Das Jahr 1968, als das Attentat auf Rudi Dutschke massive Proteste und eine gewaltsame Blockade des Axel-Springer-Verlages in Berlin und die sog. Osterunruhen in der gesamten Republik auslöste, wird von vielen zu einer Zeitenwende in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, ja geradezu zur „soziokulturellen Neugründung“ (Gerd Koenen) der Republik stilisiert. 2018 liegt dieses Datum 50 Jahre zurück und zahllose selbsternannte „Zeithistoriker“ lassen sich über „die 68er“ aus.
Eher Konservative und Reaktionäre werden die damalige Bewegung einmal mehr für alles Übel der heutigen Zeit verantwortlich machen, um damit alles, was nur im Verdacht steht „links“ zu sein, zu denunzieren. Der jetzige Chef der CSU-Parlamentariergruppe, Alexander Dobrindt, forderte fünfzig Jahr nach 1968 „eine bürgerlich konservative Wende“ in Deutschland, die Schluss mache mit dem „ideologischen Feldzug gegen das Bürgertum“ . AfD-Chef Jörg Meuthen setzte noch einen drauf und erklärte, die AfD wolle „weg vom links-rot-grün versifften 68er Deutschland“.
Der erst 1968 geborene Philosoph Alexander Grau will im Zeitgeistmagazin „Cicero“ „den Muff von 50 Jahren endlich…beseitigen“ und tut die Studenten von 1968 als Sprösslinge „einer prosperierenden Wohlstandsgesellschaft“ ab, die den „eigenen Narzissmus und Hedonismus intellektuell“ mit der Idee rechtfertigten, „sexuelle Libertinage würde zu einer besseren Gesellschaft“ führe.
Der Holocaust-Forscher Götz Aly, dereinst selbst Aktivist in einer maoistischen „Proletarischen Linken“, sieht in dem 68er-Aufstand gegen die mit den NS-Gewaltverbrechen verstrickte Vätergeneration gar Parallelen zur nationalsozialistischen Studentenbewegung.
Eher liberal Gesinnte verleiben die Studentenbewegung ästhetisch ein, für die Popmusik, für neue Haartrachten, für sexuelle Freizügigkeit, für Pille oder Mini-Rock („Kinder von Marx und Coca Cola“) und politisch für die feministische Emanzipation oder für Bürgerrechtsbewegungen. Ganz Wohlmeinende werden den 68ern die Überwindung eines spießbürgerlichen Autoritarismus und eine Liberalisierung der Gesellschaft zurechnen.
Zur Rezeption der 68er siehe Joachim Scharloth, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, Wilhelm Fink Verlag, München 201
Für mich als Zeitzeuge und Aktivist dieser „68er“ redeten und schrieben schon in der Vergangenheit allzu viele, die sich über dieses Thema ausließen, wie Blinde über die Farbe, die meisten projizierten nur ihre eigene Gesinnung oder ihre Vorurteile in die damalige Bewegung hinein.
Die Frage ist, ob nicht völlig unterschiedliche Ereignisse in einen historischen Zusammenhang gebracht werden? Das beginnt schon damit, dass es den Begriff „68er“ im Jahre 1968 gar nicht gab.
Viele, die über die „68er“ reden, meinen eher die nachfolgenden 70er Jahre, als sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund schon längst sang- und klanglos aufgelöst hatte und die Studentenbewegung sich in eine kaum noch überschaubare Zahl von Grüppchen und Sekten aufgesplittert und zerfasert hatte, die jedenfalls keine gemeinsamen Aktionen mehr zustande brachten, die noch einen beachtlichen Teil der Bevölkerung erreicht hätten. Das ist erst wieder der Friedensbewegung mit den Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss 1981 bis 1983 wieder gelungen.
Das Jahr 1968 der Höhepunkt und der Beginn des Zerfalls der 68er-Bewegung
Die Chiffre „68“ hat insoweit ihre Berechtigung, als das Jahr 1968 der Höhepunkt der Studentenbewegung und der sich daraus entwickelnden außerparlamentarischen Opposition war und zugleich der Beginn Ihres raschen Zerfalls. Um die Mobilisierung und Politisierung vor allem der akademischen Jugend zu verstehen, muss man daher auf die Jahre davor schauen.
So auch Knut Nevermann, Selbstpolitisierung der akademischen Jugend 1966 bis 1968. Siehe auch Jeanette Seiffert, Die 68er in der SPD, „Marsch durch die Institutionen?“, Bouvier, Bonn 2009
Von einem Zeitabschnitt vorher – nämlich von Ende 1964 bis einschließlich 1968 – will ich ganz subjektiv und in der zeitlichen Abfolge erzählen, wie ich die Bewegung erlebt und gesehen und mich selbst engagiert habe.
Das soll kein im strengen Sinne historischer Rückblick sein, dazu hätte ich viele Quellen heranziehen und auswerten müssen. Ich habe damals leider kein Tagebuch geführt, aber ich habe meine Kalender ausgegraben und meinen Akten- und Bücherkeller durchstöbert. Vielfach habe ich auf Schriften von damals und bei bestimmten Ereignissen auch auf Internet-Suchmaschinen zurückgegriffen, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Ich will aber im Wesentlichen nur über meine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen berichten.
Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit der Väter
Ich muss vorausschicken, dass ich mich, weil mein Vater Mitglied der NSDAP war, schon als Schüler intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt habe. Und das auch sehr persönlich mit meinem Vater, der angeblich nur als Mitglied eines Motorrad-Clubs kollektiv in die Nazi-Partei übergeleitet worden sei und der – nach seinen Aussagen – nichts von der Verfolgung und Ermordung der Juden mitbekommen haben will. Auch von der „Rassenhygiene“ und der Ermordung geistig und psychisch behinderter Menschen will er damals nichts erfahren haben, obwohl – gerade einen Steinwurf von unserem Haus entfernt – aus der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal, hunderte behinderte Menschen deportiert und die meisten getötet wurden. Sie seien an die frische Luft auf die Schwäbische Alb verbracht worden, behauptete mein Vater. Unser Pfarrer erzählte uns im Konfirmandenunterricht die wahre Geschichte und sagte, dass das ganze Dorf die Wahrheit kannte oder hätte kennen müssen. Über seine Verdrängung des furchtbaren Geschehens habe ich mich mit meinem Vater so heftig zerstritten, dass wir uns jahrelang nur noch über Belanglosigkeiten austauschen und keinerlei politischen Gespräche mehr führen konnten. Zum Glück habe ich mich vor seinem Tod mit ihm aussöhnen können.
Schon in meiner Schulzeit war ich mehrere Jahre Klassen- oder Schulsprecher oder Stellvertreter. In der Unterprima haben wir erstmals eine Schülerzeitung am Staufer-Gymnasium in Waiblingen, einer württembergischen Kleinstadt nordöstlich von Stuttgart, herausgegeben, in der wir über die NS-Vergangenheit vieler unserer Lehrer berichtet hatten. Die Zeitung wurde aber schon mit der ersten Ausgabe vom Rektorat konfisziert. Vermutlich waren einige Angaben nicht ganz korrekt und das bot der Schulleitung Gelegenheit die Verteilung zu unterbinden.
Der erste Rektor unserer Schule nach dem Krieg war in der Nazi-Zeit Leiter einer „Napola“ (Nationalpolitische Erziehungsanstalt), der Physik-Lehrer kam aus dem Baltikum und musste wohl auch deshalb flüchten, weil er Nazi war. Der Geschichtslehrer kam aus Böhmen und trauerte offenbar darüber nach, dass er vom Körperwuchs her für die SS zu klein war. Er hat damals meine Zugehörigkeit zur „dinarischen Rasse“ bestimmt. Auch der Französisch-Lehrer war wohl NSDAP-Mitglied. Und dann war da noch unser Deutschlehrer, ein „BluBo“(Blut und Boden)-Dichter, der Gedichte sprichwörtlich geschwollen vortrug. Dass an unserer Schule so viele ehemaligen Nazis unterrichteten, lag wohl daran, dass diese Lehrer im „liberalen“ Stuttgart von den Eltern der Schüler nicht akzeptiert worden wären und so schickte die Kultusverwaltung die Vorbelastateten in die Vorstadt, wo auch viele „Fahrschüler“ zur Schule gingen, die in der ersten Generation aufs Gymnasium gingen und deren Eltern nicht den Mut zum Protest oder eben selbst eine Nazi-Vergangenheit hatten.
Kein Wunder, dass der Geschichtsunterricht an unserer Schule mit der Weimarer Zeit endete.
Möglicherweise lag es gerade an der Nazi-Vergangenheit eines beachtlichen Teils unseres „Lehrkörpers“, dass eine ganze Reihe von Schülern, die dieses Gymnasium durchlaufen haben, später in der Studentenbewegung oder innerhalb der politischen Linken an vorderer Linie stand.
So etwa Dieter Läpple als AStA-Vorsitzender an der TU Berlin, Niels Kadritzke und Hartmut Häußermann, hintereinander AStA-Vorsitzende an der FU Berlin oder Dieter Schimanke , mit dem ich zusammen in einer Klasse und im Vorstand der Schülervertretung war, als AStA-Chef in Tübingen oder Rainer Rilling, der eine Klasse unter mir war und als Vertreter der „Marburger Schule“ in vielen Funktionen der linken Bewegung bis heute aktiv ist.
Es mag sein, dass meine Generation – wie Götz Aly meint – „den alten Dreck ausschwitzte“, wie man aber in der Auseinandersetzung mit der Vätergeneration und der Beschäftigung mit dem Faschismus als wichtige Impulse der studentischen Revolte „Parallelen zur nationalsozialistischen Studentenbewegung“ erkennen will, erscheint mir als eine ziemlich absurde Zusammenführung von Gegensätzen.
Die Flucht aus dem schwäbisch pietistischen Milieu nach West-Berlin
Obwohl ich mich – um Geld für ein geplantes Studium herauszuschlagen und um damit nicht meinen Eltern auf der Tasche liegen zu müssen – für zwei Jahre beim „Bund“ verpflichtet hatte, wurde ich – zu meinem Glück – wegen eines im Wehrdienst zugezogenen Meniskusschadens nach wenigen Monaten ohne Dienstgrad wieder aus der Bundeswehr entlassen. Danach war für mich völlig klar, dass ich in Berlin studieren wollte. Dort waren auch schon ein Junge aus meiner Nachbarschaft, Ulf Kadritzke, und Hartmut Häußermann, den ich aus dem Staufer-Gymnasium in Waiblingen kannte.
Ulf Kadritzke war bis 2008 Professor für Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er veröffentlichte Studien zur Arbeits- und Industriesoziologie, zur Soziologie und Ideologie des Managements, zur Geschichte und Soziologie der Angestellten sowie zur Klassenstruktur moderner Gesellschaften. Siehe auch den Vortrag „Von der Kritischen Universität zur Bachelor-Hochschule“, am 13. Juni 2017. Siehe auch Mythos »Mitte« Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage.
Hartmut Häußermann († 31. Oktober 2011) war Professor für Regional- und Stadtsoziologie an der Universität Kassel (1976–1978), der Universität Bremen (1978–1993) und 1993–2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2002 bis 2006 war er Präsident des Research Committee on Regional and Urban Development der International Sociological Association (ISA)
Mit Hartmut Häußermann war ich kurze Zeit nach meinem Wechsel von der Mittelschule aufs Gymnasium in einer Klasse. Ein für die damalige Zeit typisches Ereignis ist mir in bleibender Erinnerung. Der Klassenlehrer machte in einer der ersten Stunden die Einträge ins Klassenbuch. Dabei wurden auch die Berufe der Väter (!) erfragt. Da waren dann Apotheker, Anwälte, Pfarrer, vielleicht auch einmal ein Landwirt dabei, als die Reihe an Häußermann kam, nannte er den Beruf seines Vaters, nämlich Krankenwagenfahrer. Das war das einzige Mal, dass der Klassenlehrer aufgeblickt und den Jungen angeschaut hat. So war eben damals die Zusammensetzung der Gymnasiasten, der Sohn eines Arbeiters auf einem Gymnasium war ein Exot.
Auf keinen Fall wollte ich ins nahe gelegene Tübingen, wo ich häufiger Besuch von zu Hause bekommen hätte oder aber von meinen Eltern erwartet worden wäre, dass ich sie regelmäßig zu Hause besuchte. Ich wollte aus dem – wie ich das nannte – „außennormorientierten“ schwäbischen („Man hat…“, „man soll…“, „man muss…“) und vor allem aus dem pietistischen Milieu meiner Familie weitest möglich fliehen. Und da war das auf dem Territorium der damaligen „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) liegende West-Berlin nicht nur weit genug vom württembergischen Remstal entfernt, sondern für einen politisch interessierten Menschen auch der spannendste Studienort.
Ich schrieb mich also im Wintersemester 1964/65 an der Freien Universität im Hauptfach Jura an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und im Nebenfach am Otto-Suhr-Institut, dem OSI, für das Fach Politische Wissenschaften ein. Es ging gerade los mit Zulassungsbeschränkungen. Ich hatte Glück, mein Abiturdurchschnitt von 2,4 – das war für damalige Verhältnisse gar nicht so schlecht – reichte so gerade. Meine Eltern unterstützten mich mit 250 Mark monatlich. Das war für sie ein beachtliches finanzielles Opfer.
Die einen Tag und eine halbe Nacht andauernde Reise nach West-Berlin machte ich als Mitfahrer eines Fernlasters einer Speditionsfirma aus Stuttgart. Mein Vater kannte deren Chef, weil er als Leiter des Versands in einer Schraubenfabrik mit dessen Firma viele Transportaufträge abwickelte. Als Gepäck hatte ich nur einen großen Koffer aus Pappmaschee. Ulf Kadritzke, einer der Zwillinge aus meiner Nachbarschaft, der schon etwas länger an der FU Soziologie studierte, vermittelte mir eine erste Unterkunft in einer Wohngemeinschaft, die in einer großen Wohnung im vierten Stock eines Altbaus in der Joachimsthaler Straße hauste – nicht weit entfernt vom „Kudamm“, also mitten in West-Berlin. Das typische Berliner Vorderhaus war nur noch teilweise bewohnt und zwar überwiegend von Rentnern, die – meist als Wittwer – jeweils allein in riesigen Wohnungen lebten. Wir Studierenden kamen nur deshalb dort unter, weil mit uns keine langfristigen Mietverträge abgeschlossen zu werden brauchten. Die Häuser waren nämlich zum Abriss freigegeben für Geschäftspaläste, wie man sie heute dort sieht. Man wartete nur darauf, dass die Rentner, denen man vermutlich nicht kündigen konnte oder wollte, wegstarben.
Ich versuchte mich in diese neue Welt des Studentenlebens einzufinden. Alles war neu, aufregend und chaotisch.
Ich benutze hier und im weiteren Text die männliche Form von „Studenten“ auch deshalb, weil das dem Sprachgebrauch von damals entsprach, weil die Emanzipation der Frau bis 1968 bestenfalls als „Nebenwiderspruch“ weit hintan stand.
Es gab häufiger lautstarke Auseinandersetzungen mit den im Haus lebenden Rentnern, wenn in unserer WG nachts mal wieder die Musik zu laut war. Dafür schlugen am frühen Morgen oftmals die Krückstöcke gegen unsere Wohnungstür und trommelten uns aus den Matratzen. Die „Joachimsthaler“ war, auf den Kudamm zulaufend, ein „Straßenstrich“. Als Junge vom Land begegnete ich erstmals in meinem Leben Dirnen. Das war manchmal ein bisschen wie in Billy Wilders Film „Irma la Douce“. Es gab eine Reihe von ziemlich heruntergekommenen Kneipen, wo unsere Wohngemeinschaft häufiger abends ein Bierchen trinken ging. Die Jungs kannten die Dirnen mit Namen und da es zu meiner Zeit dort gerade Winter war, wärmten sich die Frauen öfters mal auf. Wir wurden in Ruhe gelassen, denn wir schieden mangels Geldes als Kunden aus. Im Gegenteil, einige der Damen luden uns nach einem guten Fang zu einer Runde Schultheiss Bier ein.
In den ersten Wochen musste ich mich erst einmal in das Großstadtleben und in den Uni-Betrieb eingewöhnen. Ich besuchte nur sporadisch Vorlesungen, oft traf ich mich mit meinen schwäbischen Landsleuten in der Mensa. Einigermaßen regelmäßig war ich in den Vorlesungen des Strafrechtlers und damaligen Dekans der „JurFak“ Hermann Blei (CDU). Dessen nachmittägliche Doppelstunden waren ein Schauspiel. Er hatte eine quakende Stimme und schwitzte fürchterlich und in der Pause trank er eine Flasche Bier. Seine Fallbeispiele waren meist anzüglich, etwa nach dem Motto: Die Prostituierte P… und Zuhälter Z…. Ab und zu hörte ich auch den späteren Bundespräsidenten Roman Herzog im Staatsrecht. Ich versuchte ich sogar eine Klausur im Anfängerkurs Strafrecht, allerdings war dieser Versuch „ungenügend“.
Die Juristische Fakultät war für mich ein Ausbund an Konservativismus. So forderte etwa der Verwaltungsrecht-Professor Karl August Bettermann auf der 150-Jahrfeier der Deutschen Burschenschaft im Juni 1965, nachdem es kurz zuvor die ersten Unruhen an der FU gab, die versammelten korporierten Studenten auf: „Machen Sie einen neuen Anfang, bringen Sie uns unsere Universität wieder in Ordnung. In diesem Sinne rufe ich: Burschen heraus!'“
An diesem Burschentag nahm übrigens u.a. auch der Regierende Bürgermeister Berlins und SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt und der Vizekanzler und Vorsitzende der FDP, Erich Mende, teil.
Es gab zu dieser Zeit noch 160 Mensur schlagende Verbindungen mit ca. 6.300 Studenten und 24.000 Alte Herren. (Freie Universität Berlin 1948 – 1973 Hochschule im Umbruch Teil IV 1964-1967, Dokumentation FU Berlin Nr. 15/73, S. 32)
Erinnern kann ich mich vor allem an eine Vorlesung des Soziologieprofessors Ludwig von Friedeburg – später Wissenschaftsminister in Hessen – zum Thema Militärsoziologie. Haften geblieben ist mir die von ihm vertretene These, dass die Unternehmerseite der Einführung der Bundeswehr Mitte der boomenden fünfziger Jahre nur unter der Bedingung zustimmte, dass die Bundesregierung Gastarbeiter als Kompensation für die eingezogenen deutschen Arbeitskräfte anwarb. In dieser Vorlesung traf sich alles, was unter den Studierenden politisch links war oder sich so fühlte. Danach gab es in der Mensa immer heiße Debatten.
Die Soziologie oder allgemein die Sozialwissenschaften waren für mich damals so etwas wie ein wissenschaftlicher Überbau, sie setzten sich kritisch mit der Gesellschaft auseinander und lieferte Erklärungen für Vieles was in anderen Studiengängen, zumal auch in der Juristerei nicht gelehrt oder ausgespart wurde.
Anstoßpunkte für politisches Engagement
Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz kamen in ihrer empirischen Erhebung „Student und Politik“ (Student und Politik, Neuwied, 1961) schon 1961 zu dem Befund, dass 66 Prozent der befragten Studenten apolitisch, 16 Prozent autoritätsgebunden und nur 9 Prozent einem „definitiv demokratischen Potenzial“ zuzurechnen seien.
Das entsprach nicht meiner Erfahrung an der Freien Universität. In Berlin gab es viele Themen, die uns Studenten umtrieben, und eine Menge Anstoßpunkte für zunächst hochschulpolitisches, später aber auch allgemeinpolitisches Engagement.
Der hochschulpolitische Ausgangspunkt
Was bei den meisten Deutungen der „68er“-Bewegung zu kurz kommt, das ist die Tatsache, dass Ausgangspunkt für das studentische Engagement die Hochschule selbst war:
– Die Freie Universität hatte mit dem Modell einer „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“ ein von den Amerikanern bei ihrer Gründung vermachtes und für damalige Verhältnisse weitgehendes Modell studentischer Mitwirkung in der Hochschulselbstverwaltung. Das hat das politische Engagement der Studenten in besonderer Weise gefördert, mehr und mehr aber auch Konflikte mit einer im hergebrachten autoritären Stil vorgehenden Hochschulleitung und einer überwiegend konservativen Professorenschaft heraufbeschworen.
Der AStA der FU hatte mehrere Sekretärinnen, sogar einen Dienstwagen, eine Druckmaschine für Flugblätter und in den Büros gab es Telefone, mit denen man – wenn man einigermaßen geübt war – durch Rütteln an der Gabel kostenlos telefonieren konnte.
– Dass die Sowjetunion 1957 mit dem „Sputnik“ den Wettlauf mit den USA um den ersten künstlichen Erdsatelliten gewonnen hatte, löste Ängste vor einem technologischen Rückstand des Westens gegenüber dem „kommunistischen Lager“ aus. Mit seiner 1964 erschienenen Streitschrift „Die deutsche Bildungskatastrophe“ löste der (eher konservative) Philosoph und Theologe Georg Picht einen Schub bildungspolitischer Reformen aus. Die damit aber gleichzeitig in Gang gekommenen technokratischen Regulierungen des Studiums an den Universitäten, etwa mit dem Vorschlag des Wissenschaftsrats zur Einführung einer Regelstudienzeit von 8 Semestern oder die von der Westdeutschen Rektorenkonferenz in die Debatte gebrachte „befristete Immatrikulation“, wurden von studentischer Seite als „Zwangsexmatrikulationen“ bekämpft. Die schon 1961 erstmals veröffentlichte SDS-Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ wurde für die politisch aktiven Studenten plötzlich zur studentischen Pflichtlektüre. (Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrick K. Preuß, Hochschule in der Demokratie, als Luchterhand Taschenbuch erschienen 1965) Später kam noch die Streitschrift „Wider die Untertanenfabrik“ dazu. (Herausgegeben von Stephan Leibfried im Pahl-Rugenstein Verlag (1967))
„Demokratisierung der Hochschule“ wurde zur politischen Kampfparole.
Siehe dazu den Rückblick von Wolfgang Nitsch, Hochschule in der Demokratie – Demokratie in der Hochschule: Zwischenbilanz eines uneingelösten Vermächtnisses, Bund demokratischer Wissenschaften .
– Öl ins Feuer gossen Pläne zur Änderung der Disziplinarordnung und zur Einführung eines Ordnungsrechts an der FU.
– Mit dem Verbot einer Urabstimmung gegen die Einführung von Regelstudienzeiten an verschiedenen Fakultäten entfachte der im Sommersemester 1964 gewählte FU-Rektor Herbert Luers, Genetiker vom Fach, zusätzlichen Streit.
– Es gab Proteste wegen des mangelnden Auf- und Ausbaus der Hochschulen und wegen Kürzungen des Wissenschaftsetats: „In der Rüstung sind sie fix/für die Bildung tun sie nix“.
– Es kam zur Auseinandersetzung mit der FU-Hochschulleitung und der Berliner Wissenschaftsverwaltung über die Wahrnehmung eines sog. „politischen Mandats“ der verfassten Studentenschaft.
Als die Studenten an der Freien Universität noch brav in den antikommunistischen Chor der öffentlichen und veröffentlichten Meinung einstimmten – etwa bei der Wiederbewaffnung oder mit der Wiedervereinigungspolitik Adenauers – wurde von Hochschulleitung und Politik an der Wahrnehmung eines politischen Mandats durch AStA und Studentenparlament nie Anstand genommen. Nachdem aber auf dem Campus z.B. über den mit Napalm und Entlaubungsmitteln geführten Krieg der USA in Vietnam diskutiert werden sollte, hat die akademische Verwaltung dem AStA abgesprochen, zu solchen Themen Stellung zu nehmen oder thematisch einschlägige Veranstaltungen zu organisieren.
– Als Reaktion auf die zunehmende Reglementierung des Studiums stellten vor allem die politisch aktiven Studenten mehr und mehr auch die Studieninhalte in Frage. Wir polemisierten gegen das „Fachidiotentum“. Diese Kritik mündete später in Vorlesungsreihen der „Kritischen Universität“ ein.
(Kritische Universität, Freie Studienorganisation in den Berliner Hoch- und Fachschulen, AStA der FU, Berlin 1967, Oberbaumpresse).
– Unter dem heftigen Protest vor allem der betroffenen Professoren druckte die offizielle Studentenzeitung, der „FU-Spiegel“, ab Anfang 1966 (nach amerikanischem Vorbild) Vorlesungsrezensionen. Gegen den damaligen Chefredakteur Hartmut Häußermann gab es deshalb ein Disziplinarverfahren, eingeleitet vom späteren Bundespräsidenten Roman Herzog.
– Das humboldtschen Universitätsideal von „Bildung durch Wissenschaft“ wurde durch die Lektüre marxistischer Wirtschaftstheorien umgedeutet in ein Verständnis von „Wissenschaft als Produktivkraft“, die der gesellschaftlichen Reproduktion diene. Ein wissenschaftliches Studium wurde damit als „gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit“ definiert. Da war es dann auch nur konsequent, dass wir ein „Studienhonorar“ forderten. Die Studienförderung nach dem Honnefer Modell, dem Vorläufer des BAföG, haben wir als willkürliches Almosen abgetan.
Vielfach wird die These vertreten, dass die tiefere Ursache der studentischen Proteste letztlich im Aufkommen der „Massenuniversität“ und dem damit einhergehenden Verlust der Privilegien einer Bildungselite liege. Es ist zwar eine Tatsache, dass ab den 60er Jahren eine beachtliche Bildungsexpansion stattfand und auch bildungsfernere Schichten an die Hochschulen gelangten, doch wenn man die Streitpunkte betrachtet, an denen sich studentische Hochschulpolitik entzündete, dann ging es weniger um die Verteidigung eines gesellschaftlichen Status, sondern vielmehr um Konflikte mit Autoritäten, um mehr Demokratie und Transparenz oder um Kritik an der herrschenden „bürgerlichen“ Wissenschaft.
Ich kann mein bildungspolitisches Engagement jedenfalls nicht als einen „Omnibus-Reflex“ empfinden – will sagen, man ist selbst im Bus und schließt die Tür vor den draußen noch Wartenden –, im Gegenteil, wir setzten uns für das „katholische Mädchen vom Land“, das damals als Exempel für die Bildungsbenachteiligung galt, ein. Bei der „Aktion 1.Juli – Bildung in Deutschland“ gingen am 1. Juli 1965 in Westdeutschland über 100.000 Studenten für ein besseres und gerechteres Bildungswesen auf die Straße – allein in Berlin waren es 10.000.