„Ooooorder!!!“ tönte es mir gestern entgegen, als ich mich leicht verspätet an unseren monatlichen Stammtisch setzte. Der Ereigniskanal PHOENIX hat dank des Brexits offensichtlich seine Zuschauerquote erhöht. John Bercow, der „Mister Speaker“ des Londoner Unterhauses, erfreut sich jedenfalls steigender Beliebtheit, wenn er mit diesem lang gezogen Ausruf die „right honorable members of parliament“ zur Ordnung ruft. Damit war das Thema des Abends gesetzt. Das ungläubige Unverständnis für den Austausch der immer gleichen Argumente und die doppelte „Abwatschung“ von Premierministerin Theresa May war ebenso groß wie einhellig. Die Sitzungen des britischen Unterhauses als Sitcom Ersatz und Bercow der Held! Und täglich grüßt das Murmeltier!
Offenbar tun wir Kontinentaleuropäer uns schwer, die Brexit-Debatte und den Versuch Mays noch ernst zu nehmen, das Parlament doch noch zu bewegen, ihrem Deal zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zuzustimmen. Die politischen Akteure Londons irren scheinbar völlig orientierungslos durch die Brexit-Szenerie. Keine Mehrheit, kein Deal, kein Plan!
Die ersten Superreichen, die noch für die Scheidung Großbritanniens von der EU gekämpft hatten, haben das sinkende Staatsschiff Britannia bereits verlassen. Die Meldungen über den Abbau tausender industrieller Jobs häufen sich. In der Finanzwelt Londons werden Schreibtische frei und ein Blick in die Immobilienangebote zeigt, eine völlig veränderte Welt. Wo wegen hoher Nachfrage noch vor ein paar Monaten Preise in der Höhe von mehreren Millionen für Häuser in der Metropole aufgerufen wurden, überwiegt jetzt das Angebot. Die Preise sinken auf breiter Front. Die britische Hauptstadt wird langsam aber sicher zu einem Immobilienmarkt, auf dem die Angebotsseite schneller wächst als die Nachfrage. Dennoch schafft es die britische Politik nicht, den Briten eine Vorstellung davon zu geben, was in Sachen Brexit kommen soll.
Um die Kontrolle über den Austrittsprozess zu erlangen, griff „Mister Speaker“ jetzt tief in die Trickkiste. Er holte ein Protokoll aus dem Jahre 1604 aus den Archiven, aus dem eine Vereinbarung hervorgeht, die verhindert, dass sich das Parlament mehrmals mit derselben Sache beschäftigen kann. Theresa Mays Plan, die Abgeordneten in einer Art Abnützungsschlacht kurz vor Torschluss noch zu einer Zustimmung zum vorliegenden Brexit-Deal zu zwingen, ist damit gescheitert. Wenn May jetzt die übrigen Regierungschefs der EU trifft, um mit ihnen eine Verlängerung der Brexit-Frist zu vereinbaren, tritt sie ihnen mit leeren Händen entgegen. Sie kann keinen Plan B vorweisen. Die Gefahr eines ungeordneten Austritts Großbritanniens aus der EU wächst weiter. Das erinnert irgendwie an das Schicksal der Titanic. Der Kapitän des Schiffes wollte sicherlich nicht mit dem Eisberg kollidieren, was seinen Untergang zur Folge hatte, aber er konnte nicht mehr ausweichen.
Einige EU-Mitglieder haben bereits ihre Zweifel daran angemeldet, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich mit Großbritannien und seine Wünschen zu befassen. Nur das Unterhaus könnte noch mit einem interfraktionellen Beschluss in letzter Minute, in dem auch eine zweite Volksabstimmung zum Thema Brexit vorgesehen ist, Argumente für eine Verlängerung der Frist auf eine Zeit nach dem 29. März liefern. Dafür muss sich das Parlament zum Herrn des Handelns machen. Wie aus den berühmten Westminster Quellen zu hören ist, sieht so der Plan des John Bercow aus. Das ist ein gewagtes Spiel auf und um Zeit.
Für den Fall, dass es mittels einer Vereinbarung aus dem 17. Jahrhundert so kommt, sollten sich die Briten an ein Gedicht erinnern, das wie das Parlamentsprotokoll ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert stammt. Geschrieben hat es John Donne, der 1572 in London geboren wurde und dort 1631 starb. Sein Titel;
„To whom the bell tolls – Wem die Stunde schlägt“
No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend’s or of thine own were. Any man’s death diminishes me because I am involved in mankind; and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.
„Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes. Wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge wäre, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“
Erstveröffentlichung am 19.3.2019 auf dem Blog „Hausmannskost“ von Peter Haussmann