Seit 25 Jahren bin ich Lehrer für Deutsch, Geschichte und Englisch, und ich liebe meinen Beruf. Wenn ich morgens zur Schule radle, freue ich mich auf die Kids und auf das, was ich tue. Mit Jugendlichen die Bedeutung von Kolonialismus und Nationalsozialismus für uns heute zu ergründen oder über literarische Meisterwerke zu diskutieren, ins Gespräch über die großen Themen wie Liebe, Freundschaft und ein gutes Leben zu kommen – das ist aufregend und schön. Man ist am Puls der Zeit. Oft komme ich dabei ins Schwitzen und an meine Grenzen, auch deshalb ergreift es mich. Es ist ein verdammt gutes Gefühl, junge Menschen dabei zu unterstützen, das Denken zu lernen und die Welt zu verstehen. Dabei wachsen sie mir alle ans Herz. Wenn es gut läuft, fühlt sich das Klassenzimmer wie mein Wohnzimmer an. Hinzu kommt: Als Beamter hat man einen sicheren, selbstbestimmten und gutbezahlten Job. Da stellt sich die Frage, warum diesen schönen Beruf heute nur noch wenige machen wollen.
Ein unterschätzter Beruf
Es hat, glaube ich, viel mit Ansehen zu tun. Es ist nicht sexy, Lehrer zu sein. Wenn man auf einer Party erzählt, dass man ein solcher ist, herrscht manchmal betretenes Schweigen. Ich kann die Bilder sehen, die in den Gehirnen der Umstehenden aufpoppen: Das ist einer, der sich einen schlauen Lenz machen und viel Ferien haben will; eine arme Sau, die sich Tag für Tag mit unwilligen Pubertierenden rumärgern muss; der in der staubigen Schulroutine versteinert ist; der in der „freien“ Wirtschaft nicht überlebensfähig wäre. Früher hat mich diese arrogante Ignoranz ins Mark getroffen. Als Student habe ich gezweifelt, ob ich nicht doch lieber was anderes machen soll. Heute bin ich heilfroh, dass ich dabei geblieben bin. Inzwischen kann ich über diese Vorurteile müde lächeln. Meistens.
Sie verraten einiges über den Stellenwert von Bildung und Erziehung in unserem Land. Das Schulbuch aufschlagen und ein bisschen über den Stoff plaudern kann doch jeder, ist ein gängiges Vorurteil. Dass in jeder guten Schulstunde ein kleines Fass Hirnschmalz steckt, dass Unterricht nur gelingt, wenn der Lehrer sein Fachgebiet beherrscht, die Jugendlichen für das Thema interessieren und es altersgerecht reduzieren kann, er feinfühlig und umsichtig mit ihnen umgeht, er mal Moderator, mal Rampensau, mal Sozialarbeiter und mal Psychotherapeut sein muss, wird selten gesehen. Welchen großen Beitrag gute Lehrkräfte für die Lebenstüchtigkeit und Zufriedenheit eines Menschen wie auch für den Wohlstand und das Glück von Nationen leisten, hat die Wissenschaft längst erkannt. Was im Umkehrschluss heißt: Schlechte Lehrkräfte schaden nicht nur den Kids, sondern auch dem Gemeinwohl. Und dem Ansehen des Berufs.
Diese Erkenntnis scheint sich in deutschen Kultusministerien noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Zumindest sieht man keinen dringenden Handlungsbedarf. Seit ich nicht nur Lehrer, sondern auch Vater bin, weiß ich, wie skandalös das ist – und wie desaströs für die Kinder. Es sind wenige, aber es gibt sie an jeder Schule: Die Lehrer, wegen denen Schüler und Eltern auf die Barrikaden gehen, die für Tränen und geballte Fäuste sorgen, die von frustrierten Schulleitungen als Wanderpokale von Klasse zu Klasse und von Schule zu Schule gereicht werden. Für die Allgemeinheit entsteht der Eindruck: Ein Lehrer kann sich alles erlauben, er lebt trotzdem wie die Made im Speck. Und es stimmt ja auch: Schulleitungen, die das Regierungspräsidium um Unterstützung bitten, erhalten meist die Antwort, man solle das bitte schön intern regeln. Man könne da nichts machen, heißt es dann – das Beamtenrecht ermögliche kein anderes Vorgehen.
Was für ein Armutszeugnis für eine Demokratie, denke ich da. Die Menschheit fliegt zum Mond, entwickelt künstliche Intelligenz – und sieht sich außer Stande, das Beamtenrecht zu reformieren? Mir scheint es am politischen Willen zu fehlen. Und eben an der Einsicht, wie überaus wichtig gute Lehrkräfte für junge Menschen sind. Es geht im Übrigen gar nicht darum, schlechte Lehrer gleich zu feuern. Aber man muss sie zu Coachings und Fortbildungen verpflichten können. Ändert sich die Qualität des Unterrichts nicht, muss auch die Entlassung möglich sein, nicht zuletzt im Sinne des betroffenen Kollegen. Kein Mensch ist glücklich, wenn er etwas tut, das er nicht kann.
Dass es auf politischer Ebene an Einsicht in die Bedeutsamkeit des Berufs mangelt, zeigt sich auch darin, dass es praktisch kein verbindliches Qualitätsmanagement an Schulen gibt. So wäre es eine sinnvolle Sache, Lehrkräfte dazu zu verpflichten, einmal im Jahr anonym das Feedback der Schülerinnen und Schüler zu ihrem Unterricht einzuholen, mit ihnen über die Ergebnisse zu sprechen und Zielvereinbarungen zu treffen. Viele Universitäten machen das bereits. Warum geht das an Schulen nicht? Auch können dank der empirischen Bildungsforschung Lernfortschritte inzwischen relativ genau gemessen werden. Warum passiert das nicht jedes Jahr und verpflichtend in allen Klassen, zumindest in den Hauptfächern? Gerade für engagierte Lehrer wäre das ein wichtiges Feedback – um zu erfahren, was ihnen gut gelingt und wo sie noch besser werden können. Dazu benötigen sie außerdem speziell zugeschnittene Unterstützungsangebote. Die bei Bedarf – falls etwa eine Lehrkraft sich weigert, an sich zu arbeiten – auch verpflichtend sein müssen. Klar, das kostet Geld, aber gemessen am BIP gibt Deutschland im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien oder den skandinavischen Ländern immer noch deutlich weniger für Bildung aus.
Lehrersein heißt mehr als Unterrichten
Bildung und Erziehung haben sich in den letzten dreißig Jahren grundlegend gewandelt. Schule war lange eine Vormittagsveranstaltung. Nachmittags übernahmen die Mütter als unbezahlte Lernbegleiterinnen. Das ist heute anders. Seit es Ganztageskindergärten und -schulen gibt, sind Erziehung und Bildung weitgehend verstaatlicht worden. Die Verantwortung für Erzieher und Lehrer ist stark gewachsen. Auch die Anforderungen sind andere, doch das Berufsbild entspricht noch dem aus dem Kaiserreich. Das macht viele Lehrinnen und Lehrer unzufrieden. Und schreckt viele junge Menschen ab, den Beruf zu ergreifen.
Kinder, deren Eltern berufstätig sind und die vierzig Stunden in der Woche in der Schule verbringen, brauchen uns Lehrkräfte nicht nur als Unterrichtende, sondern auch als Lernbegleiter und Erzieher. Wir brauchen mehr Zeit für Gespräche, die wir angesichts der hohen Unterrichtsverpflichtung nicht haben. Wir machen das so nebenher – und deshalb nicht gut genug. In diesen Gesprächen geht es um Mobbing, Ärger mit Lehrern, Eltern mit überzogenen Erwartungen, Depressionen oder Gewalt in der Familie. Mehr Ressourcen für Erziehungsarbeit würden unsere Arbeit erfolgreicher, vielseitiger, reizvoller und befriedigender machen. Mehr Menschen werden wieder Lehrer werden wollen. Klar, auch das wird Geld kosten: Die Unterrichtsverpflichtung muss dafür herabgesetzt werden. Aber wer Chancengleichheit, lebenstüchtige Menschen und Wohlstand will, braucht nicht nur eine starke Bundeswehr, sondern ein noch stärkeres Bildungssystem.
Ob die Reise dahin geht?
Nun ja, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Auf jeden Fall werde ich am Montag/ nach den Sommerferien wieder – trotz alledem – gern in die Schule radeln.
Carsten Arbeiter ist Lehrer am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Konstanz und Fortbildner für das Fach Geschichte am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung in Baden-Württemberg. In seiner Freizeit schreibt er unter dem Pseudonym Matthias Moor Kriminalromane. Sein aktueller Titel ist „Schattensee“. Mehr Infos unter www.matthias-moor.de
Ein prima Beitrag. Gebe ich meinem lehramtsstudierenden Sohn weiter. Wollen Sie den Text nicht auch heimatnah bei seemoz anbieten?
Danke für das Feedback, lieber Herr Köhler! Der Text ist schon vor einiger im SÜDKURIER erschienen. Ich weiß nicht, ob SEEMOZ da noch Interesse hat…
Hätte ich auf meinem „krummen“ Bildungsweg nicht ein oder zwei Lehrer Ihres Formats gehabt, wäre ich sang- und klanglos untergegangen. Gut, dass es Leute wie sie gibt!