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Nicht stehen bleiben, Charlotte! Als Goebbels den Volkszorn gegen die Juden inszenierte

Alfons Pieper Von Alfons Pieper
10. November 2024
Brennende Synagoge 9.11.1938

„Ich bin sechs Jahre alt. An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen…Ich darf nicht stürzen. Wir dürfen nicht auffallen. Wir sind mitten auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München. Um uns herum herrschen Lärm und Geschrei. Das Geräusch von Glas, das auf Bürgersteigen in unzählige Scherben birst. Das Krachen prasselnder Flammen, herabstürzender Balken. Und Menschen, die johlen: „Juda, verrecke!“ Das Grölen schmerzt mich. In meinem ganzen Körper. Manche Leute klatschen und lachen. Der beißende Geruch von Feuer durchdringt die Luft des Novemberabends. Nicht stehen bleiben, Charlotte! Wir dürfen nicht stehenbleiben, hat Vater mir eingeschärft, als wir zu ungewohnter Stunde unser Haus am Bavariaring verließen. “ So schildert Charlotte Neuland, die spätere Frau Knobloch, in ihren Erinnerungen die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als im ganzen Deutschen Reich auf Veranlassung von NSDAP-Propagandachef Joseph Goebbels und gesteuert durch Nazi-Funktionäre, die Gestapo, die Schlägertruppe der SA und durch SS-Leute Synagogen angesteckt und jüdische Geschäfte zertrümmert, Juden verprügelt, gedemütigt, angespuckt, in Konzentrationslager  geworfen und erschossen wurden.

Es ist der 10. November 1938 zwei Uhr morgens, als der erste Tote gemeldet wird. Joachim Both ist in seiner Wohnung in München, Lindwurmstraße 185, von einem SA-Mann erschossen worden. Joseph Goebbbels zeigt sich wenig überrascht: Was denn die Aufregung solle, in den nächsten Tagen würden „noch Tausende dran glauben müssen.“(Zitiert nach BR,  Die Reichspogromnacht- Der verordnete Volkszorn)

Um 1.02 Uhr am 10. November brennt die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße in München. Insgesamt werden im Reich 267 jüdische Gotteshäuser zerstört, etwa 7500 jüdische Geschäfte verwüstet, mindestens 91  Juden getötet, Hunderte begingen Selbstmord oder starben an den Misshandlungen in den KZ, darunter in Dachau, wohin vermögende Juden zu Zehntausenden verbracht wurden, um sie zur Auswanderung zu zwingen.“(Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens). Die Feuerwehr steht meistens untätig dabei. Zuschauer schauen dem gräulichen Geschehen mit Entsetzen, andere mit Schadenfreude zu, kaum jemand hilft den bedrängten Juden. Der amerikanische Präsident Roosevelt erklärt, er habe es kaum zu glauben vermocht, „dass solche Dinge sich in einer Zivilisation des 20. Jahrhunderts ereignen könnten“. Er und andere ahnten nicht, dass dies erst der Anfang der Judenverfolgung des Holocausts war, der sechs Millionen Juden in Konzentrationslagern vergaste. Mit welchem Hohn die Nazis die Juden damals isolierten, zeigte die Verordnung des 12. November 1938: Die deutschen Juden mussten eine „Sühneleistung“ in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark zahlen, die Kosten für die Wiederherstellung ihrer Geschäfte selbst tragen und versicherungsrechtliche Ansprüche an das Reich abtreten. Arisierung, Schikane, Ausschluss aus der Gesellschaft, sie waren rechtlos und vogelfrei.

Dem Pogrom vorausgegangen war die sogenannte Polen-Aktion. Das war Ende 1938, die deutschen Behörden hatte 17000 in Deutschland lebende polnische Juden festgenommen und sie über die polnische Grenze gejagt. Sie waren weder in Deutschland noch in Polen willkommen. In Paris erfährt der 17jährige Herschel Grynszpan, dass auch seine Familie unter den Vertriebenen ist. Er kauft sich einen Revolver, fährt zur deutschen Botschaft und schießt auf einen Botschafts-Mitarbeiter namens Ernst vom Rath. Der wird lebensgefährlich verletzt, zwei Tage nach dem Attentat stirbt der Mann. Die deutschen Zeitungen schreiben von Mord, von jüdischen Verschwörungen. Im „Völkischen Beobachter“, Nazi-Blatt überhaupt, steht der Satz, der als Aufruf zum Pogrom verstanden wird: „Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen wird.“

Zurück zu Charlotte Knobloch und ihren Erinnerungen. Ihr Vater hatte eine Warnung erhalte, deshalb verließ er am späten Abend des 9. November die eigenen vier Wände. Er hatte dem sechsjährigen Töchterchen eingeschärft, dass sie los müssten, weil man zu Hause nicht mehr sicher sei. Also gingen sie auf die Straße, mischten sich mitten ins Geschehen, das sei sicherer als daheim „auf das Schicksal zu warten. Ihr Vater sagte dem Kind: „Wir wollen uns zu Freunden in Gauting durchschlagen.“ Derweil entlädt sich auf den Straßen Münchens der „von den Nazis angefachte Volkszorn. Jüdische Geschäfte sind mit Davidsternen beschmiert, mit Hassparolen, Vater und Tochter laufen über Glas, über Waren, die aus den Schaufenstern auf die Straße geworfen wurden. „Vater und ich hasten ohne Unterlass weiter. Nicht stehen bleiben. Jemand könnte uns erkennen.“ Charlotte sieht, wie Habgierige mit ihrer Beute im Arm die demolierten Geschäfte verlassen. „Lachend schleppen sie ihre Beute davon.“

„An einer Straßenecke unweit des Sendlinger Tors sehe ich, wie zwei SA-ler einen alten Mann aus seinem Haus zerren. Es ist Onkel Rothschild! Justizrat Hugo Rothschild, den Vater so verehrt. Ich habe Onkel Rothschild, wie ich ihn nenne, so gern. Er spricht in seiner warmen Stimme, tiefen Stimme mit mir, als sei ich eine Erwachsene. Nun ist sein Gesicht starr vor Entsetzen. Aus einer Wunde an seiner Stirn rinnt Blut über sein Gesicht. Die SA-Männer stoßen ihn auf einen Lastwagen. Warum tun sie ihm das an?“ fragt die sechsjährige den Vater. Sie versteht diesen Terror nicht. „Es würgt mich vor Angst, dass die SA auch meinen Vater mitnimmt. Ich klammere mich noch stärker an seine Hand. Dreh dich nicht um, Charlotte, hatte Vater mich noch gewarnt.  Wir laufen weiter in die Herzog-Rudolf-Straße, hier steht meine Schule, die jüdische Grundschule. Aus den Fenstern der benachbarten Synagoge züngeln hohe Flammen. SA-Leute werfen Gebetbücher und Thorarollen auf die Scheiterhaufen. Warum ist keine Feuerwehr hier. ? Kümmert es niemanden, was mit den Juden, ihren Synagogen und Geschäften in München geschieht? Vater zieht mich weiter.“ Nein, es kümmert damals viele nicht, andere verbergen ihr Gesicht aus Angst vor den Nazis.

Charlotte Knobloch erinnert sich an diese schlimmen Ereignisse 68 Jahre später, im Jahre 2006, als am 9. November die neue Synagoge in München mit Gemeindezentrum und Museum eingeweiht wird. Am St.-Jacobs-Platz. Und sie muss dort die Rede halten. Sie hat es geschafft, die Jüdische Gemeinschaft wieder in die Mitte der Stadt und der Gesellschaft zurückzubringen. „In Deutschland angekommen“ nennt sie ihre Erinnerungen, die sie im Jahre 2012 veröffentlicht. Zuversicht strahlt sie in ihrem Buch aus, schreibt davon, dass der Nazismus besiegt sei, dass „wir wieder Teil dieses Land sind“. Damals gibt es in München und im übrigen Deutschland die AfD noch nicht, die NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst eine „Nazi-Partei“ nennt, und die im Bundestag vertreten ist wie in fast allen Landtagen und im Europa-Parlament. Nach dem Urteil des Verfassungsschutzes ist die AfD in einigen Bundesländern als gesichert rechtsextremistisch.

Heute wird die 92jährige Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, von Personenschützern begleitet, wenn sie an der Isar spazieren geht. Nie wieder ist jetzt.

Charlotte Knobloch: In Deutschland angekommen. Deutsche Verlagsanstalt München 2012. 333 Seiten. ISBN 978-3-421-04477-8  

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