Bei der Altschuldenfrage stehen wir einmal mehr vor der Herausforderung, eine große finanzielle Belastung gemeinsam zu meistern. Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf für eine Änderung des Grundgesetzes vorgelegt, der eine Umschuldung von rund 31 Mrd. Euro auf Bund und Länder zur großen Entlastung hochverschuldeter Kommunen ermöglichen würde. Die Umsetzung wäre ein Meilenstein der gesamtstaatlichen Handlungsfähigkeit und würde für viele Kommunen in Deutschland einen echten finanziellen Neustart zum Wohle der Menschen vor Ort ermöglichen.
Dazu braucht es eine verfassungsändernde 2/3-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Das Wohl unserer Kommunen liegt in einem gesamstaatlichen Interesse – daher appellieren wir an alle demokratischen Fraktionen, sich jetzt diesem gemeinsamen Kraftakt anzuschließen! Nicht nachvollziehbar ist es, dass für eine Aufsetzung zur ersten Lesung im Bundestag bisher keine Mehrheit gefunden werden konnte. Für uns ist klar: Der Bund, die Länder insgesamt und auch die Kommunen können die Aufgabe nur gemeinsam in einem breiten überparteilichen Konsens lösen.
Warum die Lage keinen Aufschlug duldet.
Nach einem Jahrzehnt positiver Haushaltsabschlüsse wachsen die Defizite der Kommunen mit großem Tempo und erwartbar über mehrere Jahre: Betrug das jährliche Defizit 2023 noch knapp 7 Mrd. Euro, ist es in 2024 auf über 20 Mrd. Euro angewachsen. Damit dürften nicht nur alle Konsolidierungsbemühungen der betroffenen Kommunen zunichte gemacht werden, auch der vorhandene Investitionsstau von weit über 186 Milliarden Euro dürfte kaum geringer werden und was dabei noch gar nicht eingerechnet ist: die Umstellung auf Klimaneutralität dürfte bis 2030 dreistellige Milliardeninvestitionen der Kommunen erfordern.
In dieser Zeit einer dramatischen Verschlechterung der kommunalen Finanzlage ist eine Lösung des Altschuldenproblems unverzichtbar, weil die hochbelasteten Kommunen die Altschulden nicht aus eigener Kraft abbauen können und eine Verbesserung ihrer Lage nicht in Sicht ist, zumal die Zinsbelastungen der Kommunen auch wieder steigen. Noch immer sind die Kommunen in vielen Ländern unterfinanziert.
Es ist offensichtlich: Vor Ort merken die Bürgerinnen und Bürger, was diese Zahlen ganz konkret bedeuten: An allen Ecken und Enden fehlt das Geld – sei es beim Erhalt des örtlichen Schwimmbades, dem kommunalen Straßenbau, dem Kultur- und Sportangebot oder der Einrichtung und guten Ausstattung von Grundschulen und Kindertagesstätten. Kurzum: die Lage duldet keinen Aufschub.
Das Problem muss angepackt werden –
darum kommt jetzt der Entwurf für eine Grundgesetzänderung.
Ein Blick zurück: Der jetzige Bundeskanzler und damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat bereits im Jahr 2021 vorgeschlagen, dass Bund und Länder mit einer gemeinsamen Schuldenübernahme die hochverschuldeten Kommunen entlasten sollen. Bis heute hat sich dafür keine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag und Bundesrat gefunden.
Die Zuständigkeit der Kommunalfinanzierung liegt bei den Ländern, dem Bund sind direkte Beziehungen sogar verfassungsrechtlich untersagt, ebenso wie die Übernahme von Schulden der Länder. Tatsächlich haben einige Bundesländer demgemäß Entschuldungsprogramme für ihre Kommunen aufgelegt – das besonders betroffene Nordrhein-Westfalen nicht.
Es braucht daher zwingend eine Verfassungsänderung und diese funktioniert eben nur mit einer 2/3-Merheheit im Bundestag und der Länderkammer, dem Bundesrat.
Ungeachtet dessen hat der Bund mit der Übernahme der Gewerbesteuerausfälle und der erhöhten Übernahme von Sozialkosten (KdU) erhebliche Entlastungen zu Gunsten von Ländern und Kommunen beschlossen. Klar ist: Das reicht nicht! Daher ist es umso dringender, mit der Lösung der Altschuldenproblematik den nächsten Schritt zu gehen.
Es war daher richtig, dass die Ampel-Koalition hat das Vorhaben erneut im Koalitionsvertrag 2021 aufgenommen hat. Der zuständige Bundesfinanzminister Lindner hat allerdings keine wirksamen Maßnahmen getroffen: Verzögerung statt Entschlossenheit war seine Devise.
Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung die Initiative ergreift und die Umsetzung konkret angeht. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind handlungsfähig und die demokratischen Parteien haben in beiden Kammern die notwendige 2/3-Mehrheit. Jetzt heißt es handeln ohne schuldhaftes Verzögern.
Insbesondere die Kommunen in Nordrhein-Westfalen würden von der Entlastung profitieren. Wenn die NRW-Landesregierung dies mit einer Bundesbeteiligung realisieren will, ist auch sie gefordert, die Grundgesetzänderung zu unterstützen und für eine Mehrheit zu sorgen.
Sind wir zur Solidarität fähig?
Wir sind selbstbewusst im Urteil, wenn es um unser Grundgesetz geht: 75 Jahre seines Bestehens haben wir mit gutem Gewissen und Stolz im abgelaufenen Jahr gefeiert. Der Begriff der Solidarität kommt explizit nicht vor, seine Bedeutung hingegen an vielen Stellen: der Sozialstaat in Art. 20 Abs. 1 GG und als sozialer Rechtsstaat in Art. 28 Abs. 1 GG. Und auch die Finanzverfassung ist vom Grundsatz der Solidarität zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geprägt.
Erst seit der Wiedervereinigung gibt es nach Art. 74 Abs. 1 GG im Grundgesetz die Legitimation für bundesstaatliches Handeln, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
„Gleichwertige Lebensbedingungen“, wohlgemerkt, nicht gleiche Lebensbedingungen, sind gleichsam der räumliche Ausdruck des Sozialstaatsprinzip, der das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und den Ländern untereinander seit jeher geprägt hat. In der geschichtlichen Rückschau im Länderfinanzausgleich zunächst zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung vor allem Bayerns, das aus den westdeutschen Ländern unterstützt wurde. Und auch wenn der Länderfinanzausgleich (LFA) seither immer wieder Gegenstand von Diskussion und Veränderung ist, die Ausgleichsfunktion an sich – also der Solidargedanke – steht nicht in Frage.
Seit der Einheit Deutschlands 1990 kennt jeder steuerzahlende Einwohner den Solidaritätszuschlag, der – für einen besonders finanzkräftigen Teil der Gesellschaft – bis heute gilt.
Nicht gleichermaßen im Bewusstsein ist die Finanzierung des Fonds Deutsche Einheit durch die Kommunen Westdeutschlands. Obwohl selbst durch massive industrielle Umbrüche etwa im Kohle- und Stahlsektor betroffen, mussten die Kommunen 40 % des Länderanteils aufbringen und wurden zu einer erhöhten Gewerbesteuerumlage herangezogen, die 2018 – zwei Jahre eher als vorgesehen – auslief, weil der Fond ausfinanziert worden war. Ende 2019 lief die sogenannte Solidarpakt-Umlage aus, die die Kommunen zu einer erhöhten Gewerbesteuerumlage nach § 6 Abs. 3 Gemeindefinanzreformgesetz verpflichtete. „Die Gemeinden werden in diesem Rahmen dann um weitere circa 3,4 Mrd. € jährlich entlastet“, lautete die euphemistische Darstellung des Finanzministeriums, um die viele Jahre dauernde solidarische Leistung zu beschreiben.
Ein weiteres Beispiel solidarischen Handels im föderalen Staat liefert die Coronakrise als der Bund 2020 auf Initiative des damaligen Finanzministers Olaf Scholz durch eine einmalige Grundgesetzänderung – wie auch jetzt geplant – eine hälftige Kompensation der Gewerbesteuerausfälle der Kommunen leistete und überdies eine maßgebliche Übernahme von Kosten der Unterkunft nach dem Sozialgesetzbuch beschloss.
Rund 11,8 Mrd. Euro der Gewerbesteuerausfälle übernahm seinerzeit der Bund, der sich überdies verpflichtete, die KdU-Kosten auf 74% zu erhöhen (vorher 49%) und damit bis heute jährlich fast 4 Mrd. Euro übernimmt. Schließlich wurden die neuen Länder durch eine Erhöhung des Bundesanteils an den Erstattungen für die Aufwendungen der Rentenversicherung aus den Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR entlastet. Immerhin bis heute um jährlich 340 Millionen Euro, um den Ländern Spielräume zur Stärkung kommunaler Investitionen zu ermöglichen. (Aufwendungen der Rentenversicherung aus den Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG)).
Fazit: Ja, Bund, Länder und Kommunen sind zu solidarischem Handeln jenseits von Zuständigkeiten und politischen Unterschieden in der Lage, wenn die Herausforderungen dies verlangen.
Warum erst jetzt – vier Wochen vor der Bundestagswahl?
Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind handlungsfähig. Warum sollte eine dringliche Aufgabe nicht noch vor der Bundestagswahl zur Entscheidung gebracht werden?
Die Regelungen zur Änderung des Grundgesetzes sind ähnlich wie bei der Übernahme der Gewerbesteuerausfälle temporär und nachvollziehbar, also entscheidungsreif. Die Verbändeanhörung hat ebenso stattgefunden wie die Beteiligung der Länder. Das Kabinett hat beschlossen.
Auch nach der Bundestagswahl wäre für diese Maßnahme eine Grundgesetzänderung, die eine entsprechende Zwei-Drittel-Mehrheit erfordert, unverzichtbar. Wer helfen kann, ja, muss dies jetzt tun – ohne schuldhaftes Verzögern.
Warum nicht im Haushalt?
Im Haushalt wird zunächst das veranschlagt, was auf gesetzgeberischem Weg beschlossen ist. Eine rechtliche Grundlage existiert aber noch nicht. Im Übrigen geht es nicht um die Aufnahme neuer Schulden – sie sind leider bereits vorhanden – sondern um eine Umschuldung, die die aktuellen Haushaltsberatungen nicht betrifft und auch nicht relevant für die Schuldenbremse sind. Haushaltsrelevant werden spätere Zins- und Tilgungsleistungen des Bundes – dafür fehlt derzeit allerdings die Grundlage.
Verhindern oder Ermöglichen?
Mit der angestrebten Änderung des Bundestages sind auch zunächst keine finanziellen Verpflichtungen verbunden. Es wird ein späteres Ausführungsgesetz geben müssen, in dem Details der Regelungen getroffen werden.
Allerdings: Ohne die gesetzliche Grundlage – also die Ermöglichung einer Altschuldenhilfe durch das Grundgesetz – wird es das nicht geben. Die Grundgesetzänderung ist also die Öffnung einer Option: Hilfe durch den Bund wird möglich.
Später geht’s auch noch…
Möglich, dass eine spätere Lösung nach der Bundestagswahl gefunden werden kann. Allerdings ist das Fenster der Gelegenheit jetzt vorhanden. Ob diese Chance nach einer neuen Regierungsbildung und inhaltlichen Positionierung der neuen Bundesregierung kommt, ist völlig ungewiss.
Außerdem ist leider offen, ob der neue Bundestag die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit der demokratischen Fraktionen erreichen kann.
Deshalb: Die Lage duldet keinen Aufschub. Die finanziellen Herausforderungen der Kommunen wachsen, während Investitionen für die Zukunft blockiert sind.
Solidarisches Handeln ist keine Option, sondern staatspolitische Verantwortung zur Verbesserung gleichwertiger Lebensverhältnisse und sozialer Stabilität im Land.
Zu den Autoren:
Bernhard Daldrup, MdB, kommunalpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Achim Post, MdB, NRW-Landesvorsitzender, stellv. Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion