Zeche

Als die Bergarbeiter streikten

Weihnachten 1984 flossen eine Million Pfund auf die Konten der NUM, der National Union oft Mineworkers.  Eine Menge Geld. Es waren Spenden, Spenden für über 100 000 Bergarbeiter der NUM, die damals in Wales, Schottland, Yorkshire streikten. Seit März 1984 streikten sie, weil die Regierung Thatcher erneut eine größere Zahl Zechen schließen wollte. Die Regierung entzog den Streikenden und ihren Familien einfach die wirtschaftliche Lebensgrundlage. Die Regierung sagte: Unwirtschaftlich, also zumachen. In die Häuser und Wohnungen der Bergarbeiterfamilien zog die Not ein. Armut und Verzweiflung.

Künstler und Intellektuelle unterstützten die Streikenden. Die Arbeiter des größten britischen Kohlereviers um Nottingham  streikten hingegen nicht. Die dortigen Zechen waren vielfach noch rentabel. Für sie war der Streik von vorn herein aussichtslos. Die NUM war also gespalten. Die übrigen britischen Gewerkschaften bis auf Teile der Transportarbeiter und Seeschiffer sowie die organisierte Lehrerschaft wollten mit den Streikenden wenig zu tun haben. Labour unter Neil Kinnock sandte zwar Grußadressen an die Streikbezirke, das war es aber auch. Die Streikbezirke mit NUM-Chef Arthur Scargill an der Spitze blieben im Wesentlichen allein, im März 85 brach der Streik zusammen. Das war die Realität. 2015 schloss in  Knottingley in Yorkshire die letzte britische Steinkohlezeche mit 400 Kumpels: Schlussstrich unter die Existenz eines traditionsreichen Industriezweigs, der einmal über eine Million Arbeiter beschäftigt hatte und der nach 1918 zwei Mal verstaatlicht und wieder privatisiert worden war.  

Natürlich feierten damals die britischen Konservativen. Die Konservativen in Westdeutschland hielten sich zumeist zurück. Einer Gewerkschaftsbewegung so den Kopf abschlagen wie damals, das war für sie nichts zum Feiern. Das war das Gegenteil von Sozialpartnerschaft. Irgendwie daneben. Aber wohl unvermeidbar.

Zwischen die Freund-Feind-Mühlsteine

Manche von uns in Westdeutschland verstanden die Gewerkschafter, die damals nicht streikten. Wir waren Reformisten, denen Freund-Feind-Denken ziemlich fremd war. Hammond Innes hat in seinem wunderbaren Roman „Northstar“ beschrieben, wie ein junger Idealist zwischen die Freund-Feind- Mühlsteine im Bergbau gerät. Jedenfalls trafen uns die mit der damaligen Niederlage der Bergarbeiter verbundenen Demütigungen ins Herz – vor allem jene unter uns, die aus Bergarbeitergegenden stammten. 

Das ist heute schwer zu verstehen. Es gab aber damals noch eine starke emotionale Verbundenheit mit den Bergbau- Beschäftigten über die Ländergrenzen hinweg. Filme wie Stephen Daldrys „Billy Elliot – I will Dance“ oder Mark Hermans „Brassed off“ mit dem unvergessenen Pete Postlewhite  schnüren uns heute noch die Kehle zu.   

1984 standen zwei Gewissheiten unversöhnlich gegeneinander:  Hier der Kapitalismus der Grubenbesitzer nebst politischen und gesellschaftlichen Anhängern, dort die Gewissheit, dass es eine gerechte Ordnung außerhalb des Kapitalismus geben müsse, wenigstens ansatzweise realisiert im Realsozialismus des Ostblocks. Heute ist Seite zwei  komplett verschwunden. Der Kapitalismus  hat sich weltweit ausgebreitet und gleichzeitig  ausdifferenziert:

Es gibt den autoritär beschützten Kapitalismus der russischen Föderation; dann gibt es den Staatskapitalismus ohne Bürgerrechte, der in China erzeugt wurde; den isolationistischen Kapitalismus der alten weißen Männer a la Trump; und den Kapitalismus europäischer Prägung, der sich mit dem Sozialstaat ständig um die Verteilung der Wertschöpfung streiten muss ( grundsätzlich in: Branko Milanovic: Capitalism, Alone. The Future oft he System that Rules the World, London 2019).

Volkskapitalismus als Ausgleich

Der Ökonom Branko Milanovic, weiß Gott kein Fan des globalen Kapitalismus, sieht für uns in Europa eine Chance in einem  sozialstaatlichen Modell, in einem „Volkskapitalismus“. In diesem Modell werden die Bürger und Bürgerinnen am Kapital beteiligt, es soll Einkommensungleichheiten glätten und neue Sicherheiten schaffen. Ein Pferdefuß im Modell des früheren Weltbank- Experten: Bürgerrechte zweiter Klasse für Migranten.

Warum ich an den Streik der britischen Bergarbeiter erinnert habe? Weil  solche Demütigungen, wie sie damals geschehen sind,  möglich wurden, weil ihnen keine politische Mehrheit entgegenstand. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Großbritannien war der Auffassung, dass sich der Staat aus den Fängen der linksradikalen Gewerkschaften befreien müsse. Die haben genug Unheil angerichtet, dachte und meinte ein großer Teil der Bevölkerung. Einem weiteren Teil war das egal.

Politische Mehrheiten entstehen, weil begriffen wurde, was andere tief bewegt. Dann kommen Begreifen und Bewegen zusammen. Wirklich begreifen, was andere bewegt. Und das mag für bürgerlich Denkende noch so banal sein. Beispiel:

Viele Beschäftigte sorgen sich um ihre Zukunft. Was wird aus meinem Arbeitsplatz? Bin ich in der Lage, mich mit meinen 50 oder 54 Lebensjahren auf neue Technologien einzustellen, wie meine Kinder oder auch Enkel das können? Schaffe ich das? Was verschafft mir Sicherheit? Sollte ich Rücklagen bilden, so gut ich das kann? Und wie mache ich das, wenn´s Sparbuch nicht mehr hergibt, das „Bundesschätzchen“ nichts mehr bringt und wir den Aktien nie so recht trauten? Für viele banale Gedanken, für andere ein schwieriges und sie bedrängendes Problem. Ein winziges Stücklein Sicherheit im Mahlstrom haben. In der öffentlichen Debatte ist das jedenfalls kein großes Thema. Wie so manches aus der Lebenswelt derjenigen, die sich solche Gedanken machen.

Konservative Mehrheiten kommen auch auf dem Sofa zustande. Emanzipatorische Mehrheiten – das Wort links vermeide ich, weil es hoffnungslos diskreditiert ist – existieren ohne Massenbewegungen nicht oder nicht lange.  Die Sozialdemokratie war nach 1949 zu keinem Zeitpunkt so stark, dass sie alleine eine politische Mehrheit zustande gebracht hätte. Nur zwei Mal – 1972 und 1998 – hat sie überhaupt die Mehrheit der abgegebenen Arbeiterstimmen gehabt. Sonst nie. Die Unionsparteien hatten eine klare politische  Mehrheit Mitte der fünfziger Jahre, 1976 waren sie sehr nahe dran.  Alles andere war Kompromiss über die Parteigrenze hinaus oder vom Bundesrat im Bundestag erzwungener Kompromiss. So war es auch in den Jahren zwischen 98 und 05. Und zwischen 13 und 17. Und ab 2017.  Wer das ausklammert oder absichtlich vergisst,  hat ein Problem  mit der Realität.   

Damit bin ich bei Einlassungen des Armutsforschers Professor emeritus Christoph Butterwegge zum Charakter von Staat und Gesellschaft angelangt.

Wer nicht da landen will, wo die Trumps das Sagen haben, wer keinen autoritär gesteuerten Kapitalismus will, wer die schlimmste Kombination im europäischen Kapitalismus, Armut und Demütigung nicht will, der muss  sich um sein Land und die Bevölkerung bemühen; so wie sie sind: Leistung und Stolz und die  Werte in den Herzen nicht ignorieren und die Potenziale  des Mitentscheidens und Mitbestimmens fördern , die da sind. Was heißt: die Armut zu bekämpfen ist das eine; die Armut zum Kennzeichen einer Gesellschaft machen ist das andere.  Letzteres schließt Mehrheiten aus. 

Bildquelle: Pixabay, Bild von Peter H, Pixabay License

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Über  

Redakteur 1972 und bis 89 in wechselnden Redakteursaufgaben. 90 bis 99 wiss. Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion, Büroleiter Dreßler, 2000 Sprecher Bundesarbeitsministerium, dann des Bundesgesundheitsministeriums, stellv. Regierungssprecher; heute: Publizist, Krimiautor, Lese-Pate.


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