Ein Bürgerkrieg in NI ist auf der Basis neuster Daten sehr unwahrscheinlich
Es besteht ein großer Widerspruch zwischen der enormen politischen Bedeutung eines prognostizierten Gewaltausbruchs bis hin zu einem Bürgerkriegs-Scenarios bei einer „harten“ Grenze einerseits und einer mangelnden auf Fakten basierenden Überprüfung dieser Prognose andererseits. Dennoch: Ein Anstieg von Gewalt ist nicht auszuschließen. Und die wirklichen Herausforderungen für NI sind Arbeitslosigkeit, große wirtschaftliche und soziale Probleme nicht nur im Grenzgebiet. Kein Teil des UK wird so stark an einem Brexit leiden wie NI.
Es stellen sich hier wichtige Fragen: Worauf beruht das Insistieren der EU beim Austrittsabkommen auf einem Backstop? Inwieweit liegen dem Verhandlungsteam von Barnier Informationen vor, die Prognose für einen großen Gewaltausbruch unterstützen? Welche Information haben die Irischen Geheimdienste in Dublin? Ist die Triebkraft der EU nicht vielmehr hohe Kosten einer harten Grenze für die Republik Irland zu vermeiden? Warum unterstützt die Regierung in London das Narrative der EU zur Bürgerkriegsgefahr, obwohl die offiziellen Zahlen zur Sicherheitslage in NI der Nordirischen Polizei das Gegenteil zeigen? Ist es vielleicht so, dass auch die Regierung in London eine offene Grenze in Irland wünscht, um die enormen ökonomischen und sozialen Kosten für die britische Regierung eines Brexits für NI bei einer harten Grenze abzuwenden?
Ist Deutschland mehr bürgerkriegsgefährdet als NI?
Man schätzt die Zahl gewaltbereiter republikanischer Milizen auf 60-75, vielleicht maximal 100 Personen. Dies bei ca. 2 Millionen Einwohner in NI. Wie steht Deutschland da (BfV 2017)? 23.000 gewaltbereite Islamisten sowie Rechts- und Linksradikale bei ca. 82 Millionen. Hiermit wäre Deutschland viel bürgerkriegsgefährdeter als NI. Pro 1 Million Einwohner hätte Deutschland 280 Gewaltbereite und NI maximal 50 Gewaltbereite.
Die „New IRA“ ist momentan die einzig relevante republikanische paramilitärische Organisation. Man schätzt die Zahl ihrer gewaltbereiten Mitglieder auf ca. 70. Wenn man versprengte Mitglieder anderer Organisationen hinzuzählt, gibt es momentan weniger als 100 Gewaltbereite in NI. Die logistische Basis an Waffen und Sprengstoff ist vorhanden, aber im Vergleich zu Zeiten der Provisional IRA (1968-1988) erheblich schwächer (weniger als 10%). Die operativen Fähigkeiten werden durch die organisatorische Zersplitterung des „Radical republicanism“ in zahlreiche kleine politische und paramilitärische Splitterorganisationen erheblich eingeschränkt.
Dramatisierung der Brexit Konsequenzen führt möglicherweise zum harten Brexit
Der Ausbruch gewalttätiger Auseinandersetzung, wenn nicht sogar von einem „Bürgerkrieg“ in Nord- Irland (NI), ist eine ausgemachte Tatsache in der Bewertung der aktuellen Brexit Verhandlungen als Konsequenz einer harten inner-irischen Grenze. Die EU und die britische Regierung haben diesem Szenario in den Austrittsverhandlungen Rechnung getragen, indem sie mit dem s.g. „Backstop“ Vorkehrungen getroffen haben, eine harte Binnengrenze in Irland zu verhindern. Genau dieser Teil der Vereinbarungen erzeugt für die Annahme der ausgehandelten Vereinbarung zwischen Theresa May und der EU ein schier unüberwindliches Problem im britischen Unterhaus; und erhöht damit erheblich die Gefahr eines ungeregelten und harten Brexit.
Abnehmende Gewaltanwendung in der Post-Brexit Phase (2017- 2018)
Die aktuellen Zahlen der Nordirischen Polizei um den Post-Brexit-Zeitraum bis Ende 2018 zeigen ein eher geringes Gewaltniveau mit abnehmender Tendenz. Dies ist der Zeitraum, wo auch intensiv über die Konsequenzen eines harten Brexit für NI diskutiert wurde. Vergleicht man 2017 mit 2018, so bleibt die Gesamtzahl der Tötungsdelikte (2) auf niedrigem Niveau konstant. Bei Bombenangriffen und Schusswaffenangriffen reduziert sich das geringe Niveau von Gewaltanwendung gegenüber den Sicherheitskräften nochmals um mehr als ein Drittel. Marisa MCGlinchey, die im Februar 2019, die aktuellste und eine der umfangreichsten Arbeiten vorgelegt hat, ist zuzustimmen, wenn sie sagt (2019, p.6), “the armed campaign of radical republicans is sporadic and minimal at present”.
Gewaltanwendung: Kein dramatischer Unterschied zwischen Nordirland und Deutschland
Ein Vergleich mit Deutschland 2017/18 ist auch sinnvoll. Nimmt man die Zahlen des Police Service of Northern Ireland (PSNI) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) für 2017, so entfallen unter Berücksichtigung aller extremistischer Gewalttaten pro 1 Million Einwohner ca. 33 Gewalttaten in Deutschland an und ca. 90 in NI. Für Deutschland sind hier nur rechts- und linksradikale Straftaten enthalten. Die tatsächlichen Zahlen dürften höher liegen, da für Muslimische Gewalttäter sich im Bericht des BfV keine Zahlen finden. Für den Ländervergleich ist des Weiteren für NI zweierlei zu berücksichtigen: Erstens, in 2018 hat sich die Zahl Gewalttaten auf 60 reduziert. Und zweitens und noch wichtiger, von den 180 Straftaten in 2017 wurden 100 gegenüber und in der eigenen Community ausgeübt und nicht direkt gegenüber der staatlichen Gewalt. Unter Berücksichtigung dieses Effekts kommt NI auf ca. 40 Gewalttaten pro 1 Million Einwohner durch Extremisten in 2017 und auf unter 30 in 2018. Resultat: Deutsche Extremismus ist genauso gewalttätig wie der Nordirische. Hat Deutschland zu Beginn des Jahres 2019 ein Bürgerkriegsrisiko? Ein Vergleich zur Sicherheitslage in Frankreich würde sicherlich noch dramatischer ausfallen.
Wo ist die Evidenz für den Bürgerkriegsthese? Gute und relevante Daten aus verschiedenen Quellen müssen her
Es ist zuerst einmal zu fragen: Wo ist die Evidenz für die schwergewichtige Annahme, dass in NI wieder ein Bürgerkrieg ausbricht wie zwischen 1968 und 1998 mit mehr als 3500 Toten? Damals gab es pro Jahr ca. 120 Tote; jetzt pro Jahr 2 (!). Hier soll mit Hilfe von aktuellem Zahlenmaterial der Nordirischen Polizei (PSNI) zur Sicherheitslage und neuster empirischer Bevölkerungsumfragen in NI sowie qualitativer Untersuchungen bei Anhängern radikaler Gruppen eine faktenbasierte Prüfung der „Bürgerkriegsthese“ nach einem harten Brexit vorgenommen werden. Ein Methodenmix wird vorgenommen, um sich dem komplexen und wichtigen Thema anzunähern.
Dennoch: Begrenzter Anstieg von Gewalt ist nicht auszuschließen
Die Sicherheitslage (terrorism threat level for Northern Ireland) wird seit 2010 durch den britischen Inlandsgeheimdienst (MI5) als „severe“ eingeschätzt. Bemerkenswert jedoch: Trotz eines drohenden (harten) Brexit ist das Niveau der Bedrohungslage nicht erhöht worden. Fachleute sind sich einig: ein harter Brexit erhöht das Sicherheitsrisiko für die Polizei in NI. Der Polizeichef in NI sorgt sich dann verstärkt um die Sicherheit seiner Beamten: „A hard border, one assumes, would bring with it physical infrastructure that would become a target. …. Anything that presented physical infrastructure would, in our assessment, become a target for violent dissident republicans.“ Aber, die nordirische und irische Polizei sowie den britischen Inlandsgeheimdienst (MI5) sind sich sicher, dass sie das Gewaltpotential möglicher republikanischer Terroristen in NI kontrollieren können
Geringerer Einfluss von potentiellen Gewalttätern in ihrem Milieu
Neuste Bevölkerungsumfrage von Februar 2018 zeigen, dass der Einfluss dieser Gruppen bei ca. 5-6% der Bevölkerung wahrgenommen wird. Hierbei handelt es sich vor allem um illegale Aktivitäten (z. B. Drogenhandel) in diesen Quartieren. Man lebt in friedlicher Ko-Existenz und möchte diesen Frieden erhalten haben. Dennoch der Einfluss dieser Gruppen ist da; sie verbreiten bei jedem Zehnten Angst und Schrecken und haben weiterhin auch einen Einfluss auf junge Menschen. Auch die Gewaltanwendung paramilitärischer Organisationen gegenüber ihren eigenen Bevölkerungsgruppen ist erheblich zurückgegangen. Ein klarer Indikator von Kontrollverlust im eigenen Milieu.
Weniger als jeder Zehnte Nordire sieht ein schlechtes Verhältnis Katholiken und Protestanten; nur jeder Zwanzigste ist pessimistisch für die Zukunft
Besorgte Stimmen sehen einen wichtigen Nährboden gewalttätiger Auseinandersetzung in dem Weiterbestehen eines Spannungsverhältnisses zwischen katholischer Minderheit und protestantischer Mehrheit in NI. So zum Beispiel in der Reportage „DIE ZEIT“ von Januar 2019. Die aktuellen Umfragen widerlegen diese Sorge. Die Zuversicht beruht auch auf den verbesserten Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen in NI seit dem „Good Friday Agreement“ von 1998. In 2018 sah die Hälfte der Befragten in NI eine Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Gruppen und nur 8% eine Verschlechterung in den letzten 5 Jahren. 40% aller Nordiren sehen für die nächsten 5 Jahre eine weitere Verbesserung und nur jeder Zwanzigste ist hier pessimistisch.
Die Zukunft: Mehr gemischte Nachbarschaft und mehr gemischte Heiraten
Für das Verhältnis beider Bevölkerungsgruppen ist auch das persönliche Umfeld wichtig. 80% der Nordiren würden am liebsten in einer gemischten Nachbarschaft leben. Nur 1 von 5 Befragten möchte in einer homogenen Nachbarschaft leben.
Die Familie ist der wichtigste persönliche Sozialraum. 83% der Nordiren sagen, sie hätten keine Probleme mit einer Heirat innerhalb der Familie über die Religionsgrenze hinweg.
Ein gutes Beispiel für positive Aktivtäten zum Beispiel in Christmon Januar 2019 über Enniskillen, wo Protestanten und Katholiken gemeinsam der Weltkriegsopfer gedachten.
Von friedlichem Nebeneinander zu mehr Miteinander?
Die Beziehungen in Nordirland beider Bevölkerungsgruppen bewegen sich von einem friedlichen Nebeneinander, einer friedlichen Ko-Existenz, hin zu verstärkten interkulturellen Beziehungen oder zu mindestens hin zu einem verstärkten Wunsch nach interkulturellen Beziehungen. Hierbei ist natürlich zu beachten, dass es in einigen Hotspots in NI weiterhin eine große Bitterkeit und Feindseligkeit gegenüber dem NI Staat und gegenüber der anderen Bevölkerungsgruppe gibt. Aber diese Gruppe ist weitgehend isoliert.
Trotz Brexit: Politische Stabilität durch die Integration der Vertretung der Katholiken (Sinn Fein) in die Nordirische Regierung
Ein zentraler Faktor der politischen Stabilität in Ni ist die starke politische Unterstützung eines friedlichen Status Quo durch die bei weitem wichtigste politische Vertretung der Katholiken (Sinn Fein). Eine radikale republikanische Strategie hat erheblich an Einfluss verloren. Es dominiert eine reformistische politische Strategie bei Katholiken und pan-irischen Republikanern, die auf die Nutzung konstitutioneller Mittel (Wahlen) und einer gemeinsamen Regierung mit den Protestanten setzt, um mit diesen Mittel langfristig das strategische Ziel, die Einheit Irlands, zu erreichen.
Neue politische Parteien, die der „Neuen IRA“ nahestehen haben sehr wenig Verankerung im republikanischen Milieu.
Mythos Unterstützung durch Berichterstattung mit fatalen Folgen?
Die dramatisierende und skandalisierende Berichterstattung selbst in Qualitätsmedien wie „DIE ZEIT“, „DER SPIEGEL“ und WDR5 hat sicherlich diesen Mythos genährt. Ein Zugang wie bei „DIE ZEIT“ (s.o.) im Januar 2019, wo der Reporter von der Annahme startet, man könnte den republikanisch-katholischen Teil NI nur verstehen, wenn man die Falls Road und die Bogside besucht, nimmt nur einen ganz begrenzten kulturellen, historischen und politischen Kontext sowie nur eine ganz geringe Bevölkerungsgruppe in den Focus. Dramatik scheint sich besser zu verkaufen als langweiliger Alltag des Zusammenlebens in NI. Wenn die möglichen Folgen nicht so fatal sein würden, dann könnte man ein solches Vorgehen ja als Verkaufsfördernd übersehen.
Schwerwiegende ökonomische und soziale Folgen für NI bei harter Grenze
Schätzungen gehen von einer Reduktion des GDP in NI von 3 oder sogar von 5% aus. Der Handel zwischen beiden Teilen Irlands wird erheblich erschwert. NI exportiert 60% aller landwirtschaftlichen Produkte in die Republik. Monatlich passieren über 400.000 LKW und Lieferwagen die Grenze. Zusätzlich wird NI bei einem Brexit EU Mittel in der Höhe von ca. 8,5% seines GDP verlieren. Es ist vorhersehbar, dass dies alles zu erhöhter Arbeitslosigkeit und verstärkter Armut in NI führen wird. Inwieweit diese Entwicklung langfristig zu einer Radikalisierung deprivierter katholischer und protestantischer Bürger in NI führen könnte, ist abzuwarten. Eins ist jedoch sicher, eine harte Grenze wird für den britischen Staat eine teure Angelegenheit.
Kontakt
Grundlage ist ein gemischt Deutsch-Englischer Text (aufgrund der vielen Englischen Quellen). Länge des gesamten Beitrags ca. 28 Seiten. Eine zweite Zusammenfassung für die Auswirkungen eines Brexit auf NI liegt auch vor. Beide Texte können angefordert werden unter folgender email: kriegerhm@gmail.com
Bildquelle: By Sinn Féin – IMG_8083, CC BY 2.0