„Schade, dass Ihr schließt“. Den Satz hörte Giorgio Tartero an diesem Abend immer wieder. Und mit einem Lächeln antwortete der Sassella-Chef: „Nach 42 Jahren ist es gut, Du musst wissen, die Beine sind alt geworden.“ Dabei läuft er den ganzen Abend wie ein Junger von der Küche durchs Lokal an dieTheke, begrüßt seine Gäste mit ausgestreckten Armen: „Schön, dass Ihr gekommen seid.“ Und öffnet Weinflaschen, grüßt hier und da, schüttelt Hände. Ja, wer ist alles gekommen zum Abschied dieses italienischen Feinschmecker-Lokals in Bonn-Kessenich? Jüngere Paare, Leute im mittleren Alter, ein Stammtisch mit rund einem Dutzend Frauen und Männern. Nein, die von früher, die Politiker, die hier zu Bonner Hauptstadtzeiten sich gern trafen bei Pasta und Wein, um dies und jenes zu besprechen oder auszuhecken, sie sind nicht da. Entweder sind sie in Berlin oder schon tot, oder zu alt für derlei Events.
Das Sassella. Eine große Nummer in der früheren Bundeshauptstadt. Spricht man Giorgio- sein Bruder Francesco arbeitet am Herd in der Küche-darauf an, zeigt er sofort den Tisch, wo Helmut Kohl vor Jahrzehnten saß mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, darunter mit Eduard Ackermann, seinem Mann für die Presse, der manches ausbügelte, wenn es nötig war. Den „Ede“ schätzten alle, er sagte nicht immer alles, was er wusste, aber er legte auch niemanden rein. Kohl nannte ihn auch Carbonara, weil er im Sassella stets das gleichnamige Gericht bestellte. „Und drüben saß Gerhard Schröder“. Ja, der SPD-Kanzler wusste auch, gute Gastlichkeit, italienische Speisen und Weine zu schätzen. Man sah ihn damals mal mit Joschka Fischer und Otto Schily, zwei Strategen aus dem ersten bundesweiten rot-grünen Bündnis.
Am letzten Abend war der Laden wieder mal voll. „Seit Wochen sind wir ausverkauft“, erzählt der Oberkellner, auch er ein langjähriger Mitarbeiter im Sassella. Ja, es gab immer viele Stammgäste. Wer einmal da war, kam gern wieder. Die selbst gemachte Pasta vergisst man nicht so schnell, der Service war immer freundlich, überhaupt die Atmosphäre: Super, nicht überdreht, aber schon auch ein wenig heimisch. Das Sassella wird fehlen, aber 42 Jahre sind auch eine lange Zeit. Auch im Sassella hatte man zu kämpfen, als der politische Betrieb nach Berlin zog. Da blieben oft die Mittagsgäste weg, ein spürbarer Verlust nicht nur hier. Das Lokal musste die Pandemie überbrücken, ein harter Kampf, manche Gäste holten sich ihr Essen quasi an der Tür ab, Giorgio stand an der Essensausgabe.
Früher, so begann am letzten Abend manches Gespräch. Die jüngeren Gäste kennen die Begebenheiten von früher nur vom Hörensagen. Zum Beispiel die Sache mit der „Pizza Connection“. So hieß das Treffen junger CDU-Abgeordneter mit ihren Grünen Kolleginnen und Kollegen im Keller des Lokals. Sie trafen sich heimlich die Laschets und Özdemirs, die Gröhes und Pofallas, die Klaedens, Altmeiers und Röttgens mit den Lemkes und Becks und Göring-Eckardts. Das war ziemlich ungewöhnlich, weil die Grünen damals noch nicht zu erklärten Wunschpartnern der CDU-Spitze gehörten. Kohl mochte die Grünen anfangs überhaupt nicht, wobei zu ergänzen ist, dass die fehlende Sympathie auch auf Seiten der Grünen lag. Pizza Connection, obwohl es im Sassella überhaupt keine Pizza gab, Aber egal, die jungen Politiker von Schwarz und Grün sinnierten über gemeinsame Projekte in der Zukunft. Ob die noch kommt für Schwarz-Grün im Bund? 2017 scheiterte ein Versuch von Angela Merkel, weil FDP-Chef Lindner die Gespräche platzen ließ. „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“, hat er zum Abschied gesagt und mancher, der das jetzt liest, fühlt sich an Lindners Verhalten in der Ampel-Regierung erinnert. Übrigens wusste Kohl sehr früh von diesen sogenannten Geheimtreffen der „Küken“, wie er sie spöttisch nannte.
Auch Angela Merkel, die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin, war zu Gast im Sassella mit ihrer Büroleiterin Baumann. Ja, wer war eigentlich nie im Sassella? Richard von Weizsäcker war hier ebenso wie einer seiner Nachfolger Horst Köhler, Johannes Rau, Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Manfred Wörner, Renate Künast, Norbert Blüm, Henry Kissinger, Spitzen-Sportler wie die Tennis-Spielerin Martina Navratilova, Berti Vogt, der Fußball-Terrier von Borussia Mönchengladbach, Rudi Altig, der Rad-Weltmeister, Ulrike Meyfarth, die zweifache Olympia-Siegerin Im Hochsprung, der Box-Champion Henry Maske, der Kölner Nationalspieler Bernd Cullmann, Bill Gates, der Microsoft-Gründer, der sich im „Sassella“ eines Abend unauffällig an einen freien Tisch gesetzt hatte, ehe Giorgio seinen berühmten Gast entdeckte. Horst Tappert, Fernseh-Star, bekannt als Derrick, trug sich 1989 ins Gästebuch des Hauses ein. Einer wie Uli Wickert war hier auch schon mal zu Gast wie auch Juliane Weber, die Büro-Chefin und Vertraute des Kanzlers Kohl, Maybritt Illner, Tim Höttges, Telekom-Chef und und und. Es ist ein Who is Who der Gesellschaft und der Politik.
Dabei war das „Sassella“ nicht mondän, eher rustikal, gemütlich, anders das das „Borchardts“ in Berlin, wo man hingeht, um gesehen zu werden. Im „Sassella“ hielt man den Ball flach, die Speisen waren lecker, die Weine süffig, es war nicht billig, das Lokal, aber auch nicht überteuert wenn man mit Pasta auskam und einem Glas Weisswein. Norbert Blüm hat in einem Grußwort aus Anlass des 35jährigen Jubiläums des Hauses geschrieben: „Sassella ist nicht nur der Name eines italienischen Ristorante in Bonn, sondern auch die „Verkörperung eines Lebensgefühlts, indem sich italienische und rheinische Liberalität vereinen. Die Biografie des Sassella“, so der langjährige Bundesarbeitsminister im Kabinett von Helmut Kohl, „liest sich wie das Märchen vom Aufstieg zweier italienischer Buben, die mit Nichts begannen.“ Die beiden Brüder Giorgio und Francesco aus dem kleinen Örtchen Berbenno in der Lombardei. Giorgio startete im edlen Hamburger „Atlantic“, feiner gehts kaum- als Kellner. Ein Jahr später zog es ihn nach Bonn, ins Rheinhotel Dreesen“, später ins „Bristol“, das inzwischen abgerissen worden ist, dann in das traditionsreiche Restaurant „Zur Lese“ direkt über dem Rhein gelegen. Der jüngere Bruder Francesco hatte Koch gelernt, Giorgio war der Hotelfachmann. Die Brüder übernahmen in Bonn das „Amigo“, zu Bonner Regierungszeiten eine gute Adresse auch für die politische Prominenz wie die Spesenritter, unweit des alten Gebändes mit dem „Gasthaus zur Rosenburg“ und dem beliebten Spanier „Rincon de Espana.“ Und die Rosenburg wie der Spanier wurden frei, die Brüder griffen zu, bauten um und machten aus der Rosenburg das „Sassella“, der Name eines Weinbergs in ihrer Heimat.
Und dieses Sassella wurde ein Volltreffer, es wurde zu einem „Symbol der Bonner Republik“, wie Norbert Blüm, der Bonner aus Rheinhessen, geschrieben hat, weltoffen, heimatlich, ernst und heiter, bunt und nicht langweilig, menschlich und näher am Leben als die große Metropole. Blüm war für Bonn, hat in der Hauptstadt-Debatte mit großer Leidenschaft für Bonn plädiert, nicht weil das kleine Städtchen Metropole hätte werden wollen oder sollen, das wäre daneben gewesen, sondern weil er es als eine der „vielen Perlen“ gewürdigt hat, „die Deutschlands urbanen Reichtum ausmachen.“
Giorgio und Francesco wollen das „Sassella“ nur noch für größere Familienfeiern und ähnliche Events öffnen, sie bleiben aber in der Region und produzieren weiter ihre berühmten Nudeln, die sie in alle Welt liefern. Dem abendlichen Gast, der früher mal eben auf eine Pasta und einen Wein vorbeischaute und die Atmosphäre des Gartens hinter dem Lokal genoss, bleibt die Erinnerung. Es war einmal. Schade.