Vor 250 Jahren, genauer am 14. September 1769, wurde Alexander von Humboldt in Berlin geboren. 50 Jahre später, am 30. Dezember 1819, kam Theodor Fontane in Neuruppin zur Welt. Ihnen wurden im Jahr 2019 zahlreiche Erinnerungen und Gedenkveranstaltungen gewidmet. Der weltberühmte Forschungsreisende und Naturforscher, der auf Grund seiner naturwissenschaftlichen Studien in Lateinamerika und seiner Berichte darüber dort bis heute besonders verehrt wird, sowie einer der bedeutendsten deutschen Dichter des Realismus, dessen Karriere als Romancier erst nach Humboldts Tod begann, mögen sich vielleicht einmal von Ferne oder in einem der intellektuellen Salons Berlins begegnet sein, aber persönlich bekannt im eigentlichen Sinne waren sie nicht. Dennoch finden sich Verbindungslinien zwischen beiden. Es lassen sich vor allem Berührungspunkte mit zwei zu ihrer Zeit sehr bekannten Schriftstellern aufzeigen, deren Namen heute kaum noch jemand kennt und die in meinem Bücherschrank unter Amerikaliteratur stehen: Joachim Heinrich Campe, der erste Hauslehrer der Brüder von Humboldt, und Balduin Möllhausen, der im Haus von Alexander von Humboldt seine zukünftige Frau kennenlernte, die möglicherweise eine Tochter Humboldts war. Möllhausen machte mehr als zwanzig Jahre nach Humboldts Tod die Bekanntschaft mit Theodor Fontane, der ein Vorwort für eine Sammlung mit Möllhausens Erzählungen schrieb und einen seiner Romane nach dem Vorbild von Möllhausen strukturierte. Dieser Roman ist im Gegensatz zu Fontanes anderen Werken heute so gut wie vergessen – und gehört ebenfalls in die Kategorie Amerikaliteratur.
Aber der Reihe nach: Wilhelm (1767-1835) und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alexander von Humboldt (1769-1859) waren nicht nur mit Goethe
und Schiller bekannt, sondern beide seit ihrer Kindheit auch mit Campe. Alexander lernte im Alter Möllhausen kennen, als dieser noch keine literarischen Meriten hatte und seine Karriere als Schriftsteller gerade erst begann. Joachim Heinrich Campe (1746-1818) war der erste Hauslehrer der Humboldt-Brüder. Sein Wirken als Pädagoge und Kinder- und Jugendschriftsteller wurde von Goethe sehr geschätzt, wie man in Eckermanns „Gesprächen mit Goethe“ nachlesen kann: „Auch halte ich in der Tat ein großes Stück auf Campe. Er hat den Kindern unglaubliche Dienste geleistet.“ Als Verleger, der er seit 1786 war, publizierte er nicht nur seine eigenen Werke, sondern 1790 auch die erste kleine Schrift Alexander von Humboldts über „Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein“. Campe gilt bei uns mit seinem an Daniel Defoe angelehnten, 1779 erschienenen „Robinson der Jüngere“ und seiner dreibändigen „Entdeckung von Amerika“ aus dem Jahr 1781 als ein Begründer des eigenständigen Genres der Kinder- und Jugendliteratur.
Nicht nur Campes „Entdeckung von Amerika“, in der er erzählerisch den Spuren von Kolumbus, Cortés und Pizarro folgt, sondern auch die mehrbändigen „Reisebeschreibungen für die Jugend“ ihres ehemaligen Hauslehrers werden im Hause Humboldt bekannt gewesen sein und die Neugier und den Wissensdurst der Jungen befeuert haben. Beide Brüder blieben auch als Erwachsene mit Campe verbunden. So lud dieser beispielsweise den zwanzig Jahre jüngeren Wilhelm von Humboldt zu einer Reise nach Paris ein, wo sie zusammen im August 1789 die französische Revolution aus nächster Nähe beobachteten. Alexander korrespondierte mit Campe, z. B. über seine erste Veröffentlichung und seine Reise nach England und Frankreich im Jahr 1790. Und Campes allgemeine Ideen zur Erziehung und speziell zur Rolle der Universitäten, die er 1792 publizierte, werden auf den Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt Eindruck gemacht haben.
Balduin Möllhausen (1825-1905) erlangte Berühmtheit als Amerikareisender und Romanautor. Als solcher gehörte er zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern seiner Zeit. Er schrieb zwei Reiseberichte über wissenschaftliche Expeditionen, an denen er teilgenommen hatte, nämlich vom Mississippi zur Pazifikküste und in die Rocky Mountains. Der erste Bericht war ursprünglich mit „Tagebuch einer Reise vom Mississippi nach den Küsten der Südsee“ überschrieben, eine zweite Auflage erhielt 1860 den geänderten Titel „Wanderungen durch die Prairien und Wüsten des westlichen Nordamerika“. Möllhausens fast 40 Romane gehören zum Genre der Abenteuerliteratur und spielen sehr oft beidseitig des Atlantiks, ein Erzählmuster, welches fast sein gesamtes Werk durchzieht. Ihr Verfasser stammte gebürtig aus Bonn und hielt sich ab 1849 für mehrere längere Aufenthalte in den Vereinigten Staaten auf. Nach seiner Rückkehr von seiner dritten und letzten Reise im Jahr 1853 lernte er in Berlin den alten Alexander von Humboldt kennen, der sein Förderer und väterlicher Freund wurde. Humboldt schrieb ein Vorwort – was er laut eigenem Bekunden selten tat – zu Möllhausens erstem Expeditionsbericht. Bereits zuvor hatte Möllhausen die Tochter von Humboldts Kammerdiener und Privatsekretär geheiratet, Karoline Seifert, die im Hause Humboldts in Berlin lebte. Es gibt Vermutungen, dass Karoline Seifert in Wirklichkeit eine Tochter Alexander von Humboldts war. Aber das ist eine andere Geschichte.
Und Theodor Fontane (1819-1898)? Er lernte Möllhausen als Teilnehmer an der „Tafelrunde“, einem Gesprächskreis des Preußen-Prinzen Friedrich Karl im Jagdschloss Dreilinden im Südwesten Berlins kennen. Friedrich-Karl war ein Neffe von Kaiser Wilhelm I. und hatte zwischen 1846 und 1848 in Bonn studiert und dort Möllhausen getroffen, der dann zwischen 1878 und dem Tod des Prinzen im Jahr 1885 regelmäßig in Dreilinden dabei war. Die „Tafelrunde“ setzte sich aus hohen Offizieren, aber auch aus Gelehrten und Schriftstellern zusammen, Fontane kam erstmals 1881 dazu. In der „Tafelrunde“ herrschte Redefreiheit, Möllhausen schätzte nach eigenen Angaben, dass dort „ein freies offenes Wort“ gepflegt wurde. Fontane hatte bereits seit seiner Lehrzeit als Apotheker mit dem Berliner Literaturbetrieb Kontakt. 1862 waren seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg “ erschienen – zwei Jahre nach Möllhausens „Wanderungen“ in Nordamerika. Genauso wie bei Möllhausen bildeten diese „Wanderungen“ die Grundlage für sein späteres literarisches Schaffen.
1882 schrieb Fontane ein Vorwort zu einer Sammlung von Erzählungen Balduin Möllhausens, bevor er seine sich über mehrere Jahre hinziehende Arbeit an dem Roman „Quitt“ begann, der 1890 erschien. Genau wie bei zahlreichen Möllhausen-Romanen ist das Buch zweigeteilt, nämlich in einen deutschen und einen amerikanischen Teil. Bei Fontane ist es die Geschichte eines Wilderers aus dem Riesengebirge, der die Tötung eines Försters nach seiner Flucht nach Nordamerika bereut und dort mit seinem eigenen Leben sühnt. „Quitt“ zählt nicht zu den bekannten und erfolgreichen Werken Fontanes, vielleicht wegen der ungewohnten Struktur und des ungewöhnlichen Schauplatzes, den sein Verfasser aus eigener Anschauung gar nicht kannte.
Bei den Erinnerungen an den 200. Geburtstag Fontanes hat „Quitt“ keine erkennbare Rolle gespielt. Der Autor wird vor allem als Verfasser der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, der „Irrungen, Wirrungen“ oder von „Effi Briest“ gefeiert. Angefangen bei Campe und seiner „Entdeckung von Amerika“ über Humboldts Reisewerke und Möllhausens Berichte und Romane gehört aber auch Fontane in die Reihe der Autoren mit Amerikabezug. Zumindest in meinem Bücherschrank steht „Quitt“ also bei den Büchern mit amerikanischer Abenteuerliteratur. Das mag auf den ersten Blick überraschen, die beiden Jubiläen von Alexander von Humboldt und Theodor Fontane haben mir dies jedoch noch einmal bewusst gemacht.
Bildquelle: Jürgen Brautmeier, Titelbild: Wikipedia, gemeinfrei