Insolvenz - Symbolbild

Die Corona-Krise wird die Armen ärmer machen. Plädoyer für ein humanes Insolvenzrecht

Die Corona-Krise wird für nahezu alle eine harte Probe, aber für viele eine Existenzfrage. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden in jedem Fall viele Jobs kosten und Millionen Haushalte und Verbraucher werden in finanzielle Not geraten. Deutschland ist in der EU oft zu schwach, um eine Führungsrolle in den wichtigen Fragen zu übernehmen, aber immerhin stark genug, um in etlichen Bereichen als „Bremser“ zu fungieren, oft unerbittlich oder gar fundamentalistisch. Das gilt nicht nur in Bezug auf die europäische Solidarität, die finanziellen Folgen von Krisen zu schultern, angefangen von der Finanzkrise über Euro-/Schuldenkrise bis hin zu Corona. Die Devise Deutschlands (spätestens) seit der Ära Merkel heißt ganz klar: Beim Geld hört die Solidarität auf.  Das richtet sich nicht nur gegen die EU-Partner wie Griechenland, Spanien oder Italien, sondern oft auch nach Innen. Auch deutlich abzulesen beim Insolvenzrecht.

Bis 1999 galten in Deutschland im Wesentlichen die Grundsätze des preußischen Konkursrechts von 1877, u.a. novelliert 1935 (!). Forderungen der Gläubiger erloschen demnach frühestens nach 30 Jahren. Auch mit der Einführung der deutlich Verbraucherinsolvenz im Jahr 1999 steht im deutschen Insolvenzrecht die weitestgehende und langfristige Befriedigung der Gläubiger im Vordergrund. Jenseits des Existenzminimums stehen in Deutschland z.B. den Gläubigern alle Vermögenszuflüsse und Einkommen der Schuldner formal für eine Dauer von 6 Jahren zur Verfügung.

Nur in ca. 5% der Fälle kann diese Phase auf 3 Jahre verkürzt werden, wenn 35% der Schulden zzgl. der Verfahrenskosten getilgt wurden. Im Regelfall bedeutet jedoch die Privatinsolvenz den Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft für über 10 Jahre, da neben dem Vorlauf einer Insolvenz und dem eigentlichen Insolvenzverfahren und der sg. „Wohlverhaltensphase“ noch die Dokumentation und Beeinflussung des wirtschaftlichen Scorings von Schuldner greift. Nach einer Insolvenz dürfen für 3 Jahre (oft unkontrolliert auch deutlich länger) Informationen über Insolvenzen gespeichert werden. Die Konsequenzen sind dramatisch. Ohne den „richtigen“ Bonitätsscore ist es nahezu unmöglich eine Wohnung zu finden, Verträge für Telekommunikation, Kabelfernsehen, günstige Verträge für Strom, Gas und Heizung abzuschließen sowie generell Kreditverträge oder Teilzahlungskäufe zu tätigen.  Dem Schuldner bleibt eigentlich nur das Leben im teuren wie hoffnungslosen im Prepaid-Prekariat. Auch wenn in Deutschland mit der Konkursordnung 1877  die Schuldnerhaft abgeschafft wurde, errichtet  das deutsche Insolvenzrecht für in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Verbraucher einen nahezu ewigen sozialen und wirtschaftlichen Schuldturm, aus der er sich in überschaubarer  Zeit nicht aus eigener Kraft befreien kann.

Insolvenz hat sogar weitergreifende Konsequenzen. Wohnt man/frau z.B. in einem Haus oder in einer unmittelbaren Wohnumgebung, in denen es gehäuft Zahlungsprobleme oder Insolvenzen anderer Mitbewohner/Nachbarn gegeben hat, wird man kaum mit Luxusgütern (wie z.B. einem Anzug eines „traditionellem“ deutschen Unternehmens, dass auch schon die SS chic eingekleidet hat) beliefert, da das wirtschaftliche Scoringsystem von „Luxus-Lieferanten“ auch schon mal eine nachbarschaftsbezogene Bonitätsprüfung (hier konkret wegen eines angeblich erhöhten Betrugsrisikos) durchführt. Auch eine besondere Art der sozialen Kontrolle.

Das hierzulande – zu Recht – in der Kritik stehende „Sozialkredit-System (SKS)“ in China ist dagegen im Vergleich zu Schufa & Co schon fast deutlich offener.  Das Ziel besteht dort ja darin, die Gesellschaft durch eine umfassende Überwachung zu mehr „Aufrichtigkeit“ im sozialen Verhalten zu erziehen. Unser wirtschaftliches Scoring-System will dagegen abschrecken und den Schuldner bestrafen. Und das nahezu lebenslänglich, denn wer 10 Jahre quasi öffentlich gebrandmarkt ist, der verliert Mut und Kraft danach noch einmal neu zu beginnen. Das zeigt die unsere Sozialstaats-Statistik deutlich. Wer einmal wirtschaftlich „aus der Bahn“ gerät, verbleibt in den Niederungen unserer sozialen Sicherungssysteme. Insolvenz ist ein schwer zu tilgender Makel in Deutschland.  

Das Ergebnis von Insolvenzverfahren ist dabei wirtschaftlich erbärmlich. Weniger als 5% der Forderungen können im Rahmen von Insolvenzverfahren insgesamt gesichert werden. Bei Verbraucherinsolvenzen beträgt die aktuelle Quote sogar nur ca. 1,5%. Anders gewendet: 98,5 der Forderungen bleiben auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens unbefriedigt. Die Gläubiger gehen also in der Regel leer aus. Der Schuldner aber büßt dafür knapp 10 Jahre und fällt – ob er will oder nicht – in der Regel dem Sozialstaat unfreiwillig und nahezu perspektivlos zur Last.

Andere Länder gehen mit ihren in Not geratenen Bürgern deutlich humaner um. Frankreich und Spanien wickeln Insolvenzverfahren in 2-3 Jahren ab. Vor dem Brexit war das Vereinigte Königreich mit ca. 12 Monaten vorbildlich, mal vom „Schuldnerparadies“ Irland ganz abgesehen, wo eine Insolvenz schon in 6 Monaten abgewickelt werden kann. Auch dort sind Insolvenzen tiefgreifende Vorgänge für die Betroffenen, aber es gibt in absehbarer Zeit ein Leben nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Allerdings attraktiv genug, um für einige wenige, die es sich leisten konnte, die Segnungen der EU in Form einer Wohnsitzverlagerung (auch Insolvenztourismus genannt) in Anspruch nehmen konnte. Nach kurzer Zeit konnte man schuldenfrei wieder heim ins „Gläubigerparadies zurückkehren“.

Es ist eine deutsche Tradition alle Dinge des Lebens möglichst zu verrechtlichen. Das deutsche Insolvenzrecht ist daher für die hiesigen Rechtsanwälte ein einträgliches Geschäft. Zumindest bei Firmenpleiten ist das Insolvenzrecht eine Goldgrube. So manche Insolvenz bescherte dem Verwalter Millioneneinkünfte, ohne dass die Gläubiger einen Cent sahen. Vor allem wenn letztere aus Verbrauchern bestanden. Aber auch Kleinvieh „macht Mist“, denn auch an Verbraucherinsolvenzen lässt sich etwas verdienen.  Ganz zu schweigen von den einträglichen Geschäften der höchst profitablen Inkasso-Industrie. Ohne einen – auch nur halbwegs rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden – wirksamen Verbraucherschutz sind Schuldner diesen Unternehmen völlig ausgeliefert. Kleine Schulden wachsen schnell ins Unermessliche. Eine Verzwanzigfachung der Schulden durch aus den Fugen geratene Inkassoverfahren sind keine Seltenheit.  Mit Inkasso und dem ausuferten Handel mit Bonitätsdaten über Verbraucher wird mehr Umsatz erzielt als z.B. die systemrelevante Wasserwirtschaft in Deutschland erwirtschaftet. Inkasso ist eine unerschöpfliche Goldmine weil „Inkassowirtschaft nur funktioniert, weil sie ständig neue Kosten erzeugt“ und es kaum gesetzliche Regelungen gibt, die den Verbraucher schützen.

Der Widerstand gegen eine humanere Gestaltung des Insolvenzrechts ist daher – nicht ganz unerwartet – massiv. Dabei hat sich die EU schon vor über 10 Jahren erkannt, dass die Überschuldung von Verbrauchern wirtschaftlich und sozial äußerst bedenklich ist und sich mit einer Angleichung der nationalen Regelungen beschäftigt. Allerdings hat es bis 2019 gedauert, ehe (man genieße den handlichen Titel) mit der „RICHTLINIE (EU) 2019/1023 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 20. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz)“ einen neuen Rahmen gesetzt hat.

Privatpersonen sollen dank dieser EU-Reform bald schneller schuldenfreisein. Wer zahlungsunfähig wird, soll künftig die Schulden innerhalb von drei Jahren loswerden.  Nicht allerdings in Deutschland. Bzw. wird es hier dauern, denn die Richtlinie lässt bis 2022 Spielraum zur Umsetzung. Und das (sozialdemokratisch geführte) Justizministerium sieht in einem Referentenentwurf einen schrittweisen Übergang der „Laufzeiten“ vor. Der von der EU-Richtlinie geforderte 3-Jahreszeitraum wird daher nach dem aktuellen Stand erst 2030 erreicht werden. Zusätzlich wird aber auch eine Verschärfung diskutiert, dass eine zweite Insolvenz für einen Zeitraum von 13 Jahren ausschließt. Auch das fundamentalistische „Neuland“ im Vergleich zu anderen EU-Staaten.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann titelte vor Ostern in der Tagesschau „Die Meisten werden ärmer sein„. Er ist zwar bekennender Katholik, aber doch eher geprägt von protestantischer Ethik und meinte damit sicher nicht die Mitmenschen, die ohnehin schon ein hohes Armutsrisiko ragen. Dabei wäre gerade da rasches Handeln enorm wichtig. In Deutschland sind über 5 Millionen Haushalte überschuldet. Und über 700.000 Menschen befinden sich aktuell in einem Insolvenzverfahren. Allein im Jahr 2019 waren es fast 90.000, die keinen anderen Ausweg aus ihrer ökonomischen Zwangslage fanden. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise Ware es mit über 135.000 Bundesbürgern noch einmal deutlich mehr. Das lässt sich aus den wirtschaftlichen Krisen der letzten 20 Jahre klar ablesen. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, die Schuldzinsen (z.B. wegen schlechter Bonität) wachsen und das Wirtschaftswachstum lahmt, dann gehen die Zahlen bei Verbraucherinsolvenzen und die Verschuldungsrate der privaten Haushalte rasant in die Höhe.

Wir können im Moment die Auswirkungen der Corona-Krise noch nicht absehen, aber es ist klar, dass die Zahl der Insolvenzen bei Unternehmen und Verbrauchern auf ein neues trauriges Rekordniveau schnellen wird. Ein humanes Insolvenzrecht könnte hier eine wirksame Hilfe sein und zudem den Sozialstaat enorm entlasten.

Das Grundgesetz postuliert „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Verfassungsrealität hat diesen Grundsatz noch etwas präzisiert „solange man genug Geld hat“. Im Hinblick auf die durch die Corona-Krise sich verschärfende sozioökonomische Ungleichheit und die absehbar explodierenden Verschuldungsprobleme und Privatinsolvenzen in der Bevölkerung könnte der Bundestag das sehr rasch ändern.

Bildquelle: Pixabay, Bild von Gerd Altmann(geralt), Pixabay License

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Der Sozialwissenschaftler und Geschäftsführer einer Medienagentur ist langjähriger Experte im Wasserbereich und führt regelmäßig Verbrauchertests mit Trinkwässern durch. Als Herausgeber des Blogs der Republik schreibt Pöhls regelmäßig auch zu anderen Themen.


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