Achtung! Dancing Queen

Vor dem Brexit-Gipfel: Gütliche Lösung oder weiter Lügen, Hass und Hetze

Die Parteitage auf der britischen Insel sind über die Bühne gebracht. Näheren Aufschluss über den Weg zum Brexit haben sie nicht geliefert. Woher nun die Europäische Union ihren Optimismus nimmt, dass es im Trennungsverfahren doch noch zu einer gütlichen Einigung kommt, erscheint daher rätselhaft. Da Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker übereinstimmend Zuversicht bekunden, haben sie vermutlich einen Plan in der Hinterhand.

Die Zeit drängt. In weniger als einem halben Jahr soll der Austritt Großbritanniens aus der EU vollzogen sein. Die Verhandlungen zu diesem historisch einmaligen Vorgang waren auf zwei Jahre befristet. Viel Bewegung gab es bisher nicht, und der Parteitag der konservativen Torys in Birmingham hat deutlich gemacht, dass von britischer Seite kein konstruktives, realistisches Konzept zu erwarten ist.

Premierministerin Theresa May rettete sich mit einem denkwürdigen Auftritt über den Kongress ihrer konservativen Partei. Angesichts der Zerrissenheit der Torys, empfanden viele Delegierte den ABBA-Song „Dancing Queen“ als Begleitmusik für ihren Gang ans Rednerpult als peinlich. Inhaltlich erwies sich May als geradezu störrisch unbeweglich. Sie verteidigte ihren Chequers-Plan, den die EU längst als inakzeptable Rosinenpickerei zurückgewiesen hat, und den David Davis und Boris Johnson mit ihren Rücktritten aus dem Kabinett May quittiert hatten.

Johnson inszenierte sich auf dem Parteitag rhetorisch als entschiedener Widersacher der Regierungschefin und machte Stimmung für den harten Brexit, ein völlig ungeregeltes Ausscheiden aus der EU also, mit allen Konsequenzen. Konkret benennt er die vorsichtshalber nicht. Ein Regierungsbericht stellt für das brachiale Szenario bisher ausgeblendete Folgen wie Engpässe bei Medikamenten, Material und Nahrungsmitteleinfuhren in Aussicht. Die Wirtschaft ist alarmiert, die Bevölkerung bekäme den selbstgewählten Brexit empfindlich zu spüren, der Frieden in Nordirland stünde auf dem Spiel.

Theresa May hat sich verspekuliert und mit den vorgezogenen Wahlen die Tory-Mehrheit im Unterhaus verloren. Ihr Vorgänger David Cameron hatte ebenfalls aus rein taktischem Kalkül den Briten den Brexit erst eingebrockt. Statt, wie beabsichtigt, mit dem Referendum die Torys hinter sich zu einen, tobte im Land eine Kampagne aus Lügen, Hass und Hetze, die einen tiefen Keil in die Gesellschaft trieb und bis heute anhält.

Nachdem die Verheißungen der Europafeinde mehr und mehr als populistische Propaganda entlarvt sind, sehen Umfragen in Großbritannien eine veränderte Stimmungslage. Statt der knappen Mehrheit für den Brexit würde sich heute eine Mehrheit für den Verbleib in der EU ergeben. Doch Umfragen sind Spekulation, und der lauter werdende Ruf nach einem zweiten Referendum, das den Exit vom Brexit besiegeln könnte, findet im Parlament wenig Widerhall. Zwar hat die erstarkte oppositionelle Labour-Party auf ihrem Parteitag in Liverpool ein Exit-Referendum nicht ausgeschlossen. Doch die Courage reichte nicht, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.

Labour-Chef Jeremy Corbyn hat den Europabefürwortern ein Ventil geboten, um den innerparteilichen Konflikt zu entschärfen. Denn ein starker Flügel in seiner sozialistischen Partei steht der Europäischen Union mindestens skeptisch gegenüber, wenn auch aus anderen Motiven als die Nationalisten auf der rechten Seite. Die EU-Gegner in den Labour-Reihen lehnen den neoliberalen Wirtschaftskurs ab und sehen außerhalb der EU mehr Perspektive für Sozialstaat, Gewerkschaften und Gerechtigkeit.

Corbyn selbst steht diesem Flügel näher, und er setzt auf alles oder nichts. Er will die konservative Regierung May scheitern sehen und einen Erfolg bei Neuwahlen einfahren. Die sind allerdings nach dem Tory-Parteitag nicht in Sicht. Mays Kritiker haben ihr zwar kräftig eingeheizt, aber noch nicht zu ihrem Sturz angesetzt.

Von den beiden großen politischen Lagern in Großbritannien ist also vorerst nicht viel Konstruktives zu erwarten. Umso mehr richtet sich nun der Blick nach Brüssel. Vor dem Gipfel in diesem Monat wird bereits ein Sondergipfel im nächsten ins Gespräch gebracht. Das bedeutet, noch im November soll eine Einigung über die Perspektiven der neuen Partnerschaft zwischen EU und Vereinigtem Königreich vorliegen. Über die wirtschaftlichen Fragen hinaus geht es dabei auch um Aspekte der Sicherheits- und der Außenpolitik sowie um eine Lösung für Nordirland.

Nach den bisherigen Aussagen von Theresa May sind die Positionen vor der entscheidenden Verhandlungsphase unvereinbar. Da ist Phantasie gefragt, um den Briten eine Brücke zum Austrittsabkommen zu bauen. Das muss, wenn es pünktlich im kommenden März in Kraft treten soll, von allen Mitgliedsländern ratifiziert werden. Je näher der Termin rückt, desto unfassbarer der Gedanke, dass sich Großbritannien endgültig aus dem historischen Einigungswerk zurückzieht. In der unsicherer gewordenen Welt braucht Europa mehr statt weniger Gemeinsamkeit.

Bildquelle: flickr,anokarina, CC BY-SA 2.0

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Die promovierte Medienwissenschaftlerin arbeitete mehr als 20 Jahre in der Politikredaktion der Westfälischen Rundschau. Recherchereisen führten sie u. a. nach Ghana, Benin, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, China, Ukraine, Belarus, Israel und in das Westjordanland. Sie berichtete über Gipfeltreffen des Europäischen Rates, Parteitage, EKD-Synoden, Kirchentage und Kongresse. Parallel nahm sie Lehraufträge am Institut für Journalistik der TU Dortmund sowie am Erich-Brost-Institut für Internationalen Journalismus in Dortmund wahr. Derzeit arbeitet sie als freie Journalistin.


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