Ist die Debatte über die Wahlergebnisse in Bayern für die CSU und ganz besonders auch für die SPD nur aufgehoben? Ist es also wirklich „nur“ die Hessenwahl, die beide Parteien daran hindert, eine ehrliche Analyse abzuliefern, und die Gründe zu erkennen und zu benennen, die zur Abwendung vieler Menschen von beiden Parteien geführt haben? Fast ohne Echo blieb derweil die Tatsache, dass Berlin Ort der größten Demonstration von einer viertel Millionen Menschen war, die für eine humane Flüchtlingspolitik und für Soziale Gerechtigkeit stehen. Ihr Motto „Unteilbar“ – welch eine Ermutigung! Das war auch eine Antwort auf die Große Koalition und mutlose politische Bilanz.
Gleichzeitig war das mediale Interesse in Deutschland an diesem Vorgang eher gering. Ohne jede Randale, völlig friedlich, da erlahmt offenbar die Bereitschaft vieler Redaktionen, dem politischen Statement am großen Stern in Berlin wenigstens zwei Ausgaben lang Raum zu geben. Immerhin die größte Demonstration in Deutschland, die bewundernd weltweit von allen wichtigen Zeitungen quer in Süd und Nord des Erdballs registriert wurde. Dass sich die CDU in Sachsen schon bei „Wir sind mehr“ in Chemnitz und sich auch in Berlin von den Demonstranten distanzierte, hat vielleicht dazu beigetragen, warum besonders die CSU in der Bayernwahl abgestraft wurde. Man kann gespannt sein, ob dies überhaupt Erwähnung findet, wenn nach Hessen Bilanz gezogen wird, und vermutbar nur Horst Seehofer zum dankbaren Prügelknaben und einzigem Grund für den christsozialen Niedergang ausgerufen wird.
So auch die SPD, die mehr oder weniger deutlich, mit dem Finger auf die Spitzenkandidatin der Partei in Bayern verweist. Ganz sicher aber wäre es den Sozis dort besser ergangen, hätten sie aus Berlin Rückenwind spüren können. Der blieb aus und daran war durchaus nicht nur Horst Seehofer beteiligt. Andrea Nahles tat wirklich alles, um zu vermeiden, dass der Streit in den Unionsparteien als eignetliche Ursache bei der Wahl und ihrem Ausgang in Bayern hätte erkannt werden können. Wankelmütig in der Flüchtlingsfrage und gleichzeitig auffällig, weil sie die Völkerwanderung von 65 Millionen Menschen weltweit auch noch national verengte mit der Bemerkung „wir können doch nicht alle aufnehmen“.
Nicht ein einziger Hinweis von ihr, der sich von der CSU wirklich abgehoben und sich mit den Gründen der Völkerwanderung in Richtung Norden befasst hätte. Dabei war es Willy Brandt, der bereits l980 in seinem Nord-Süd-Bericht für die Vereinten Nationen „die Zusammenarbeit von Nord und Süd, und für die Struktur der Welt, in der unsere Kinder leben als Voraussetzung für den Weltfrieden“ forderte. Seine Nachfolgerin als Parteivorsitzende stärkte zudem auch noch die Unlust in manchen Gewerkschaften, sich für ambitionierte Ziele im Kampf gegen den Klimawandel einzusetzen. Ihr Besuch im Braunkohle-Revier von Brandenburg war dafür ein Beispiel. Statt die Landesregierung zu einem schnellen Ausstieg aus der Braunkohleförderung und –verstromung zu ermutigen, tat sie das Gegenteil. Brandts Vermächtnis einer Politik der „Versöhnung von Arbeit und Umwelt“ war damit aufgekündigt. Sie trennte erneut beide Bereiche, und machte die SPD stumm: Der Partei blieb nur das Schweigen im Wald. Dazu die Nachtsitzungen im Kanzleramt, als es um die Zukunft des Präsdenten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz ging oder darum, die Besitzer von Autos mit Dieselantrieb davor zu schützen, den Betrug der Autokonzerne durch Nachrüstung oder Fahrverbote auch noch selbst zu tragen und zu bezahlen. Welchen „Durchbruch“ bei Dieselgate mag sie gemeint haben, als sie weit nach Mitternacht das Ergebnis des Koalitionsausschusses verkündete.
Es gibt also einiges, was die Wahlkämpfer in Bayern verkraften mussten, ohne die Übellaunigkeit ihrer Wähler überwinden zu können. Nun wird es an Andrea Nahles liegen, ob sie aus den zurückliegenden politischen Fehlern und Unterlassungen der dritten Großen Koalition lernt, und wenigstens da anknüpft, wo die Sozialdemokraten mit Willy Brandt schon einmal programmatisch gestanden haben. Es liegt einzig und allein an ihr, zu verhindern, die kürzeste Amtszeit als Vorsitzende der großen alten Partei absolviert zu haben. Das Ergebnis in Hessen dürfte auch dazu beitragen, ob die gegenwärtige Mutlosigkeit von Zuversicht abgelöst wird, die existenzielle Krise der Sozialdemokratie zu meistern.
Bildquelle: Screenshot Google 18.10.2018