Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR fällt es immer noch schwer, sich ein Bild von der inneren Verfassung des anderen Teils Deutschlands zu machen, das über geläufige Klischees hinausgeht. Eine Möglichkeit dazu ist die Lektüre von Autor*innen, die die DDR erlebt oder auch erlitten haben. Nach Autoren wie Wolfgang Hilbig, Karl Mickel, Kurt Drawert, über die wir im Blog der Republik berichtet haben, gilt dies insbesondere für Christa Wolf, sie sich zeitlebens mit der DDR-Wirklichkeit auseinander gesetzt hat.
Ich habe sie immer gerne gelesen und kenne das meiste von ihr. Es fing in den siebziger Jahren an mit dem Geteilten Himmel, den Kindheitsmustern, der Christa T., dann Kein Ort. Nirgends und die große Kassandra, später die Medea und schließlich die Stadt der Engel (2010) als ihrem letztem Roman, bevor sie 2011 starb. Dazwischen las ich immer mal wieder Essays und Erzählungen, Schreibkonzepte, Reden und Notizen von Christa Wolf. Sie ist so etwas wie eine alte Freundin für mich, auf die man immer wieder zurückgreift, deren Werk man nachhält und an deren persönlichem Ergehen man Anteil nimmt. Wenn ich heute überlege, was mir an ihren Texten gefallen hat, dann ist es wohl die Fähigkeit der Autorin zum klaren Ausdruck, die schöne Sprache, eine besondere Erzählkunst, die schon immer mit Zeit, Ort und Raum zu jonglieren wusste, die gekonnte Historisierung. Ob sie ihre Figuren nun in die Romantik versetzt, wie im Fall der Günderrode oder in die griechische Mythologie im Fall von Kassandra und Medea. Und nicht zuletzt ist es die bewusste weibliche Note, die sie ihnen verleiht; man könnte auch sagen: der Feminismus in Wolfs Werk, der stets eingebunden ist in einen herrschaftskritischen Humanismus.
Schaut man sich die Hauptfiguren bei Christa Wolf an, so handelt es sich in den meisten Fällen um starke Frauen. Unter starken Frauen möchte ich hier solche verstanden wissen, die selbständig und unabhängig denken und handeln, selbstbewusst sind, aber auch immer wieder Selbstzweifel und Skrupel haben, die eine hohe Moral an ihr Tun und das Tun anderer legen sowie die herkömmlichen Geschlechterrollen durch unkonventionelles, mutiges Auftreten und Verhalten sprengen. Solche Merkmale sind es, die in die Konstruktion der Wolfschen Protagonistinnen eingehen.
Gleich in Nachdenken über Christa T. haben wir es mit einer solchen Frau zu tun. Eine, die tatsächlich gelebt hat und mit der sich die Autorin anscheinend identifiziert. Im Klappentext des Romans heißt es:
In einem kleinen Dorf jenseits der Oder wuchs sie auf, nach dem Krieg war sie für kurze Zeit Lehrerin und studierte dann Germanistik. Sie heiratete einen Tierarzt, auf dem Lande wurde ein Haus gebaut, sie hatten Kinder, sie hatten Freunde. Dann starb Christa T. an Leukämie. Sie hinterließ Tagebuchnotizen, Briefe, Skizzen. Die schriftlichen und mündlichen Hinterlassenschaften sammelte Christa Wolf, um als Ich-Erzählerin die Geschichte der Freundin aufzuschreiben. Es geht ihr nicht darum, weniger bedeutungsvollen Lebensumständen Brisanz zu verleihen. Sie denkt über Christa T. nach und ist dem Individuum, seinem Verhältnis zur Gesellschaft auf der Spur. Christa T.’s schriftstellerische Neigungen sind für die Autorin der Ansatzpunkt. Individualität innerhalb einer sich als Kollektiv verstehenden Gesellschaft, das heißt: Christa T.s Versuch der Selbstverwirklichung, das ist Christa Wolfs Entdeckung als Ergebnis ihres Nachdenkens.
In den siebziger Jahren gab es eine Reihe von Schriftstellerinnen in der DDR, die ähnlich wie Wolf Frauenbiographien und –schicksale nachzeichneten – ob fiktional oder real – von denen man mit Fug und Recht sagen kann: Sie sind ungewöhnlich. Ich denke an Brigitte Reimann und ihren unvollendet gebliebenen Roman Franziska Linkerhand; auch sie starb wie Christa T. an Krebs, mit 39 Jahren. Als der Roman ein Jahr nach ihrem Tod (1974) herauskam, soll die Zensurbehörde in den Text durch Kürzungen eingegriffen haben; das bestätigt die Neuausgabe von 1998, die vollständig ist und auf das Originaltyposkript zurückgeht; dem Nachwort ist zu entnehmen, dass etwa vier Prozent des Gesamtumfangs gestrichen wurden, darunter gerade auch solche Passagen, die sich kritisch mit der DDR-Gesellschaft auseinandersetzen.
Ich denke an Maxi Wander, die – erschütternd genug – ebenfalls krebskrank war und 1977 44jährig starb; in dem Buch Leben wäre eine prima Alternative sind ihre Tagebuchaufzeichnungen und Briefe zusammengestellt; sie vermitteln nicht nur einen Einblick in ihre Leidensgeschichte als Krebskranke, sondern auch ihre Ansichten zu gesellschaftlichen Institutionen (wie etwa im Gesundheitswesen aus eigener Erfahrung), Sitten und Unsitten, Männer- und Frauenbildern in der DDR; auf eine überaus erfrischende Art, so dass man voller Ehrfurcht und Anerkennung vor dieser Tapferen den Hut zog.
Ich denke weiter an Irmtraud Morgner, die mich mit ihrer Trobadora Beatriz und später mit dem Hexenroman Amanda in den Bann zog. So frech und unverblümt, so ironisch und herausfordernd emanzipiert hatte ich noch selten Frauen schreibend wahrgenommen und gelesen. Und zog Rückschlüsse auf den Stand der Frauenemanzipation im anderen Teil Deutschlands.
Zurück zu Christa Wolf. Sie war beteiligt an dieser informellen Bewegung der Schriftstellerinnen in der DDR. Sie stand über Jahrzehnte in Briefkontakt mit Brigitte Reimann. Sie hat für den Band von Maxi Wander Guten Morgen, Du Schöne, der aus Protokollen und Interviews mit Frauen mitten aus dem Leben besteht, das Vorwort geschrieben und an seinem Zustandekommen tatkräftig mitgewirkt.
Ihr Buch Nachdenken über Christa T. (Erstveröffentlichung 1969) war wohl wegbereitend für die o.g. Autorinnen, so dass man von der Schaffung eines politischen wie literarischen Klimas sprechen kann, unter dem dann später das Schreiben solcher „Frauenbücher“ gedeihen konnte. Wie schwierig diese Wegbereitung war, kann man an der kritisch ablehnenden Beurteilung des Romans Nachdenken über Christa T. durch offizielle Stellen ermessen. Man sah die Autorin mit ihren Romanfiguren auf ungesundem Konfrontationskurs zum Sozialismus. Wolf selbst erinnert (im Engel-Roman) diese Rezeption als Form der Denunziation und Verunglimpfung, die an ihren eigenen Ansprüchen und Motiven vorbei gegangen sei.
In der Erzählung Kein Ort. Nirgends (1979) nimmt sich Christa Wolf Karoline von Günderrode zur Protagonistin. Wiederum eine eigensinnige, unkonventionelle Erscheinung, die schon ihren Zeitgenossen Rätsel aufgab. Als Stiftsdame war sie gelehrt und hochgebildet. Ihre ganze Leidenschaft galt der Poesie. Sie war von einer tiefen Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben erfüllt. In ihren Gedichten, die sie unter dem Pseudonym Tian veröffentlicht, bringt sie den Konflikt zum Ausdruck, in dem eine junge Frau wie sie in ihrer Zeit stand, die eigenen Freiheitsideen verwirklichen zu wollen und gleichwohl Bindungen und Liebesbeziehungen einzugehen. Sie fand zwar unter einzelnen Dichterkollegen wie Goethe und Clemens Brentano Anerkennung für ihre Poesie, aber viele Zeitgenossen soll sie mit ihrer bedingungslosen, kühnen, männlichen Diktion abgeschreckt haben. Die Günderrode widersprach den landläufigen Vorstellungen davon, wie sich eine Frau zu verhalten und wie sie zu dichten habe. Eine wie sie, die später die Sappho der Romantik genannt wurde, musste zwangsläufig an den auf ihr lastenden Konflikten und Widersprüchen zerbrechen: sie nahm sich 24jährig das Leben.
Das tut sie auch in Kein Ort. Nirgends. Christa Wolf arrangiert in dieser Erzählung eine fiktive Begegnung der Günderrode mit Heinrich von Kleist. Im Rahmen einer Teegesellschaft, an der namhafte Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben der deutschen Romantik wie die Geschwister Brentano und Savigny teilnehmen, begegnen sich Kleist und Günderrode zum erstenmal. Wolf stellt sie so vor:
Einer, Kleist, geschlagen mit diesem überscharfen Gehör, flieht unter Vorwänden, die er nicht durchschauen darf. Ziellos, scheint es, zeichnet er die zerrissene Landkarte Europas mit seiner bizarren Spur. Wo ich nicht bin, ist das Glück.
Die Frau, Günderrode, in den engen Zirkel verbannt, nachdenklich, hellsichtig, unangefochten durch Vergänglichkeit, entschlossen, der Unsterblichkeit zu leben, das Sichtbare dem Unsichtbaren zu opfern.
Daß sie sich getroffen hätten: erwünschte Legende.
Beiden ist zunächst gemeinsam, dass sie sich in dem Kreis nicht wohl fühlen, ja fehl am Platze vorkommen. Kleist kennt diese Zirkel, die nur zusammentreffen, um sich in ihren Ansichten zu bestätigen. Und langweilt sich. Während er – leidend und am Rande stehend – nur in Gesellschaft seines Arztes zu sehen ist und sich sonst aus dem Geschwätz raushält, ist Karoline zwar in die Gespräche involviert, fühlt sich aber alles andere als wohlwollend aufgenommen, sondern als Poetin selbst noch vorgeführt, was sie erzürnt und zur Gegenwehr herausfordert. Kleist gilt in der Runde als schwermütiger, stummer Fremdling, die Günderrode als hochmütig und unbeugsam.
Mein Freund, meine Freunde! Nur zu gut verstehe ich ihre Blicke. Unheimlich bin ich ihnen, doch können sie nicht sagen, warum. Ich weiß es: Ich bin unter ihnen nicht heimisch. Wo ich zu Hause bin, gibt es die Liebe nur um den Preis des Todes. Und ich staune, dass diese offenbare Wahrheit niemand außer mir zu kennen scheint, und dass ich sie, wie Diebesgut, in den Zeilen meiner Gedichte verstecken muß.
Sehr feinsinnig entwirft Christa Wolf dieses Szenario, in dem es – typisch für die bürgerlichen Salons – knistert vor Spannungen; kleine Gemeinheiten und zur Schau getragenes Gehabe machen die Runde.
Als sich die gleichermaßen hochsensiblen wie verletzlichen Kleist und Günderrode endlich näherkommen, stellen sie mehr und mehr Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten fest: Sie sind beide Außenseiter und von einer unstillbaren Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben erfüllt. Sie teilen ein Fremdheitsgefühl in ihrer jeweiligen Umgebung, wenn auch auf genderdifferente Weise. Sie leiden an den Einschränkungen in Form von gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen, an geschlechtlichen Normierungen, die vor allem Frauen Fesseln anlegen, und stoßen sich an Konventionen. Sie verspüren in sich zugleich das Weibliche und das Männliche als Prinzipien, die sich feindlich gegenüberstehen. Statt sie zu bereichern, müssen diese Empfindungen unterdrückt werden. In ihren tiefsinnigen Gesprächen tauschen sie sich aus über ihr negatives Lebensgefühl, Ehrgeiz (der nur als männliche Tugend gebilligt wird), Illusion von Freiheit, Selbsttäuschung, die eingeschränkte Existenz des weiblichen Geschlechts (so Kleist) und über das Unsichtbare an den Rändern als Versuch der Erweiterung existentieller Möglichkeiten (so Günderrode). Sie machen die Erfahrung, dass sie sich erstmals im anderen verstanden sehen, von Nähe auch in der Differenz, und diese Seelenverwandtschaft verbindet sie – auch in ihrer Ausweglosigkeit.
Ein Vorgefühl des Lebens, das diesen Namen verdient, ist in ihr. Einmal wird sie dem folgen müssen, besinnungslos. Daß sie daran sterben wird, weiß sie, aber auch, dass sie dieses Wissen vergessen kann, wenn es so weit ist. Erst in der Gewissheit des Todes kann das ersehnte freie Leben entworfen werden. Und in tiefer Resignation lässt Wolf Kleist resümieren: Die Erleichterung, als er die Hoffnung auf eine irdische Existenz, die ihm entsprechen würde, aufgab.
Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends. Mit einem stummen Einverständnis: Einfach weitergehen. Wir wissen, was kommt, treten sie ab – wahrscheinlich in den gemeinsamen Freitod.
Christa Wolf hat mit dieser Schrift nicht nur einer großen Dichterin der Romantik Ehre erwiesen. Sie hat auch der neueren Frauenbewegung Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts eines ihrer frühen Vorbilder nahegebracht. Die Eigenschaften, die sie der Günderrode zuschreibt, sind: stolz und leidenschaftlich, nachdenklich und hellsichtig zu sein, auch hochmütig und unbeugsam; von ihr gehen Würde, auch Abweisung aus, und ihre hochfliegende Natur ist in den Gegensatz zu den beengtesten Verhältnissen gespannt. Damit wird sie nicht nur der historischen Figur gerecht, sondern verfährt historisierend und literarisierend im Sinne einer Idealkonstruktion von weiblicher Stärke wie von großem seelischen Leiden an den gesellschaftlichen Umständen.
Der innere Kampf einer Frau um Würde und Anerkennung im literarischen Feld ist von überzeitlicher Geltung. So kann die Erzählung patriarchatskritisch gelesen werden. Aber auch eine Lesart, dass sich hier Kritik an der Situation der Künstler und Künstlerinnen in der DDR-Gesellschaft äußert, die die zahlreichen Reglementierungen und Bevormundungen seitens des Staatsapparates anprangert, ist denkbar und plausibel.
Wenige Jahre später stößt Christa Wolf per Zufall, wie sie selbst in den Frankfurter Poetikvorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra sagt, auf den antiken Stoff rund um die Figur der Kassandra. Sie liest die Orestie von Aischylos und ist fasziniert von dieser Frau. Die Erzählung, die sie daraufhin schreibt, erscheint 1983. Auch hier soll wieder der Blick darauf gerichtet sein, wie die Autorin diese ihre Hauptfigur konstruiert. Der griechischen Mythologie zufolge und auch bei Christa Wolf ist Kassandra, die Königstocher aus dem gefallenen Troja, mit einer Sehergabe ausgestattet. Diese Fähigkeit ist allerdings, da sie sich der Liebe des Apollon verweigert hat, mit dem Fluch belastet, dass ihren Prophezeiungen nicht geglaubt wird. Das ist mehr als eine Einschränkung, denn bei allem, was in der Mythologie und in der Erzählung passiert: Kriegerische Auseinandersetzungen ohne Ende, Morde, Schändungen, Menschenopfer zuhauf – steht fest: man hätte es wissen und damit verhindern können.
In einem Strom von Erinnerungen, Assoziationen, Überlegungen, Deutungen und Umdeutungen ihrer Erfahrung stellt sich Kassandra ihrer eigenen Geschichte. Es ist die uralte und ganz gegenwärtige Geschichte einer Frau, die zum Objekt gemacht werden soll. Kassandras ‚Sehergabe’ besteht darin, dass sie die Folgen des kriegerischen Prozesses ‚sieht’, und dass sie sagt, was sie sieht. Das bringt sie in schmerzlichen Gegensatz zum geliebten Vater, das treibt sie in den Wahnsinn, macht sie zur Außenseiterin im Palast und im Tempel des Apollon, dessen Priesterin sie ist; das bringt ihr Gefangenschaft ein. Erzählt wird die Entwicklung der Kassandra zu einer selbständigen Frau, der es möglich ist, neue Bindungen einzugehen: vor allem die zu Aineas, aber auch zu den Frauen, die in den Bergen um Troja ein anderes Leben führen als das der Burg, und die andere Göttinnen anbeten als den glatten Apoll und die von Vater Zeus geschaffene Pallas Athene. Hier wird ihr schmerzlich bewusst, dass zwischen Töten und Sterben ein Drittes ist: Leben.
Es ist die Geschichte einer mit Klugheit, Intelligenz und Weitsicht ausgestatteten Frau aus der Oberklasse, die nicht einfach hinnehmen will, dass permanent Kriege geführt werden und dass Frauen aus allen politisch relevanten Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Die unter Aufbietung ihres intellektuellen Vermögens sich Klarheit darüber verschafft, in welchen verhängnisvollen Verwicklungen und Strukturen sie sich befindet, und nach Lösungen und Wegen sucht, sich daraus zu befreien. Die Entscheidung für ihre Autonomie bezahlt sie mit dem Leben.
Mehr als zehn Jahre später (und sieben Jahre nach der Wende) greift Christa Wolf erneut auf die griechische Mythologie zurück und schreibt einen Roman über Medea. In Medea. Stimmen folgt sie der klassischen Vorlage aber nur bedingt: Steht Medea hier im Ruf, ihren jüngeren Bruder und ihre eigenen Kinder umgebracht zu haben, so deutet Wolf im Roman den Mythos um und macht aus ihrer Protagonistin eine von dieser Schuld freie Frau, der diese Verbrechen aus machtstrategischen Kalkülen lediglich angehängt oder nachgesagt werden. Der Roman wird aus der Sicht von sechs verschiedenen Personen erzählt; neben Medea selbst sind dies Männer und Frauen aus Kolchis und Korinth, die Medea entweder nahe stehen oder aber ihr feindlich gesinnt sind. Mit dieser Erzählform gelingt es der Autorin, die Selbstwahrnehmung Medeas und die Wahrnehmung durch ihr Umfeld zu spiegeln. Für meinen Fokus, nämlich auch hier wieder darauf zu achten, wie Christa Wolf ihre Hauptfigur ausstattet, eine ertragreiche Form.
Medea, eine Königstochter aus Kolchis, flieht mit Jason nach Korinth, weil ihr die politischen Verhältnisse unter ihrem Vater (er opfert zum eigenen Machterhalt seinen Sohn, um dessen Thronfolge zu verhindern) unerträglich geworden sind. Sie sieht den Niedergang ihres Landes, das von dem alten, verknöcherten, hinfälligen, unfähigen König und Vater schlecht regiert wird. Der Traum der Kolcher von gerechter Regierung sei dahin. Fliehen habe sie müssen und selbst den eigenen Vater verraten, weil ich in diesem verlorenen, verdorbenen Kolchis nicht bleiben konnte.
In ihrem Bemühen, sich in der neuen, ihr fremden Umgebung zurechtzufinden, stößt sie auf vielerlei Ablehnung und Anfeindung. Nicht zuletzt, weil sie als Kolcherin so anders ist als die Korintherinnen. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, so Medea. Sie gilt als stolz und hochmütig, und ihr wird nachgesagt, dass sie über Zauberkräfte verfüge, mit denen sie nur Unheil über das Land bringe. Die Anfeindungen gehen so weit, dass man sie der Hexerei bezichtigt, und selbst noch die über Korinth ausgebrochene Pest schiebt man ihr in die Schuhe.
Das Kernmotiv dieser Anfeindung liegt darin, dass Medea im Besitz eines Wissens und von Beweisen darüber ist, dass die Stadt (Korinth) auf einem Verbrechen gründet. Dieses Verbrechen besteht – wie schon der Mord an ihrem Bruder in Kolchis – auch hier in einem sogenannten Menschenopfer. Auch in Korinth festigt der König seine Macht durch die Tötung seiner Tochter, die ihn nach altem Brauch (einer matriarchalen Linie) als Regenten ablösen sollte. Medea entdeckt die Überreste des kindlichen Leichnams und weiß als einzige außerhalb der Königsfamilie um das wirkliche Geschehen. Dem Volk von Korinth wurde erzählt, das Mädchen sei entführt worden und inzwischen selbst Königin eines fernen Reiches.
So stellt Medea fest, dass auch in Korinth die Toten regieren. Oder es regiert die Angst vor dem Tod. Sie reflektiert ihre Situation, indem sie sich auf Kirke beruft, in der sie ihre Vorläuferin sieht. Auch sie ist vertrieben und gejagt worden, auch ihr werden Verbrechen angelastet, auch ihr hängt der Ruf der bösen Zauberin an. Wie konnte ich das vergessen?, fragt sie sich und konstatiert die Lüge als Machtinstrument. Sie lügen, lügen, lügen, die Mächtigen sind Meister im Lügen, auch im Sich-selbst-Belügen.
Medea ist bei Christa Wolf eine selbstbewusste, kluge und stolze Frau, die sich zwischen zwei Welten – fremd hier wie dort – zu behaupten sucht. Andere sagen: zu schlau, zu vorlaut, zu sehr Weib. Mit ihrem Verhalten flößt sie den Korinthern und besonders den Mächtigen Angst ein. Jason sagt von ihr, Medea werde ihm zum Verhängnis, er stoße sich an ihrer herausfordernden Art und ihrem stolzen, spöttischen Wesen. Das widerspricht dem Frauenbild eines Korinthers: Wir fanden es übertrieben, wie die Kolcher ihre Frauen hielten, als hinge von ihrer Meinung und ihrer Stimme etwas Wesentliches ab.
Eine interessante Konstruktion, die Christa Wolf hier vornimmt: Zwischen den Kolchern und hier vor allem den Kolcherinnen und den Korinthern und hier wieder vor allem den Korintherinnen gibt es Differenzen, wenn nicht gar Gegensätze: dem traditionellen Frauenbild der Korinther steht modernes, auf Eigen- und Selbstständigkeit ruhendes der Kolcher gegenüber; im reichen Korinth wird Macht mit viel Prunk zum Ausdruck gebracht, im armen Kolchis ist selbst der Königspalast nur aus Holz; in Kolchis sind die Menschen eher kleinwüchsig und dunkelhäutig (was wahrscheinlich nur symbolisch zu verstehen ist), aber sie vermitteln den Korinthern gleichwohl ein Unterlegenheitsgefühl usw.
Nur in der Machtausübung gleichen die Mächte sich immer mehr an. Hier wie dort regiert der Tod und die Lüge. Greift Christa Wolf mit der Entgegensetzung möglicherweise ein Ost-West-Motiv auf? Dann könnte man Kolchis mit dem Osten, sprich der DDR, vergleichen und Korinth mit dem Westen, sprich der BRD. Und geht hier wiederum ein Motiv ein, das uns schon im Zusammenhang mit der Erzählung über die Günderrode begegnet ist, nämlich das allseitiger Fremdheit – Kein Ort. Nirgends?
Der Medea immer wieder zugeschriebene Hochmut wird von ihr selbst als eher etwas wie Zuversicht interpretiert. Obwohl sie unter den Anfeindungen, ja dem Hass, der ihr entgegengebracht wird, leidet – von Kummer und Lebensschmerz ist die Rede, die ihr die Haare ausfallen lassen – ist sie ungebrochen und unbeugsam – bis in die Verbannung hinein. Stolz verkündet sie: Ich bin Medea, die Zauberin, wenn ihr es denn so wollt. Die Wilde, die Fremde. Ihr werdet mich nicht klein sehen.
Als letztes Beispiel für die Konturierung ihrer Hauptfiguren soll der Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010) herangezogen werden. Wenn Freud bereits im Titel dieses autobiographischen Romans vorkommt, kann vermutet werden, dass es sich hier um ein Buch von therapeutischem Wert für die Autorin handelt (die Ich-Erzählerin ist zum Verwechseln der Autorin ähnlich, es gibt so gut wie keine Distanz zwischen beiden). Sie beschreibt ihren halbjährigen Aufenthalt in den USA/Los Angeles im Jahr 1992/93 als Stipendiatin der Getty-Stiftung. Also zwei, drei Jahre nach den einschneidenden Ereignissen der friedlichen Revolution oder sogenannten Wende, die sie nicht unbeschadet erlebt hatte.
Mit dem Engel-Roman arbeitet sie allem Anschein nach ihre Krisen und Erfahrungen auf und befreit sich schreibend von Schuldgefühlen und Gewissensqualen, die sie im Laufe ihrer Biographie als Schriftstellerin und DDR-Bürgerin auf sich geladen hatte. Aber nicht ohne sich selbst immer wieder aufs Neue als Opfer von Denunziationen und Anfeindungen darzustellen – ob seitens der alten SED-Kader oder westdeutscher Medien.
Formal weist das Buch mindestens zwei Handlungsebenen auf: Auf der ersten erinnert die Autorin den Aufenthalt in Los Angeles, der auch schon wieder zwanzig Jahre zurückliegt, in einer ihren Alltag in der Fremde, ihre Eindrücke und Erfahrungen reflektierenden oder auch nur beschreibenden Weise. Bisweilen verfährt sie hierbei so minutiös und detailgetreu, dass man sich fragt, welchen Stellenwert solche Banalitäten – wie die genaue Beschreibung dauernden gemeinsamen oder einzelnen Essengehens oder Einkaufens – für sie haben könnte. Vielleicht sind auch dies Haltepunkte, Mittel der Selbstvergewisserung, wie es die vielen Einzelgespräche sind, die sie mit Mitstipendiatinnen und Mitstipendiaten führt, über die sie berichtet und die ihr bei der Aufarbeitung ihrer persönlichen Geschichte helfen.
Die wird plötzlich virulent, als sie über Faxe aus Deutschland erfährt, dass eine Stasi-Täter-Akte über ihre Spitzeltätigkeit in den fünfziger Jahren aufgetaucht ist. Diese Nachricht wirft die Erzählerin buchstäblich aus der Bahn. Einerseits macht sie sich quälende Selbstvorwürfe und fragt sich immer wieder, wie sie das habe tun können, vor allem aber, wie sie das habe vergessen können. Mit Freud würde man hier von Verdrängung sprechen. Andererseits sieht sie sich auch wieder in der Opferrolle, einer Hexenjagd ausgesetzt, die die bundesdeutsche Presse mit ihr veranstaltet. Hier kommt die Autorin nicht ohne Larmoyanz und Selbstmitleid aus, wozu auch die Relativierung ihrer relativ kleinen Täter- mit der um ein Vielfaches umfangreicheren Opfer-Akte bei der Stasi gehört.
Auf einer zweiten Ebene erfolgen immer wieder Rückblenden auf ihre DDR-Vergangenheit: Sie erinnert neuralgische Punkte und Situationen ihrer politischen Sozialisation, persönliche Krisen und Konflikte, bei denen ihr – real und symbolisch – jedes Mal die Haare ausgefallen sind.
Das Jahr 1976 scheint für sie eines der schlimmsten gewesen zu sein: die Biermann-Ausweisung und wie man sich in Intellektuellenkreisen dazu verhält; der Kampf zwischen Loyalität und Kritik am Regime; der Kampf ums Bleiben, ohne die anderen, die sich abgesetzt haben, zu verdammen etc. Man hat den Eindruck, dass sich die Autorin lebenslang als Verkannte vorkommt: fürs Regime nicht loyal genug, für den Widerstand nicht kritisch genug. Von diesem Dilemma zeugt das Buch in den vielen Rückblenden und Selbstreflexionen. In weiten Teilen liest es sich wie eine groß angelegte Selbstrechtfertigung, in der das Eingeständnis der eigenen moralisch-politischen Fehlbarkeit eine zentrale Rolle spielt. Der Hinweis auf Freuds Mantel, der sich symbolisch schützend und helfend um ihre Schultern legt, wirft ein Licht auf ihren verzweifelten Zustand, der nur noch mit Hilfe psychoanalytischen Beistands bewältigbar erscheint. Über diesen Sachverstand verfügt im Kreis der Stipendiaten zwar niemand, aber als Gesprächspartner gewähren sie der Autorin Hilfe und Unterstützung; rollenverteilt scheint jede hier involvierte Person einen tragenden Part zu übernehmen.
Diese Teile sind mit wenigen Ausnahmen literarisch nicht besonders interessant – noch nie habe ich von Christa Wolf ähnliches gelesen: ein zwar emotional und politisch nachzuempfindender, aber eben ein Bericht und kein Roman. Das ändert sich im letzten Teil des Buchs. Dieser handelt von einer Exkursion, die die Autorin nach Abschluss des Kalifornien-Aufenthalts gemeinsam mit zwei Seminarteilnehmern in die Grand Canyons unternimmt. Ziel dieser Reise ist der Besuch der Hopi-Indianer in einem Reservat namens Navajo-Land. Man hat eine direkte Anlaufstelle in Gestalt einer Hopi-Familie, so dass eher Innenansichten möglich sind als bei den üblichen touristischen Veranstaltungen, von denen sich die kleine Gruppe bewusst absetzen möchte. Hier nun, bei der Schilderung dieser anderen Welt – sie soll die Seele Amerikas sein – läuft Christa Wolf literarisch zu alter Stärke auf. Indem sie ihre persönlichen Eindrücke, Begegnungen, Naturschauspiele, die fremde Kultur und eine schier unbeschreiblich schöne Landschaft schildert, wirkt sie ganz frei von all ihren Lasten; sie sagt es sogar, spricht vom plötzlichen Frei-Sein, und das wirkt sich auf ihren Stil aus. Auch dass sie einen Engel namens Angelina erfindet, der sie schutzengelgleich und doch eigensinnig und spöttisch auf Schritt und Tritt begleitet und mit dem sie spricht und streitet, ist ein interessantes literarisches Mittel der Selbstbeobachtung und –korrektur.
Nachts hielt der Kachina [eine holzgeschnitzte Götterfigur als Opfergabe aus dem alten Hopi-Glauben] bei mir Wache. Aus dem Schlaf heraus sprach ich mit Angelina, die ich in der Nähe spürte. Ich sagte, wenn man sich tief genug herabsinken lasse, verschwänden die Unterschiede zwischen den Menschen und Völkern. Ein Geist umschwebe uns alle, sagte ich, schlafend. Es sei der Geist dieser Opfergaben, der auch in ihr, Angelina, lebendig sei. Und in der Nonne Perma, die sie wohl nicht kenne. Wollen wir ihn Ehrfurcht nennen? Wir Weißen haben uns am weitesten von ihm entfernt, sagte ich. Aber mir sei jetzt klargeworden, dass mir dieser Mantel des Dr. Freud aus keinem anderen Grund beigegeben sei, als um mich dieses Geistes zu vergewissern. Angelina schwieg.
Hier, mit der (Wieder-)Entdeckung der Ehrfurcht – vor anderen Kulturen und Völkern, vor der Schöpfung vielleicht – als einer höheren Idee und Sinngebung, deutet sich die Wende in der Erzählerin selbst an. Ehrfurcht und Demut treten an die Stelle von Selbstzentriertheit – gerade auch in der larmoyanten Variante, die sich oft quälend liest.
So bin ich zum Schluss dann doch versöhnt und sehe dieser integren, politisch sich immer treu gebliebenen Schriftstellerin vieles nach. Ihr Schicksal, nämlich mitten im Leben diesen (System-)Bruch und ein persönliches Gebrochensein verkraften und verarbeiten zu müssen, steht für viele ihrer Zeitgenossen, aber nur wenige haben das Zeug, diesen schmerzvollen, krisenhaften Prozess so zu dokumentieren und schließlich über ihn hinauszuwachsen – ihn bewältigt zu haben. Und dazu gehört das Eingeständnis eigener Fehlbarkeit: Das weiß ich doch schon lange, dass die eigentlichen Verfehlungen diejenigen sind, die im Stillen geschehen, und nicht die öffentlich sichtbaren. Und dass man diese stillen Verfehlungen sehr lange vor sich selbst verleugnet und dass man sie niemals ausspricht. Zäh und dauerhaft hüten wir dieses innerste Geheimnis.
Sucht man nach Gemeinsamkeiten der Protagonistinnen in Christa Wolfs Werk, so fällt auf, dass sie eine Stärke verkörpern, die auf Intelligenz, Mut, Klarsicht, Selbständigkeit, Autonomiestreben, moralischer Integrität, Kraft zur Selbstfindung und –befreiung beruht, die aber durch widrige Umstände immer wieder in Fesseln gelegt wird. Es sind Leidende, aber nicht Selbstverzagte. Sie befinden sich häufig in einer Opfer-Rolle, kämpfen gegen Lüge und Verleumdung an, halten Ideale hoch, wähnen sich im Besitz der Wahrheit und verkünden diese auch, wodurch sie Anfeindungen ausgesetzt sind und zum Hassobjekt oder Sündenbock gemacht werden. Sie sind auf der verzweifelten Suche nach einem lebbaren Leben, getrieben von der Sehnsucht nach freier Lebensäußerung, Anerkennung und gerechter Würdigung ihres Tuns und Schaffens. Sie leben in einer Spannung zwischen zwei Welten, sind weder hier noch dort heimisch, Fremde im eigenen oder fremden Land, Getriebene und Verfolgte. Das wirft ein Licht auf die persönliche Tragik der Autorin. Auch Christa Wolf war eine Leidende, eben eine Mater dolorosa. In jede der von ihr erfundenen Hauptfiguren geht ein Stück von ihr selber ein, Züge ihres Charakters, Kämpfe, die sie durchstanden hat, Seelenschmerz aus dem Gefühl von ungerechter Behandlung und Verunglimpfung. Auch für sie gab es keinen Ort mehr: Den Sozialismus, den sie erlebt hat und zu dem sie bei aller erlittenen Unbill treu stand, entsprach nicht dem, den sie sich gewünscht und ersehnt hatte. Der Kapitalismus, in dem sie dann lebte, entsprach erst recht nicht ihren Idealen und Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und Gleichheit. Das Gegenteil davon hat sie in Kalifornien in den Schwarzenghettos erlebt, sie erlebte es in Europa, in Deutschland, überall. Aber sie war – wie ihre Protagonistinnen – nicht nur Opfer, sondern auch eine Frau, die zu kämpfen verstand.
Bildquelle: Wikipedia, Medea von Artemisia Lomi Gentileschi, CC BY-SA 4.0