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„Die letzte Patrone der Demokratie?“ Eine innenpolitische Zwischenbilanz der Regierung Merz

Felix Wirtz Von Felix Wirtz
22. Dezember 2025
Elektrokardiogramm mit "Flatline" und der Überschrift "Leistungsbilanz 2025", AI generiert mit ChatGPT

„Die letzte Patrone der Demokratie“ Diesen Satz hat Markus Söder in der Voraussicht auf die Regierungsbildung am Tag nach der Bundestagswahl der versammelten Presse in München in den Block diktiert.

Wer diesen Satz gehört hat, konnte der Annahme sein, dass er in der etablierten Politik verstanden worden ist. Doch kann man angesichts der bisherigen Leistung der Regierung Merz nur hoffen, dass das Patronenholster der Demokratie nicht so leer ist wie manche Waffenkammer der Bundeswehr.

Denn schauen wir auf die Politik dieser Regierung, so können wir feststellen, dass die Verantwortlichen in der Koalition offensichtlich keine Lehre aus dem Aus der Ampel und der politischen Stimmung im Land gezogen haben.

Denn was alle ernstzunehmenden Studien der Demoskopen unisono festgestellt haben: Den Menschen in Deutschland ist Streit ein Gräuel. Angesichts der tagtäglich vorgeführten Probleme dieses Landes fragen sich viele: „Haben die in Berlin den Schuss nicht gehört?“ Die Problemanalyse lag doch für jeden erkennbar auf dem Tisch:

Wer von einer Behörde etwas will, zum Beispiel einen Bauantrag stellt, muss in der Regel sehr lange warten, bis er das Gewünschte bekommt.

Wer von A nach B mit der Bahn will, muss viele Eventualitäten mit einrechnen, um pünktlich am Ziel zu sein – wenn es denn erreicht wird.

Das Auto ist kaum eine Alternative, die Autobahnen beherbergen Rekordlängen an Baustellen.

Wer als Kassenpatient einen Termin bei einem Facharzt sucht, rechnet inzwischen mit einem halben Jahr Wartezeit.

Die medizinische Versorgung, gerade auf dem Land, wird immer dünner; die zumutbaren Fahrzeiten, um ein Krankenhaus zu erreichen, werden immer länger.

Kitaplätze sind rar trotz gesetzlichen Anspruchs, in den Schulen fehlen Lehrer*innen trotz Schulpflicht. Viele Schulgebäude sind marode und stecken im Renovierungsstau.

Pflegeplätze sind ebenso rar. Wenn einer gefunden ist, ist der Eigenanteil derart hoch, dass viele mit dem Einzug gleichzeitig pleitegehen.

Die Preise steigen, vor allem Energie ist so teuer geworden, dass Familien sie kaum bezahlen können.

Dazu kommen fast tägliche Schreckensnachrichten: Naturkatastrophen, Krieg oder Terror.

Vor diesem Szenario war die Erwartung an die Bundesregierung groß, dass sie die Lage antizipiert und entsprechend handelt. Doch weit gefehlt. Schon der Zitatgeber Söder ist ein Paradebeispiel dafür, dass vorhandene Kenntnis nicht zu entsprechender Politik führt. Denn Wahlversprechen wie „Mehrwertsteuersenkungen für Gastronomie und Hotels“ erweisen sich weiter als Klientelpolitik und nicht als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Die großen Profiteure der Senkung haben bereits angekündigt, dass „kein Spielraum für Preissenkungen bestehen würde“. Die Großketten der Branche wie McDonald’s, KFC oder Burger King können Gewinnmaximierung auf Kosten der Steuerzahler betreiben.

In einem anderen Punkt wird es noch deutlicher: Die längst überfällige Reform der Erbschaftsteuer wird durch Söder blockiert. Wenn es nach ihm geht, werden große Vermögen weiterhin steuerfrei vererbt, während kleinere Erbschaften – etwa vom Onkel zum Großneffen – mit 30 Prozent belegt werden. Es ist allgemein bekannt, dass Söder in eine vermögende Familie eingeheiratet hat, die von den bestehenden Regeln profitieren würde.

Und vom Kanzler kommt zu diesem Thema nichts. Friedrich Merz, ein echter Boomer, ist mit anderem, offenbar Wichtigerem beschäftigt.

Merz beleidigt mal eben so ein ganzes Land wie Brasilien oder die Bäckerzunft im südlichen Afrika. Als sei das nicht genug, zettelt er eine Debatte über das sogenannte Stadtbild an. Er erwähnt es bewusst im Zusammenhang mit Migrations- und Abschiebepolitik. Seine Botschaft: Ihr seid verantwortlich für das miese Gefühl, mit dem deutsche Bürger durch die Stadt gehen.

Mit den Reaktionen der pauschal Angegriffenen kann Merz dann wieder nicht umgehen. Als er seine Festrede zur Verleihung des Talisman-Preises halten wollte, standen Dutzende Stipendiaten auf und verließen den Saal. Sie trugen Sticker mit der Aufschrift „Ich bin das Stadtbild“. Merz ließ das unkommentiert, aber vielleicht ist ihm klar geworden, dass er genau diejenigen getroffen hat, die längst integriert sind und in Deutschland ihre Zukunft sehen. Und das alles für ein billiges Heranwanzen an die Klientel am rechten Rand, die zur AfD abgewandert ist. Denn Merz tätigte seine Aussage beim Antrittsbesuch in Mecklenburg-Vorpommern. Offensichtlich wollte er Tatkraft dokumentieren.

Diese lässt er in den anderen Politikfeldern vermissen. Bei allen oben aufgezählten Themen, die das Leben in Deutschland wirklich beschweren, ist Merz blank.

Er lässt geschehen, dass die im Wahlkampf versprochene Strompreissenkung ausfällt; er lässt geschehen, dass mit Mitteln des 500-Mrd.-Sondervermögens Haushaltslöcher gestopft werden, statt tatsächlich in Infrastruktur zu investieren. Er lässt geschehen, dass ein halbes Jahr vergangen ist und weder im Bereich Gesundheit, Bürokratieabbau noch im Bereich Infrastruktur irgendein wesentlicher Schritt vorangekommen ist.

Stattdessen beschäftigt sich die Union mit so wesentlichen Fragen, ob Sojawurst noch Wurst heißen darf. Leute wie Söder oder sein EU-Mann Manfred Weber gefallen sich darin, angeblich links-grüne Politik zurückzudrehen. Letztes Beispiel: die Rolle rückwärts beim Verbrenner-Aus. Der ganzen Branche ist klar, dass die automobile Zukunft elektrisch ist. Und den Kennern der Branche ist klar, dass niemand Investitionen in beiden Bereichen parallel leisten kann. Der Markt für Exportfahrzeuge wird eher kleiner als größer; Chinas Autoindustrie hat die Europäer eingeholt und produziert deutlich günstiger elektrisch angetriebene Fahrzeuge.

Ähnliches Vorgehen in einem anderen Sektor: der Energiewirtschaft. Katharina Reiche treibt dort die Rückkehr in fossile Abhängigkeiten voran, statt endlich bei Batteriespeichern und Netzausbau Tempo zu machen. Die Ex-Managerin eines Energieunternehmens hat ein halbes Jahr Verunsicherung in die Branche gebracht, indem sie Förderungen, etwa für Wärmepumpen, infrage stellte. Jeder und jedem, der mit Wirtschaft zu tun hat, weiß, dass Verunsicherung dem Wachstum schadet. All die deutschen Unternehmen, die in den vergangenen Jahren in Wärmepumpentechnologie investiert haben und schon unter der Springerschen Anti-Habeck-Kampagne gelitten haben, müssten von Reiche geschützt werden – etwa die Arbeitsplätze bei Vaillant, Buderus und Co.

Kennen Sie Karsten Wildberger? Der Mann hat die Aufgabe übernommen, die Bürokratie abzubauen und die Digitalisierung voranzutreiben. Erste Ergebnisse zu verlangen wäre angesichts des über 75 Jahre aufgebauten Verordnungs- und Paragrafendschungels zu viel verlangt. Vielleicht wären Ziele zu formulieren zu gefährlich, denn daran könnte man ja gemessen werden. Immerhin hat es der Mann zu Maischberger geschafft, um der staunenden Öffentlichkeit zu verraten, dass es Ende nächsten Jahres eine digitale Brieftasche geben soll, in der alle wichtigen persönlichen Dokumente sicher gespeichert sind, damit wir nicht immer wieder Papiere vorlegen müssen, um etwas zu beantragen.

Auch aus anderen Bereichen wie Gesundheit, Bauen oder Verkehr kommen bisher kaum Nachrichten. Erkennbar schon daran, dass es Mühe macht, sich die Namen der Minister zu merken. Die Lauterbachsche Krankenhausreform, seit dem 1.1.2025 in Kraft, steht auf dem Prüfstand. Angeblich bedarf es weiterer Anpassungen, um den Kliniken den notwendigen Handlungsspielraum geben zu können.

Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist der neue Minister bisher nur aufgefallen, weil er eine Frau zur Bahnchefin gemacht hat. Wir können mit Spannung erwarten, wie die Infrastrukturmaßnahmen nun unter diesem Minister vorangetrieben werden sollen. Stuttgart 21 hat erneut einen Fertigstellungstermin kassiert und tut sich schwer, einen neuen zu nennen.

Und die SPD? Schaut zu!

Die Sozialdemokraten fallen derzeit durch zwei Dinge auf: Sie tun so, als hätten sie der vorherigen Regierung nicht angehört. Sie stellen sich vor keine der erreichten Ziele und lassen die CDU-Ressorts machen, was sie wollen.

So lässt Umweltminister Schneider die Kabinettskollegin Reiche schalten und walten, als gäbe es kein Pariser Abkommen mit vertraglich zugesagten Klimazielen. Dabei müsste ihm jede Tonne Gas wehtun, die die Kollegin verfeuern will.

Zur Aufweichung des Verbrenner-Aus war von ihm ebenso wenig zu hören wie zu den Hirngespinsten der Union, wieder in die Atomkraft einzusteigen.

Von der schwangeren Bauministerin, die angeblich den Turbo anschmeißen wollte, hört man ebenso wenig wie von Frau Radovan im BMZ oder Frau Hubig im Justizministerium.

Vielleicht träumt Bärbel Bas auch von so einem Ressort, denn sie übt sich regelmäßig im Spagat. Die in der letzten Regierung unter einem SPD-Kanzler gerade erst etablierte Ablösung der Hartz-IV-Regeln musste offensichtlich dringend neu gelabelt werden. Die Union will wohl wenigstens ein symbolisches Wahlversprechen einhalten, auch wenn es nur um das Etikett „Bürgergeld“ geht. Und Bas vollzieht brav mit und tut gleichzeitig so, als sei der Abbau sozialstaatlicher Leistungen mit ihr nicht zu machen. „Bullshit“ nannte sie entsprechende Aussagen des Kanzlers vor den NRW-Jusos. Den Begriff bekam sie postwendend zurück. Auf der Bundes-Jusokonferenz in Mannheim wurde ihr entgegengehalten, ihr Entwurf zur Neuregelung des Bürgergeldes sei Bullshit – ein Drecksentwurf.

Die Jugendorganisation lässt sich kein X für ein U vormachen. Bas betreibt hier Sozialabbau, und ihre Verteidigungslinie, die Union hätte noch viel mehr machen wollen, zieht auch beim Nachwuchs nicht.

Beim Thema Rente hat die SPD tatsächlich durchgesetzt, was im Koalitionsvertrag stand. Hier kam das Störfeuer aus der Union und den sie unterstützender Medien. Wer vermutet hatte, die Union sei ähnlich Gewehr bei Fuß wie die Sozialdemokraten bei den diversen Kröten, sah sich erneut enttäuscht.

Wie schon bei der Wahl der Richterinnen zum Bundesverfassungsgericht stellen Teile der Union letztlich die Regierung infrage. Und der Hang der Union, populistisch immer wieder nach rechts zu schielen, muss für die Genossen unerträglich sein.

Wie man sich erfolgreich widersetzt, hat Boris Pistorius gezeigt. Mit ihm war eine Lotterie-Wehrpflicht nicht zu machen – und das war am Ende auch das Ergebnis. Es gibt einen Grund, warum der Mann der beliebteste Politiker Deutschlands ist.

Und was macht der starke Mann der SPD, Lars Klingbeil? Dem früheren Generalsekretär der Partei wurde einst ein Gespür für Stimmungen nachgesagt. Das half ihm, Olaf Scholz zum Kanzler zu machen. Doch seitdem scheint es damit nicht mehr weit her zu sein. Gleich als eine seiner ersten Amtshandlungen zu verkünden, dass für eine Entlastung der Haushalte beim Strom kein Geld da sei, kann als Beleg dafür gelten. Auffällig ist, wie lange sich Klingbeil öffentlich zurückhält, um zu strittigen Themen Stellung zu beziehen. Bei der Stadtbild-Aussage von Friedrich Merz brauchte es fünf Tage, bis der Vizekanzler sich ablehnend äußerte. Offensichtlich hat er erkannt, dass auch das eigene Wählerpotenzial diese Aussage des Kanzlers als problematisch empfand.

Er tritt nicht bei den Jusos auf und hört sich nicht an, dass die Bürgergeldreform als „Drecksentwurf der Scheißunion“ bezeichnet wird. Bärbel Bas ist diejenige, die den Spagat leisten muss.

Klingbeil geht es um Wichtiges. Er sieht das Land in einer schwierigen Situation und seine Aufgabe darin, wieder Wachstum zu organisieren. Ansonsten arbeitet man den Koalitionsvertrag ab – Ende der Durchsage. In der Sendung bei Maischberger sagt er einen bemerkenswerten Satz: „An den Küchentischen ist wieder die Frage zurückgekehrt, ob der Arbeitsplatz noch sicher ist.“ Und offensichtlich meint Klingbeil, dass die SPD dadurch wieder die alte Rolle der Arbeitnehmerpartei übernehmen kann.

Die Demoskopen sehen das anders. Die aktuell die Regierung tragenden Parteien hätten bei einer Wahl keine Mehrheit mehr. Die Zahlen der Rechtsextremen werden immer größer. Weder der Rechtspopulismus der Union noch das Leisetreten der SPD wird von den Befragten goutiert. Zeit, zur Besinnung zu kommen.

Und endlich zu arbeiten. Die Showgesetze sein lassen, Funktionierendes bestehen lassen, statt neue Etiketten zu erfinden, und endlich die Probleme der Menschen ernst nehmen: derer, die mit Zügen fahren müssen, die Mieten zahlen sollen, die Pflege oder einen Kitaplatz brauchen. Die zukunftsfähigen Arbeitsplätze benötigen. Die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und sich immer noch als Menschen zweiter Klasse fühlen. Die ihr Recht auf Selbstbestimmung leben und von Rechtsextremen bedroht werden.

Und natürlich die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen – von innen und außen.

Genug zu tun in 2026. Also fangt endlich an.—-

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