögen hatten die Oldenburger relativ viel Glück, hielten diese doch vom Kriegführen wenig und von sozialen Wohltaten vergleichsweise viel. So verdanken die Untertanen von einst ihren Hochwohlgeborenen nicht nur ein vorbildliches Gesundheitssystem und eine Feuerversicherung, sondern auch die Gründung einer Sparkasse für jedermann, heute die älteste der Welt.
Angesichts dieser Vorgeschichte vermag das zweite Ereignis mit beträchtlicher medialer Wucht kaum mehr zu überraschen. Nichts hat die Diskussionen in der Stadt zuletzt so stimuliert wie der Versuch einiger Altbürger, das Stadtbild um ein Reiterdenkmal zu ergänzen und — je nach Perspektive der Befürworter und Gegner — zu verschönern oder zu verschandeln. In der heimischen Presse, genauer: in der Nordwest-Zeitung, der einzigen Zeitung der Stadt, wechselten Berichte, Kommentare und Umfragen mit fast täglich neuen Leserbriefen engagierter Zeitgenossen. Es fehlte nicht an gegenseitiger Häme, gespickt mit Vorwürfen, die von „traditionsvergessen“ bis zu „ewiggestrig“ reichten.
Einer der engagiertesten Förderer des Reiterstandbildes, einer überlebensgroßen Abbildung des Grafen Anton Günther, ist der ehemalige sozialdemokratische Landtagspräsident und frühere Oldenburger Oberbürgermeister Horst Milde. Er und einige Mitstreiter hatten den regional verwurzelten Modelleur Bernd Eylers beauftragt, das Bronze-Denkmal nach dem Vorbild eines Wandgemäldes aus der Zeit des Historismus zu schaffen. Sie fordern die Aufstellung im Hof des Oldenburger Schlosses. Der dafür verantwortliche Museumsdirektor lehnt das aus historischen Gründen ab und erhält dafür die Zustimmung des zuständigen Ministeriums in Hannover, denn das Schloss ist in Landesbesitz.
Doch so schnell geben die Denkmalfreunde nicht auf. Sie schaffen es, das Thema auf die Tagesordnung des Landtages zu setzen. Doch wie schon beim Versuch der Verselbständigung scheitern die Oldenburger auch diesmal an der politischen Mehrheit. Zahlreiche Kunstfreunde und prominente Mäzene fühlen sich in ihrer Ablehnung bestätigt. Sie argumentieren auch damit, dass es sich bei dem Kunstwerk des Bernd Eylers lediglich um einen Zweitguss aus einer Gießform des Dresdner Künstlers Walter Hilpert handelt. Dessen Original ist in Privatbesitz und schmückt derzeit eine Waschstraße in Oldenburg.
Weil der Landtag die Aufstellung im Schlosshof verweigert, suchten und fanden die Denkmalfans trickreich einen Ausweg. Zwar ist das Land Eigentümer des Schlosses, nicht aber des Schlossplatzes davor. Der zählt zum Besitz der Stadt und die stimmte zu. Zumindest probehalber. Man schien am Ziel, die Stadt um ein Denkmal reicher. Der Zweitguss war mit Schwerlastkran aufgestellt worden, der Frieden in der Stadt wiederhergestellt.
Aber unbekannte Banausen traktierten den Grafen auf seinem Pferd mit Farbe und schriftlichen Schmähungen. Auch die in der Zeitung abgedruckte Idee eines Bürgers, den Sockel um sechs Meter zu erhöhen, um so das Antlitz des Reiters den öffentlichen Blicken zu entziehen, mag zur Verstimmung des Modelleurs beigetragen haben. Der Wunsch eines anderen Bürgers, man möge den Sockel entfernen, um dem Grafen auf Augenhöhe begegnen zu können, fand indes ebensowenig sein Wohlwollen. Jedenfalls ließ der Schöpfer seinen Abguss über Nacht per Tieflader wieder abholen und kündigte an, das Bronzeungetüm wegen erwiesener Undankbarkeit der Oldenburger nunmehr auf seinem Anhänger durch die Region zu fahren.
Als weltweit einziges Standbild auf Rädern sozusagen.
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