Es ist mehr als überfällig, dass innerhalb der Sozialdemokratie über die zukünftige „Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa“ eine breite Debatte stattfindet – gerade angesichts der fatalen Rede von der „Kriegstüchtigkeit“ (Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius) und eines gigantischen Aufrüstungsprogramms, das die schwarz-rote Bundesregierung auf den Weg bringen will. Beides widerspricht meines Erachtens den Grundanliegen sozialdemokratischer Friedenspolitik. Dies zur Sprache zu bringen und damit eine notwendige Debatte auszulösen, ist das Verdienst des Manifestes „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“.
Dennoch kann ich nach sorgfältiger Analyse des Papiers dieses nicht unterzeichnen – und dies aus einer Reihe von Gründen:
„Heute leben wir leider in einer anderen Welt.“ heißt es in der Mitte des Manifestes. Zuvor werden die Ost- und Friedenspolitik von Willy Brandt und der Helsinki-Prozess der KSZE beschworen. Die Frage ist: Was ist der Bezugspunkt für die „andere Welt“ und des „leider“? Sehnt sich irgendjemand in die Zeit des Kalten Krieges zurück? Wurde nach der Friedlichen Revolution 1989/90 nicht sofort wieder auf den Vorrang von militärischer Interventionspolitik vor langfristig angelegten Friedensprozessen wie der KSZE gesetzt? Man denke nur an den ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg Russlands gegen Tschetschenien 1995. Auf diese Fragen gibt das Manifest keine Antwort. Auch werden mit keinem Wort die Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren „Warschauer Paktes“ und der früheren Sowjetunion thematisiert. Mit keinem Wort ist vom Recht der drei baltischen Staaten, der Ukraine, Belarus, Georgiens, Moldaviens und ihrer Bevölkerungen die Rede, ihre Souveränität und Integrität zu verteidigen, in einem freiheitlichen, demokratischen Staat leben zu wollen und selbst zu bestimmen, welchem Staaten-Bündnis sie angehören wollen.
Stattdessen wird sehr einseitig betont, „schrittweise … zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland (zurückzukehren)“. Von den politischen Freiheitsbewegungen in Ländern, die einmal zum Herrschaftsbereich der Sowjetunion gehört haben, ist in dem Papier mit keinem Wort die Rede. Welche Rolle sollen denn die baltischen Staaten, die Ukraine, Belarus, Georgien, Moldavien in einer europäischen Sicherheitsarchitektur spielen? Eine solche Frage wird noch nicht einmal gestellt. So drängt sich leider der Eindruck auf, dass wieder einmal diese Staaten lediglich als Manövrier- und/oder Verhandlungsmasse betrachtet werden. Gerade die Sozialdemokratie sollte aber bedenken, dass der entscheidende Schritt zur Friedlichen Revolution 1989/90 von den Bürger:innen der DDR, Polens, Tschechiens und vieler anderer Länder ausging. Sie wollten nicht mehr Behandelte der Großmächte sein, sondern als freie Menschen in einem demokratischen Europa leben können.
Leider bleibt in dem Manifest völlig unberücksichtigt, dass seit über 10 Jahren sowohl Putin-Russland wie Trump-Amerika versuchen, die Europäische Union (EU) systematisch zu zersetzen bzw. in ihrer Existenz zu zerstören. Dies geschieht vor allem durch eine Stärkung der Parteien und Bewegungen, die in den Ländern der EU eine rechtsnationalistische, demokratiefeindliche Politik implementieren wollen. Dass diese gefährliche Entwicklung in dem Manifest völlig ausgeblendet wird, ist nur damit zu erklären, dass die Verfasser (leider wenig :innen) und Unterzeicher:innen des Manifestes völlig gefangen sind in der Vergangenheit und ihre Überlegungen auf Russland fokussieren. Von daher ist es erklärlich, dass bis jetzt kein namhafter Sozialdemokrat geschweige denn eine Sozialdemokratin aus Ostdeutschland das Manifest unterzeichnet haben.
Besonders kritisch sehe ich, dass in dem Manifest die Europäische Union kaum eine Rolle spielt. Zwar wird die „Herstellung einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten unabhängig von den USA“ gefordert. Aber dass gerade angesichts des Zerstörungsfeldzuges eines Donald Trump gegen die amerikanische Demokratie, seiner imperialen Ansprüche gegenüber Panama, Grönland und Kanada und der kriegerischen Aggression Russlands gegenüber seinen westlichen Nachbarländern die Europäische Union gestärkt werden muss, ist für die Autoren des Manifestes offensichtlich kein Thema. Ebenso wird das Problem, dass der rechtsnationalistische Autokratismus, der sowohl in den USA wie in Russland die Politik bestimmt, mit keinem Wort thematisiert wird. Darum findet auch die wichtigste Verteidigungswaffe in der Auseinandersetzung mit dem Autokratismus mit imperialem Anspruch keine Erwähnung: nämlich für soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Demokratie einzutreten.
Diese Mängel führen leider dazu, dass die beiden Forderungen in dem Manifest, die absolut berechtigt sind, fast untergehen:
- das schon erwähnte Schlagwort von der „Kriegstüchtigkeit“, mit dem nur eine gefährliche Kriegsrhetorik in der Gesellschaft befeuert wird;
- die mit irrwitzigen Summen ausgestattete Hochrüstung.
Letzteres lässt sich allein schon dadurch eingrenzen, dass die EU ihre „eigenständige Verteidigungsfähigkeit“ entwickelt. Ebenso muss jede Bundesregierung gegenüber der Bevölkerung Rechenschaft darüber ablegen, warum die in der EU derzeit veranschlagten Gelder für die Verteidigung und die Anzahl der Soldat:innen in der EU nicht ausreichen sollen. Beides übersteigt in der Summe die Zahlen Russlands deutlich (EU 1,5 Mio Soldaten, Russland 1,3 Mio aktive Soldaten; EU 330 Milliarden Euro, Russland 150 Milliarden Dollar).
Von der Debatte in der SPD erwarte ich, dass natürlich historische Erfahrungen herangezogen werden. Das kann aber nicht bedeuten, dass diese zum Erklärungsschlüssel für gegenwärtige Entwicklungen deklariert werden. Darum wäre es sicher hilfreich gewesen, wenn man an der Erstellung dieses Manifestes, das in meinen Augen vor allem eine ü70 und westdeutsche Veranstaltung ist, jüngere Parteimitglieder und Politiker:innen aus Ostdeutschland und vom Angriffskrieg Russlands besonders betroffene Osteuropäer:innen beteiligt hätte. Im Mittelpunkt zukünftiger europäischer Verteidigungspolitik aber sollte stehen:
- Stärkung und Ausbau der EU, um sich unabhängig von den USA und Russland als Friedensprojekt zu etablieren;
- Verteidigung des sozialen Zusammenhalts und der freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie gegen den Rechtsnationalismus;
- eine europäische Friedensordnung, in der die Souveränität und Integrität der Staaten anerkannt und verteidigt werden – insbesondere dadurch, dass nationale Grenzen anerkannt werden und gleichzeitig ihre Bedeutung verlieren.
- Beschränkung der Rüstungsausgaben auf das absolut notwendige Minimum.
Eine zentrale Frage aber bleibt am Schluss: Wie wollen wir als und in der EU und NATO das verteidigen, was Länder wie Russland, USA, Ungarn in ihrem Einflussbereich bekämpfen: freiheitliche Demokratie, gesellschaftliche Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit? Darauf eine Antwort zu finden, ist Aufgabe der Sozialdemokratie.
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Ich muss vorausschicken, dass ich an dem Manifest mitgearbeitet und es deshalb auch unterschrieben habe. Deshalb bin ich von der Kritik von Christian Wolff, den ich wertschätze und dessen differenziert argumentierende Texte ich stets mit Gewinn gelesen haben, betroffen. Ich kann nicht nachvollziehen, warum er den Text des Manifests so missverstehen bzw. missdeuten konnte.
Dazu nur ein Beispiel: Christian Wolff kritisiert den Satz im Manifest „heute leben wir leider in anderen anderen Welt“ und fragt nach dem Bezugspunkt dessen, was heute anders ist. Er gibt diesen Bezugspunkt sogar selbst an – nämlich die „Ost-und Friedenspolitik von Willy Brandt und den Helsinki-Prozess der KZSE -, um dann zu fragen, ob sich irgendjemand in die Zeit des Kalten Krieges zurücksehne? Wie kommt er zu dieser Unterstellung, dass sich die Autorinnen und Autoren an den Kalten Krieg zurücksehen könnten?
Im Manifest ist doch der Bezugspunkt zu „heute“ eindeutig benannt. Heißt es doch dort: „Die Unterzechnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 war eine Höhepunkt dieses Zusammendenkens von Verteidigungs- und Abrüstungspolitik, das in Europa jahrzehntelang Frieden gesichert hat und schließliche die deutche Einheit vermöglichte. In Helsinki wurden zentrale Prinzipien der europäischen Sicherheit durch einen friedlicheren Umgang der Staaten miteinander vereinbart: Die Gleichheit der Staaten unabhängig von ihrer Größe, die Wahrung der territorialen Integrität der Staaten, der Verzicht auf gegenseitige Gewaltandrohung, die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Verzicht auf die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, wie auch die Vereinbarung umfassender Zusammenarbeit.“
Sind z.B. mit dem im Helsinki-Prozess als Prinzip genannten „Verzicht auf die innerenAngelegenheiten“ nicht die politischen Freiheitsbewegungen in den von Christian Wolff genannten Staaten, also auch die Souveränität der Ukraine nicht inbegriffen?
Sind nicht die Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren „Warschauer Pakts“ und der früheren Sowjetunion nicht gerade durch den KSZE-Prozess erst durchgesetzt worden? Warum sollte das in einem so kurzen Manifest also noch einmal ausdrücklich erwähnt werden.
Ich könnte solche Missdeutungen durch Christian Wolff fortsetzen, müsste dazu allerdings ein längeres Gegenplädoyer halten.
Ich belasse es deshalb bei einem Hinweis auf den Eintrag von Christoph Habermann vom 13. Juni, dem ich inhaltlich nur zustimmen kann.
Lieber Wolfgang, vielen Dank für die kritischen Anmerkungen. Du fragst: „Sind nicht die Sicherheitsinteressen der Staaten des früheren „Warschauer Pakts“ und der früheren Sowjetunion nicht gerade durch den KSZE-Prozess erst durchgesetzt worden? Warum sollte das in einem so kurzen Manifest also noch einmal ausdrücklich erwähnt werden.“ Die Antwort ist: Weil heute Putin-Russland das, was durch den KSZE-Prozess und durch die Friedliche Revolution 1989/90 möglich wurde, mit militärischer Gewalt zurückdrehen will; weil Putin-Russland seit mindestens 15 Jahren mit allen Mitteln den Prozess der Europäischen Einigung und damit auch die europäische Friedensordnung zu zersetzen und zerstören versucht. Stattdessen wird im Manifest herausgehoben, dass „der Westen“ die KSZE Schlussakte nach 1990 „immer mehr untergraben“ habe. Damit soll der Notwendigkeit argumentativ der Boden bereitet werden, „schrittweise … zur Entspannung der Beziehungen und einer Zusammenarbeit mit Russland (zurückzukehren)“. Das halte ich angesichts der brutal-diktatorischen Politik Putins nach innen und nach außen für völlig unangemessen. In meinen Augen verfolgt das Manifest einen Ansatz, der der tatsächlichen Lage und den Erfordernissen einer sozialdemokratischen Friedenspolitik nicht entspricht. Beste Grüße!