Nicht das Grundgesetz, die Leute schaffen ein freies Land…
…und können es auch wieder zerstören.
Vorweg sei es vermerkt: das GG ist kein Greis sondern eine ziemlich geniale Verfassung. Und der Ort, an dem es erarbeitet, beschlossen und verkündet wurde, verdient im öffentlichen Gedächtnis einen Ehrenplatz. Den hat Bonn aber bislang nicht bekommen.
Merkwürdig, dass Berlin ein teures Denkmal für die Einheit bekommt, die in den Augen vieler Bürger*innen längst nicht vollendet ist – manche sagen auch, die Risse würden tiefer. Aber niemand ist auf die Idee gekommen, am Tagungsort des Parlamentarischen Rates eine Freiheitsstatue zu errichten. Gerade angesichts der hymnischen Elogen dieser Tage bleibt das unverständlich.
Die ehemalige Bonner Pädagogische Akademie, später Bundeshaus hätte ein solches Mahnmal für die Freiheit doppelt verdient, denn hier entstand die bisher stabilste und freiheitlichste Demokratie auf deutschem Boden. Ohne die Bonner Republik ist der bisher einmalige Glücksfall der deutschen Geschichte nicht vorstellbar.
Deshalb ist es auch merkwürdig, dass der Bundespräsident, der in Bonn immerhin einen Amtssitz hat und gerade wieder einmal da war, kurz vor dem Jahrestag des Grundgesetzes Bonn verlässt. Ebenso merkwürdig ist es, dass in Berlin offenbar niemandem aus Regierung und Parlament auch nur der Gedanke gekommen ist, dieser 70. Geburtstag des Grundgesetzes und der Bonner Republik müsse in Bonn und nirgendwo anders besonders begangen werden.
Man kann aber auch argumentieren, dass nicht das Grundgesetz für seinen Erfolg verantwortlich ist, sondern die Menschen, die die letzten 70 Jahre dieses „Angebot“ (Carlo Schmid) angenommen haben. Wie wäre es der Bonner Republik ergangen, wenn die Entmilitarisierung nicht erfolgt wäre, wenn die „bei-Hitler-war-nicht-alles-schlecht-Fraktion“ die Stimmung im Land hätte prägen können wie es Hindenburg und die Reichswehr mit ihrer Dolchstoßlegende 1919ff geschafft haben? Wäre dann die Ordnung des GG genauso schnell zusammengeklappt wie die Weimarer nach nur 14 Jahren? Kürzlich hat ein Experte in einer Bonner Zeitung gemutmaßt: sogar schneller sei die Bonner Republik gescheitert als die Weimarer, hätte sie von Anbeginn ähnliche Herausforderungen bestehen müssen. Sei’s d’rum – hat sie aber nicht.
Und so hatten die (West-)Deutschen die Chance, erstmals eine stabile Demokratie aufzubauen. Noch in den 60er Jahren klang „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ als etwas konservativ-autoritäres, gern als „fdGO“ geschmäht. Erst mit dem Motto „mehr Demokratie wagen“ änderte sich das ab 1969. Auch die politische und rechtliche Umsetzung des berühmtesten Artikels, der noch nicht in der Weimarer Verfassung gestanden hatte, dauerte über 30 Jahre. Gemeint ist natürlich: Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Dies ist auch der Artikel, der zeigt, dass die Annahme von Angeboten einer Verfassung eine Gesellschaft verändern können. Mit viel Mühen hatte der Artikel eine Mehrheit im Parlamentarischen Rat bekommen, mehrheitsfähig waren seine Folgen in Gesellschaft und Politik zunächst aber nicht.
Es gibt ein schönes Foto von eine Menschenmenge, die draußen vor den Fenstern der Pädagogischen Akademie in Bonn steht und dem Parlamentarischen Rat bei seiner Arbeit zusieht – und über offene Fenster auch zuhört. Der Eindruck von Interesse, den es hervorruft, wird in vielen Rückblicken geleugnet. Die Menschen hätten 1948/49 naheliegendere Sorgen gehabt: Jobs, Nahrung, Dächer über den Köpfen, Wiederaufbau – eine verfassunggebende Versammlung, die nicht einmal so hieß, sei da wohl allenfalls am Rande wahrgenommen worden. Das ist plausibel.
Das ist sicher auch der Hintergrund, der Carlo Schmids Wort vom Angebot, den das GG darstelle, erklärt. So kann es auch sein, dass die zunächst noch aktive Generation mit ihren zahllosen Nazis, Ex-Nazis und Mitläufern das Grundgesetz lediglich hinnahm und nolens volens – von den wirklich aufregenden Kontroversen bis zur Wiederbewaffnung abgesehen – vor allem formal erfüllte. Aber schon die nächste Generation, die der kurz vor der Nazi-Diktatur Geborenen begann mit dem GG Ernst zu machen. Günstige Umstände, wie wirtschaftlicher Erfolg, der inneren Zusammenhalt stärkende Kalte Krieg mögen beigetragen haben, dass es schließlich genug Demokrat*innen in Deutschland gab, um dem Grundgesetz den nun gefeierten Erfolg zu bescheren. Es sind also die Menschen, nicht die zweifelsfreie Genialität der Verfassung selbst, die die Freiheit sichern.
Und sie sind es auch, die der Verfassung wieder den Garaus machen können. Äußere Umstände, die den Zusammenhalt stärken könnten, sind durchaus erkennbar, auch der wirtschaftliche Erfolg ist 2019 in Deutschland zweifelsfrei gegeben. Das ist ähnlich günstig wie vor 70 Jahren. Manchen Heutigen scheint die Welt auch viel sicherer und übersichtlicher zu sein, als wir sie uns unter den Trümmern vorzustellen vermögen. Und unter Trümmern lagen viele Städte in Europa.
Trotzdem scheint die Freiheit heute immer mehr Menschen zu mühselig zu sein.Sie wählen sie ab.
Die Vielhundertjährige Kriegsgeschichte Europas – zunächst Kriege zwischen Herrscherhäusern und erst spät zwischen „Nationen“, die ja erst im 18. Jahrhundert erfunden worden sind – die im Zweiten Weltkrieg ihren zerstörerischten Höhepunkt erreicht hat (was nicht heißt, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte), ist daher auch eine der ideellen Mütter des Grundgesetzes. In diesem Sinne sollen zwei Formulierungen hervorgehoben werden, die von den EU-Gegnern und den Rechten (nicht nur) in Deutschland besser beachtet werden sollten:
…von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Mitglied (das D 1949 nicht war ww) in einem vereinten Europa (das es 1949 nicht gab ww) dem Frieden in der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben….
Das ist aus der Präambel und ebenso hervorheben möchte ich insbesondere angesichts der dummen Parole vom Europa der Vaterländer Artikel 24:
Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen….(24/1) …..er wird hierbei in Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. (aus Art24/2)
Die Geltungsdauer von Verfassungen hat auch mit der Interpretationsfähigkeit ihrer Normen zu tun; insoweit kann alles gedreht und gewendet werden. Nur dahinter, dass in Relation zu Frieden und Völkerverständigung alles Nationalistische gegen Geist und Buchstabe des Grundgesetzes verstößt, kann man diese Formulierungen nicht zurückdrehen.
Aber natürlich kann auch das abgewählt werden zugunsten eines „Europa der (konkurrierenden, nationalistsichen) Vaterländer“, wie es neuerdngs wieder Mode wird.
Von Rechts werden fast überall in Europa noch viele andere Normen in Frage gestellt und verletzt.
„Unsere“ – oder noch nebulöser :“nationale“ – Werte werden nicht präzise formuliert aber gegen sowohl Freiheitsrechte als auch gegen die EU hochgehalten. Es gibt aber einen Text, der genau definiert, was „unsere Werte“ sind, den findet man aber nicht bei den Rechtsnationalisten sondern es ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Da steht alles drin, was Sicherheitsfanatiker gefährlich und Freiheitsliebende herrlich finden.
Und übrigens: Ein Europa, dem die Bundesrepublik angehört, muss Bedingungen erfüllen. Das steht so im Artikel 23 des GG, nämlich:
…eine europäische Union, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen entspricht…und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet..
Wahrscheinlich ist es genau das, was die Rechtsnationalisten so an EU-Europa stört und was in den „Vaterländern“ ohne EU ohne weiteres abgeschafft werden könnte: die Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst, Asylrecht, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, die ja das Verbot des Rassismus impliziert – um nur einige zu nennen, die von Rechts derzeit wieder scharf angegriffen und – wo es den Rechten schon möglich ist – auch missachtet werden.
Wer also dem GG am 70. Geburtstag wirklich zustimmt, der kann folgerichtig nur dann wählen, wenn sein Kreuz nicht bei EU-Gegnern gemacht wird. EU-Gegner sind alle rechten Parteien in Europa; EU-Kritiker hingegen, sind wohl wir – alle anderen.
Bildquelle: Wikipedia, Fotografie von Andreas Praefcke, gemeinfrei.
Faksimile des Grundgesetzes von 1949, wie es jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates erhielt (Exemplar von Theodor Heuss im Theodor-Heuss-Haus Stuttgart; Eigentum Familienarchiv Heuss)