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Als das Misstrauensvotum der Union gegen Willy Brandt scheiterte – Kampf um die Entspannungspolitik bis heute. Gastbeitrag von Norbert Römer

Gastbeitrag Von Gastbeitrag
9. April 2022
Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt

Putins Krieg gegen die Ukraine hat unermessliches Leid für Millionen Menschen in diesem Land gebracht. Die Zerstörung der Städte, die Vernichtung von Menschen, die Ermordung von Zivilisten, die gezielte Tötung von hilflosen Frauen, Kindern und älteren Menschen, die Vergewaltigung von Frauen, also der Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit lassen den Atem stocken und sind mit Worten kaum noch zu beschreiben. Schon jetzt ist klar, dass die Folgen jegliche menschliche Vorstellungskraft übertreffen: Millionen ukrainische Menschen sind auf der Flucht – innerhalb ihres Landes und auch in andere Länder. Familien sind auseinandergerissen – Väter und Großväter verteidigen die Heimat gegen die russischen Angriffe, Mütter suchen verzweifelt Schutz für ihre Kinder. Die Bilder und Berichte aus der Ukraine brennen sich ein in die Köpfe und Herzen derjenigen, die sie erreichen.

Putins Krieg hat dafür gesorgt, dass sein Name für ein brutales, mordendes, unmenschliches Russland steht und für immer damit verbunden bleibt. Nichts wird diese Bilder und Berichte aus den Erinnerungen der Menschen in Europa und der Welt auslöschen können. Putin hat seine Brutalität und Menschenverachtung auf sein Militär, seine Soldaten und mit seiner despotischen Propaganda auch auf große Teile der russischen Bevölkerung übertragen. Davon wird Russland, wird das russische Volk sich nur schwer erholen können. Schon jetzt ist klar, dass Putin in die Weltgeschichte eingehen wird als Kriegstreiber und Kriegsverbrecher, schon jetzt ist klar, dass seine Lügen, Fälschungen und Desinformationen überall in der Welt als solche erkannt werden, schon jetzt ist klar, dass Putin verantwortlich ist für diese barbarischen Massaker, schon jetzt ist klar, dass Putin dafür vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden muss.

Heute wissen wir, dass Putin ständig lügt, wohl schon immer gelogen hat. Heute wissen wir, dass Putins Wort nichts gilt. Hätten wir es auch gestern oder sogar vorgestern wissen können, ja sogar wissen müssen? Hätten unsere demokratisch gewählten Regierungen es wissen müssen und deshalb keine Verträge mit Putin und seinen Regierungen abschließen dürfen? Hätten deutsche Unternehmen keine Geschäfte mit Russland machen dürfen, hätten sie keine Waren und Dienstleistungen nach Russland exportieren und keine aus Russland importieren dürfen? Hätte es keinen zivilgesellschaftlichen und kulturellen Austausch geben dürfen, keine Städtepartnerschaft, keinen Petersburger Dialog? Die Fragen drängen sich auf, sie quälen, aber sie müssen gestellt und beantwortet werden.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in bemerkenswert selbstkritischer Offenheit eingestanden, Fehler in der von ihm als ehemaliger Kanzleramtschef und späterer Außenminister mitverantworteten Russland-Politik gemacht zu haben. „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden“, zog er gegenüber Journalisten eine „bittere Bilanz“. Und mit Blick auf Putins Krieg sagte er: „Meine Einschätzung war, dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde – da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“ Gleichzeitig mit dieser selbstkritischen Bilanzierung machte er aber auch deutlich, dass dennoch die Verantwortung für den Krieg bei Putin liege – „die sollten wir nicht auf uns ziehen – das heißt aber nicht, dass wir nicht einiges zu überdenken haben, wo es unsererseits Fehler gegeben hat“.

Selbstverständlich ist es bitter, wenn sich nach jahrzehntelangen politischen Anstrengungen und Weichenstellungen herausstellt, dass diese im Ergebnis nicht erfolgreich gewesen sind. Und selbstverständlich ist es bitter, wenn sich das Ergebnis dann mit Putins Krieg in aller Grausamkeit und allem Schrecken offenbart. Aber war es denn wirklich völlig falsch, nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht, der deutschen Einheit und der Auflösung des Warschauer Paktes mit der beispiellosen souveränen Entwicklung der darin verhafteten mittel- und osteuropäischen Staaten zu versuchen, ein größer gewordenes europäisches Haus mit Russland zu bauen? Ist solch‘ eine im Ergebnis gescheiterte Politik in ihrem Ansatz und mit ihrer Absicht nicht durchaus akzeptabel, auch ehrenwert? Hätte die Alternative heißen müssen: Wir sind uns selbst genug und lassen Russland abseits liegen?

Am 27. April jährt sich zum 50. Mal der Tag des gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotums gegen den damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Mit dieser Entscheidung wollten die Unionsparteien unter der Führung von Rainer Barzel die SPD/FDP-Regierung Brandt/Scheel stürzen und deren begonnene Ostpolitik zerstören. Bis zu diesem Tag hatte die regierende sozialliberale Koalition schon zwei bemerkenswerte Verträge geschlossen:

  • den Moskauer Vertrag am 12. August 1970, mit dem sich Deutschland und die Sowjetunion verpflichteten, den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und den Entspannungsprozess zu fördern,
  • den Warschauer Vertrag am 7. Dezember 1970, in dem die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen und insbesondere die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als „die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ festgelegt wurde.

Gegen beide Verträge waren die Unionsparteien zusammen mit den Vertriebenenverbänden Sturm gelaufen, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wurden als Vaterlandsverräter diffamiert, die Ostpolitik wurde politisch hart bekämpft, sie sei der „Ausverkauf deutscher Interessen“.

Im Rückblick wissen wir, dass das knapp gescheiterte Misstrauensvotum die Chance eröffnete, auch eine gesellschaftliche Mehrheit für die Ostpolitik und die damit beginnende Entspannungspolitik für Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu erreichen. Am 17. Mai 1972 stimmte der Bundestag mit der Mehrheit der sozialliberalen Koalition den Ostverträgen zu, am 3. Juni traten der Moskauer und der Warschauer Vertrag in Kraft. Danach wurden langersehnte Reise- und Besuchserleichterungen für Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sowie Berlinerinnen und Berliner möglich.

Parlamentarisch wurde die Lage für die sozialliberale Koalition allerdings immer schwieriger, denn Koalitionsabgeordnete wechselten aus Protest gegen die Ostpolitik die Seiten und schlossen sich der CDU/CSU-Fraktion an. Brandt stellte die Vertrauensfrage und sorgte mit seinem Kabinett dafür, dass er diese Abstimmung verlor. Damit war der Weg frei für Neuwahlen. Diese brachten am 19. November 1972 bei einer Rekordwahlbeteiligung von 91,1 Prozent einen grandiosen Wahlsieg für die SPD (45,8 Prozent) und die FDP (8,4 Prozent). Willy Brandts Plan war aufgegangen, die große Mehrheit der Deutschen wollte die Ostpolitik, die konservative Blockade- und Verweigerungspolitik von CDU/CSU war gescheitert. Und danach ging es mit dem politischen Bemühen für Entspannung in Europa Schritt für Schritt weiter, fest verankert in der NATO, dem westlichen Verteidigungsbündnis und ausgestattet mit einer funktionsfähigen Bundeswehr, der Wehrpflichtarmee. Aus dieser Position der wirtschaftlichen und militärischen Stärke haben die beiden Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt mit ihren Regierungen vieles bewegt und erreicht. Das war die Grundlage für den „Wandel durch Annäherung“, den Egon Bahr unermüdlich vorangetrieben hat.

Schon 1966 hatten die Staaten des Warschauer Paktes vorgeschlagen, eine europäische Konferenz einzuberufen, um über die Wahrung des Friedens in Europa zu diskutieren und eine politische Zusammenarbeit zu organisieren und sie wiederholten ihren Vorschlag 1969. Erst mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalitionsregierungen der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt wurde der Weg für die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit geebnet, die mit der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ihren erfolgreichen Abschluss fand. 35 Staaten waren als Teilnehmer dabei, 33 einschließlich der Sowjetunion aus Europa – nur Albanien fehlte – sowie die USA und Kanada. Im Deutschen Bundestag sprach die CDU/CSU-Fraktion sich gegen die Schlussakte aus.

Am 9. November 1989 begann mit dem Fall der Mauer in Berlin der Zerfallsprozess des Warschauer Paktes im Gefolge der deutschen Einheit – 19 Jahre nach dem mutigen Beginn der Ostpolitik durch die damalige sozialliberale Koalition unter Kanzler Willy Brandt und 14 Jahre nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki durch die sozialliberale Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt, alles gegen den erbitterten Widerstand von CDU und CSU.

Heute wissen wir, dass der eingeschlagene Weg politisch richtig und erfolgreich war – damals waren es Entscheidungen von großer Tragweite im Ungewissen. Aber das ist das Wesen von Politik, sie kann gelingen, sie kann scheitern.

Heute wissen wir, dass die mit Russland nach dem Ende der Sowjetunion fortgesetzte und vertraglich neu justierte Politik von Entspannung und Zusammenarbeit ihre Grenzen gefunden hat. Der russische Präsident Wladimir Putin wollte und will keine Entspannung, keine Zusammenarbeit. Er will mit Krieg und Unterwerfung seinen politischen Einflussbereich absichern. So diskreditiert er jegliches partnerschaftliches Bemühen, so lässt er jede Form von Zusammenarbeit scheitern. Damit ist aber auch klar, dass die Verantwortung für alle Folgen bei ihm und seinem Regime liegt.

Entscheidende Konsequenzen hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar dieses Jahres vier Tage nach dem Beginn von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine vor dem Deutschen Bundestag gezogen, als er eine politische „Zeitenwende“ einläutete und zusätzliche enorme Finanzinvestitionen in die Ertüchtigung der Bundeswehr ankündigte. Er knüpft damit an die Politik der Regierungen Brandt und Schmidt an, die die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auf eine stabile Verteidigungsfähigkeit gebaut haben. Mit den gleichzeitig begonnenen scharfen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Sanktionen, abgesprochen mit den Ländern der Europäischen Union und den USA, wurde Russland schnell wirksamer Schaden zugefügt. Und die in großer Geschwindigkeit vorangetriebene Abkehr von russischen Energielieferungen trifft das weitgehend vom Verkauf seiner Rohstoffe abhängige Land bis ins Mark. Es bleibt also abzuwarten, wie Putin und sein Regime mit diesen Folgen ihrer Kriegstreiberei umgehen werden und ob sie die russische Öffentlichkeit weiter belügen und im Unklaren lassen können.

Demokratische Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass die Politik der frei gewählten Regierungen von den Wählerinnen und Wählern unterstützt oder abgelehnt werden kann. Das ist der große, der elementare Unterschied zu Diktaturen. Vor allem deshalb ist es wichtig, das Scheitern der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland genau zu analysieren, festzustellen zu versuchen, wo auf der Wegstrecke andere Entscheidungen hätten getroffen werden können oder müssen und welche Folgen das ausgelöst hätte. Allerdings gehört in eine solche Analyse auch das Eingeständnis, dass politische und wirtschaftliche Verträge mit autokratischen oder diktatorischen Regimen keiner absoluten Vertragssicherheit unterliegen. Es gilt also, diese Unsicherheit auszuhalten. Das Wagnis erst gar nicht einzugehen, heißt nichts anderes, als sich mit dem Status Quo abzufinden.

Denen, die jetzt gern ein politisches Scherbengericht über die Russland-Politik der zurückliegenden Jahre veranstalten möchten, muss allerdings auch abverlangt werden zu benennen, welche Alternativen sie denn politisch gewollt hätten oder ob sie sogar gegen jegliche Zusammenarbeit waren. Irgendwann und hoffentlich bald stellt sich jedenfalls wieder die Frage, wie hält es Europa, wie hält es Deutschland mit einem Russland ohne Putin. Und dann wird es einen neuen Anlauf geben müssen – so oder so. Dann wird der berühmte Stein wieder den Berg hinaufgerollt werden müssen. Liegen bleiben darf er jedenfalls nicht, denn das hieße, sich abzufinden mit den Dingen wie sie sind. Sozialdemokatinnen und Sozialdemokraten ist das fremd. Sie kämpfen politisch für Veränderungen, sie wollen den Wandel, sie wollen ihn gestalten, die Dinge zum Besseren wenden – auch gegen viele Widerstände. Das gehört zu ihrer DNA. Dafür steht der 27. April 1972 als leuchtendes Beispiel.  

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Tags: 1972FriedenspolitikMißtrauensvotumOstpolitikSicherheitspolitikWilly Brandt
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