Buch der Geheimnisse

Von guten und bösen Geheimnissen

Weihnachten und die Adventszeit gelten als Zeit der Geheimnisse. Im Verborgenen entstehen Geschenke und Überraschungen, wenn das Fest der Liebe naht, das an Wundersames erinnert. Gespanntes Warten begleitet die Zeit, Warten darauf, dass die Geheimnisse gelüftet werden. Süße, selige, schöne Geheimnisse, die Freude bereiten. Doch es gibt auch böse Geheimnisse, und von denen soll auch die Rede sein.

Kinder lernen den Unterschied früh, um besser vor Missbrauch geschützt zu sein. Sie brauchen Geheimnisse für ihre persönliche Entwicklung, das Geheimnis aber, das der Täter ihnen auferlegt, um sie zum Schweigen zu bringen, ist ein böses Geheimnis. Sie dürfen es nicht für sich behalten, sondern müssen sich ihren Eltern anvertrauen und es verraten. Böse Geheimnisse schützen die Täter und geben ihnen Macht über ihre Opfer.

Papst Franziskus hat in diesen Tagen das Päpstliche Geheimnis aufgehoben. Es hatte pädophile Würdenträger in der katholischen Kirche vor der Verfolgung durch die weltliche Justiz bewahrt, ihre Verbrechen vertuscht, die Opfer um ihr Recht gebracht und die Täter gewähren lassen. Jahrzehnte nach dem Aufdecken immer neuer Skandale ein überfälliger Schritt mit dem bemerkenswerten Bekenntnis: dieses Geheimnis war von Übel.

Das gilt gleichermaßen für Geheimhaltungen, die dazu dienen, Wahrheiten zu verschleiern und Missstände zu vertuschen. In der Schublade des britischen Premierministers Boris Johnson schlummert der Geheimdienstbericht über Manipulationen des Brexit-Referendums. Der Regierungschef verweigert die Veröffentlichung.

Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) versieht Unterlagen kurzerhand mit dem Stempel geheim, um sie dem Untersuchungsausschuss zum 560 Millionen Euro teuren Pkw-Maut-Skandal vorzuenthalten. Das Handy von Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), das den Untersuchungsausschuss zu den Beraterskandalen interessiert hätte, wurde angeblich „sicherheitsgelöscht“.

In parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und im Prozess zum rechtsextremistischen NSU, dem Nationalsozialistischen Untergrund, blieben etliche Machenschaften, Sachverhalte und Zusammenhänge ungeklärt, weil Zeugen schwiegen, Akten vernichtet und Dokumente geschwärzt wurden. Dabei hatte die Bundeskanzlerin den Angehörigen der Opfer und der Gesellschaft völlige Aufklärung der Mordserie zugesagt.

Die „Afghanistan Papers“ der Washington Post brachten niederschmetternde Bewertungen des Afghanistan-Krieges ans Licht, die das US-Verteidigungsministerium lieber unter Verschluss gehalten hätte. Im Impeachment-Verfahren gegen US-Präsident Donald Trump haben Schlüsselfiguren wie sein persönlicher Anwalt Rudy Giuliani und Ex-Sicherheitsberater John Bolton geschwiegen.

Die Liste der Verfehlungen, die Mächtige unter den Teppich kehren, ist lang, und es hat viel mit dem Hochmut der Macht zu tun, wenn sie sich ihrer Verantwortung entziehen. Ihre Geheimnisse sind selbstgerecht, verwerflich und stehen dem Anspruch der Öffentlichkeit auf wahrhaftige Informationen entgegen.

Einer, der den Mächtigen ihre Geheimnisse entreißen wollte, sitzt seit April im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Julian Assange wurde wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen zu 50 Wochen Haft verurteilt. Im Juni 2012 war er in die Botschaft von Ecuador geflüchtet, um einer Auslieferung nach Schweden zu entgehen. Die Ermittlungen der schwedischen Behörden zum Vorwurf der Vergewaltigung sind eingestellt. Jetzt droht ihm die Auslieferung an die USA, die dem Journalisten und Wikileaks-Gründer Verrat vorwerfen. Im Februar soll die Entscheidung fallen, und es ist ungewiss, ob der inzwischen schwerkranke 48-Jährige das noch erleben wird. 60 Ärzte schrieben einen alarmierenden offenen Brief, der UN-Sonderberichterstatter für Folter prangerte unzumutbare Haftbedingungen an.

Während nun die schlechten und bösen Geheimnisse mit aller Macht verteidigt werden, schwinden die guten Geheimnisse, von denen der Soziologe Georg Simmel Anfang des 20. Jahrhunderts sagte, sie seien „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“. Sie helfen Heranwachsenden, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sind im weiteren Lebenslauf Garanten der individuellen Freiheit.

Das datenhungrige Internet jedoch beraubt die Nutzer ihrer Geheimnisse. Facebook, Google und Co. schöpfen persönliche Daten wie wertvolle Rohstoffe ab, machen damit exorbitante Gewinne, und zahlen nicht einmal anständig Steuern dafür. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verkommt zu einer Leerformel.

Die Folgen sind gläserne Verbraucher, Unmündigkeit, soziale Vereinzelung, gesellschaftliche Kälte. Zu den weihnachtlichen Wünschen passt daher neben dem Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit auch dieser: Lasst uns die schönen Geheimnisse.

Bildquelle: Pixabay, Bild von silviarita, Pixabay License

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Die promovierte Medienwissenschaftlerin arbeitete mehr als 20 Jahre in der Politikredaktion der Westfälischen Rundschau. Recherchereisen führten sie u. a. nach Ghana, Benin, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, China, Ukraine, Belarus, Israel und in das Westjordanland. Sie berichtete über Gipfeltreffen des Europäischen Rates, Parteitage, EKD-Synoden, Kirchentage und Kongresse. Parallel nahm sie Lehraufträge am Institut für Journalistik der TU Dortmund sowie am Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus in Dortmund wahr. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin.


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