Jeder Vergleich hinkt, auch der mit der SPD von damals, als sie sich, exakt am 15. November 1959, vor 60 Jahren, ein neues Programm gab, das ausgerechnet nach einer Kurstadt benannt wurde: Bad Godesberg, einem Stadtteil von Bonn. Dort in der Stadthalle tagte die alte Arbeiterpartei und diskutierte, wie sie aus dem Tal endlich nach oben gelangen, die Adenauer-CDU überholen könnte. Denn die Sozialdemokraten wollten regieren. Die vernichtenden Wahlniederlagen von 1953 und 1957 hatten sie wachgerüttelt. Es war der damalige Vorsitzende der Partei, Erich Ollenhauer, der biedere, eher blasse Chef, der die Zeit für gekommen sah, seine Partei zu erneuern. Und so wurde aus der Partei des Klassenkampfes die Volkspartei, die ihren Frieden schloss mit dem, was die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer bis dato erreicht hatte: die West-Bindung wurde akzeptiert, die Mitgliedschaft in der Nato, die Bundeswehr, die soziale Marktwirtschaft. Revolutionär klang das, war das. Ob die heutige SPD diesen Mut hätte, sich und ihr Programm so infrage zu stellen, um neue Antworten auf die neue Zeit zu finden? Sicher, heute regiert die SPD in Berlin mit, aber die Juniorpartnerin von Angela Merkel ist in Umfragen inzwischen auf einen Wert von rund 15 Prozent abgesackt. Volkspartei sieht anders aus.
Zur Erinnerung: Herbert Wehner, der legendäre Fraktionschef, den sie später Onkel Herbert nannten, beschwor die Genossen: „Glaubt einem Gebrannten.“ Der alte Kommunist war längst zum Sozialdemokraten geworden und wollte diese Wandlung seiner Partei und seinen Freunden und Skeptikern klarmachen. Das klassenkämpferische Vokabular sollte verschwinden, auch weil es zu sehr nach Ostblock klang. Es war an Herbert Wehner, diese Veränderung glaubhaft rüberzubringen, die Linken in der SPD zu überzeugen. Man müsse sich von marxistischen Gedanken endlich verabschieden, rief Wehner mahnend und beschwörend den 340 Delegierten zu. Er spürte die Skepsis: „Glaubt einem Gebrannten“. Zeit seines Lebens schlug ihm immer mal wieder seiem Lebens- und Leidensgeschichte entgegen, seine Zeit im Hotel Lux in Moskau.
Soziales, Wirtschaft, Bildung
Die Errungenschaften der jungen Bundesrepublik sollten Teil der SPD werden, man wollte nicht länger gegen etwas ankämpfen, was ganz offensichtlich der Mehrheit der Deutschen zugute kam und von diesen gewürdigt wurde.Schluß mit dem Klassenkampf, aus der Arbeiterpartei wurde die Partei der Arbeiter und Angestellten, eine Partei des Volkes, man wollte die Beamten für sich gewinnen, die Handwerker, die Intellektuellen. Deshalb wurde in Godesberg auch ein Dreiklang Thema der Sozialdemokraten: Soziales, Wirtschaft und Bildung, damit klar wurde, dass die SPD sich um die Menschen vor Ort kümmern werde, überall. Ein Alleinstellungsmerkmal.
Einer, der maßgeblich dafür stand, war Karl Schiller, der Ökonomie-Professor. liberal sollte die SPD werden, undogmatisch, ideologischen Ballast abwerfen. Schiller formulierte die Leitlinie: Soviel Wettbewerb wie möglich, Planung so weit wie nötig. man verzichtete auf eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Arbeit und Kapital wurden als zwei verschiedene und unverzichtbare Kräfte anerkannt. Sozialpartnerschaft hieß das Stichwort, ergänzt durch Mitbestimmung. Initiativen der Unternehmer sollten gefördert, ihr Eigentum nicht vergesellschaftet werden.
Noch einmal Herbert Wehner, der auch diesen Teil des neuen SPD-Programms öffentlich vertrat. „Das Programm ist kein, im engeren Sinne verstanden, Arbeiterprogramm, sondern es ist vielmehr für die Arbeiter und Arbeitnehmerschaft. Ich halte das für entscheidend, weil es um etwas geht, was für die Sozialdemokratie auch in der Auseinandersetzung mit anderen sozialistischen Richtungen immer wesentlich war: Die politische Macht zu erringen.“
Carlo Schmid, die geistige Größe der SPD der Nachrkriegszeit, ein frankophiler Politiker, Wissenschaftler, Denker, kommentierte, der Sozialismus sei gemäß dem neuen Programm keine Weltanschauung und schon gar keine Ersatzreligion mehr. Obwohl es noch Klassen gebe, sei Klassenkampf nicht mehr nötig, denn der Staat bewirke den Ausgleich der Klasseninteressen.
Eichler, Erler, Schmid, Schiller
Die prägenden Kräfte von Godesberg waren nicht Willy Brandt und Helmut Schmidt, die dabei waren und mitwirkten, deren Einfluss erst später deutlich wurde. Es waren neben Erich Ollenhauer Williy Eichler, Fritz Erler, der viel zu früh starb, Carlo Schmid, Alfred Nau, der erwähnte Herbert Wehner und Karl Schiller.
Und um zu demonstrieren, dass sich die SPD neu erfunden hatte, gab sich die Partei auch eine andere Farbe. Das Rot der Arbeiterbewegung hatte als dominante Farbe ausgedient, fortan prägte das Godesberger Blau Plakate und Broschüren und Mitgliederausweise.
Die Presse machte aus dem Godesberger Programm eine Sensation. „‚Sieg der Reformer“, hieß es. Und: „Die Sozialdemokraten werfen ideologischen Ballast über Bord.“ Am Ende stimmten nur 16 Delegierte mit Nein, 324 votierten dafür. Die CDU warnte vor der neuen SPD. Das Programm, so die Union, sei eine Tarnung der wahren Absichten der SPD. Einige CDU-Politiker intervenierten bei Geistlichen, SPD-Inserate in christlichen Zeitungen nicht zu drucken.
Auf der Suche nach sich selbst
Es dauerte bis 1966, ehe die SPD ihre Regierungsfähigkeit in der Großen Koalition unter dem Kanzler Kurt-Georg Kiesinger beweisen konnte. Und 1969 schaffte es Willy Brandt als erster Sozialdemokrat, Bundeskanzler der Bundesrepublik in einer sozialliberalen Koalition zu werden. 1972 wurde die SPD erstmals stärkste Partei bei einer Bundestagswahl. Man erinnert sich nicht nur an Godesberg, den Weg vom Klassenkampf zur Volkspartei, die mehr Demokratie wagen wollte, die mit ihrer Ostpolitik sich versöhnen wollte mit den Russen, die mit Willy Brandt einen Politiker hatte, der den Friedensnobelpreis erlangte. Und heute? Ist die SPD auf der Suche nach sich selbst, ohne Selbstbewusstsein, von tiefer Verunsicherung, ohne Stolz auf ihre lange Geschichte, die ganz offensichtlich die Reformpolitik ihrer Väter von Godesberg vergessen hat.
Wie wäre es, die Reformpolitik der 60er und 70er Jahre in das Zeitalter des Klimawandels zu übertragen und die alte Industriegesellschaft in eine neue zu überführen. So hat es Harald Christ vom Wirtschaftsrat der SPD im Bonner General-Anzeiger ausgedrückt und vor einer Geschichtsvergessenheit gewarnt. Und noch etwas könnten die heurigen Genossinnen und Genossen aus Godesberg lernen: Sie mögen sich nicht alle grün gewesen sein, die Wehners, Brandts, Schmidts, aber sie haben an einem Strang gezogen und sich nicht gegenseitig bekämpft. „Wann wir schreiten Seit an Seit“, das haben sie oft besungen, aber eigentlich hätte die Strophe heißen müssen: „Wann wir streiten Seit an Seit.“
Es gilt, gerade für die SPD, der historisch gewordene Satz des Reichskanzlers Josef Wirth nach der Ermordung von Walther Rathenau: „Der Feind steht rechts“.
Bildquelle: Deutsche Post AG
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