Bücher ordnen entdecke ich einen Band von Hartmut Lange, den ich bis dahin gänzlich übersehen hatte: Irrtum als Erkenntnis. Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller. Er geht der Frage nach, wie man zum Schreiben kommt. Da heißt es:
Das Kind hat noch keine oder nur eine sehr geringe Fähigkeit zur Erkenntnis. Seine Realitätserfahrung wird gespeist aus der einfachen Anschauung; wo es diese übersteigt, beginnt die naive Vorstellungswelt. Und hier, würde ich sagen, und nirgends sonst beginnt auch die Realitäserfahrung des Schriftstellers.
Er plädiert dafür, diese naive Vorstellungswelt ernst zu nehmen, da sie im Entdecken der tatsächlichen Welt nicht verschwindet, sondern auf eine qualitativ höhere Stufe gehoben wird. Vielleicht kann man sagen, dass die Phantasiewelt des Kindes mit der Zeit durch Realitätserfahrungen ergänzt, verdrängt oder kontrastiert wird. Nach Lange folgen die meisten früher oder später dem Realitätsprinzip; d.h.: sie passen sich den Normalitätserfordernissen mit seinen Routinen und Gewohnheiten an, so dass mit der Zeit der utopische Gehalt der Kindheitsphantasien eingeebnet wird.
Im Fall des Schriftstellers wird der Kontrast zwischen der Vorstellungswelt, also den Sehnsüchten, Träumen, Wünschen nicht nur erhalten; er wächst sich vielmehr mit zunehmender Lebenserfahrung zum tief verankerten Bedürfnis aus, diesem Aspekt seiner Existenz Ausdruck zu verleihen. Dieses Bedürfnis kann so stark werden, dass er dem irgendwann nachgeben muss, allen vernünftigen Erwägungen oder Realitätsanforderungen zum Trotz.
Lange sieht im Schriftsteller eine Art Triebtäter: der Drang zum Schreiben wird irgendwann so elementar, dass jeder andere Ehrgeiz keine Rolle spielt. Um dem Ausdruck zu verleihen, muss er sich entsprechende Bedingungen verschaffen; d.h.: er braucht Raum und Zeit zum Schreiben: Er muss sich in gewisser Weise von der Alltagswelt abschotten, um sich ganz auf sich und sein Schreiben konzentrieren zu können. Das ist es, was Lange als Autonomieerfahrung definiert. Er schreibt:
Überhaupt scheint mir wichtig, dass die Autonomieerfahrung nicht als Mangel definiert werden darf und dass seine Weltabgelöstheit, auch nachdem er die tatsächliche Welt entdeckt hat, bestehen bleibt. Der Schriftsteller aber wird seine Autonomieerfahrung nie wirklich los. Dies unterscheidet ihn zum Beispiel vom Wissenschaftler. Dem Wissenschaftler ist die Vorstellungswelt null und nichtig. Sein Erkenntnisbegehren gilt der tatsächlichen Welt. Der Schriftsteller erfasst die tatsächliche Welt nur über den Umweg einer hinzugedichteten Metamorphose. Es ist immer das Erfundene, Ausgedachte, die poetische Metapher, genauer, das Brennglas des Subjektiven, das das Objektive mit aufscheinen lässt.
Dieses existentielle Bedürfnis zu schreiben ist es, was den Schriftsteller ausmacht; allen Widerständen und Schwierigkeiten zum Trotz. Sie kann sich zur Besessenheit steigern und pathologische Züge annehmen. Das bedeutet: das Motiv seines Schreibens muss in seinem Inneren entstehen; äußere Anreize sind dagegen sekundär und können bestenfalls verstärkend wirken. Dazu Lange:
Meine Autonomie ist meine Selbstbezogenheit, das heißt, ich schreibe nicht, um anderen zu gefallen oder berühmt zu werden oder Geld zu verdienen. Natürlich möchte man anerkannt werden, aber für mich sind die Gelegenheiten zum gesellschaftlichen Erfolg kein Kriterium.
Langes Ausführungen lesen sich zum Teil wie ein Kommentar zu meinem Roman Das Haus des Dichters. In ihm schildere ich den Werdegang eines Schriftstellers als einen immanenten, notwendigen Prozess, der ab einem bestimmten Zeitpunkt keine anderen Alternativen mehr zulässt.
Mein namenloser Dichter löst sich, nachdem er seine Arbeit und damit seine bisherige Existenzgrundlage verloren hat, von der tatsächlichen Welt ab und versucht, in der neu gewonnenen Zeit vieles von dem nachzuholen, was er bisher versäumt hat. Er ist bemüht, sich auf diese Weise eine neue Realitätserfahrung zu verschaffen. Zunächst widmet er sich den Dingen seiner unmittelbaren Umgebung. Er wandert umher; entdeckt die Natur; sinnt über sein Leben nach und schult seine Wahrnehmung. Nach einiger Zeit beginnt er, alles, was er beobachtet und ihm auffällt, zu notieren. Er reichert die tatsächliche Welt, die sich ihm mitteilt, um poetische Metaphern und all das an, was sich in seiner Phantasie abspielt. Zum Beispiel fragt er sich, ob die Dinge, die er wahrnimmt, auch ihn wahrnehmen, ob sie mit ihm kommunizieren usw. Durch dieses Brennglas des Subjektiven erweitert er seine Außenwelt. Das mag dem Außenstehenden verschroben, unnormal oder gar wahnhaft vorkommen; aber es ist seine Art, sich die Welt neu anzueignen. Dadurch versucht er, den Zustand der Unbehaustheit, seinem drohenden Untergang, der ihm im Schicksal eines Bekannten eindringlich vor Augen steht, zu entgehen und seinem Dasein Sinn zu verleihen. Es ist ein Rettungsversuch, dem er sich bedingungslos ausliefert; auch mangels anderer Alternativen.
Der nächste Schritt ist, die Welt der unmittelbaren Wahrnehmungen ins Begriffliche zu transformieren. Ihn beschäftigt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Wahrgenommenen und später dann das Problem, wie man eine Sprache dafür finden könnte. Dieser langwierige, sich über viele Zwischenstufen vollziehende Prozess geht einher mit einer anderen Entwicklung: der Entdeckung des Selbst.
Zu diesem Aspekt des Schriftstellerdaseins schreibt Lange: Die Entdeckung des Selbst ist ohne Schmerzen nicht zu haben. Hier bricht jene Gewissheit zusammen, die wir aus der Simulation des Begrifflichen gewinnen, und nun wird das Subjekt plötzlich auf sich selbst verwiesen.
Es ist die intensive Suche nach sich selbst, nach dem eigenen Weg, der den Schriftsteller nicht mehr los lässt. Darin besteht seine Obsession, seine Besessenheit. An einer Stelle meines Romans erkennt der Dichter, dass er eigentlich immer nur auf der Suche gewesen ist; sein Leben lang. Ob er darüber sein eigentliches Leben verfehlt hat? Das ist eine müßige Frage insofern, als man zurückfragen könnte: welches Leben? Das des Normalbürgers? Das war ihm ja gerade versperrt. Und ab einem bestimmten Punkt der Entwicklung ist ihm eine Rückkehr ins normale Leben auch nicht mehr möglich oder wünschenswert. Die Suche nach einem ihm gemäßen Leben, nach seinem Lebenssinn – dass ist es, was ihn antreibt, dessen er sich mit aller Kraft und Wahrhaftigkeit widmet: es ist die Welt der Literatur bzw. später das eigene Schreiben, das ihn völlig absorbiert. Ob er dabei erfolgreich ist oder nicht, bleibt der Sache äußerlich. Der Weg ist das Ziel.
Bei Lange heißt es: Nun kommt natürlich nicht jeder in die Verlegenheit, sich selbst in einer derart radikalen Autonomie zu entdecken. Das durchschnittliche Verhalten des Menschen ist durch die vorgegebenen gesellschaftlichen Normen bestimmt. Das Miteinander verdeckt den Blick auf die Tatsache, dass wir immer nur einzelne sind, deren Sein wesentlich „Sein zum Tode ist“ (Heidegger). Hierauf genau bezieht sich auch das Pascalsche Erschrecken. Plötzlich werden einem die Dinge und Wahrheiten, von denen man bisher umgetrieben wurde, schal, und man begreift, dass man darin verwickelt ist, aber existentiell nichts mit ihnen zu tun hat.
Lange schildert eindrucksvoll, wie das Pascalsche Erschrecken, als die Feststellung, letztlich allein und nur eine kurze Episode in einem unfassbaren Universum zu verbringen, ihn erfasst hat:
Die eingeübten Gewohnheiten, die Ereignisse der tatsächlichen Welt, begannen mich zu langweilen. Ich suchte nach Landschaften, in denen das Subjekt vor allem mit sich selbst verwickelt war. Ich notierte Sätze, über die ich früher gelächelt hätte. Hier ein Beispiel: Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit einem Bekannten über das Phänomen der existentiellen Angst. Wir waren uns einig darüber, dass das Ungesicherte, die nie endende Irritation, das Gefühl, ins Bodenlose fallen zu müssen, vorherrschendes Merkmal dieser Angst ist: es ist die Bewusstwerdung des Existentiellen. Es ist das Gefühl zu sein, aber an allem Seienden nur als ausgeschlossene Einzelheit teilzunehmen.
Lange berichtet vom Pascalschen Erschrecken vor der unendlichen Weite des Raumes, von der wir nichts wissen und die wir rational nicht begreifen können. Danach bleibt uns nur die Einsicht: Alle Dinge entwachsen dem Nichts und ragen bis in das Unendliche und das menschliche Leben ist nur ein winziger Bruchteil davon. Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein Alles gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und Allem.
Was ist das: die Bewusstwerdung des Existentiellen. Wir wissen, dass wir etwas sind, wovon wir nichts wissen können, sind aber außerstande, dieses Wissen wieder rückgängig zu machen. (38) Aus dieser Einsicht resultiert unsere existentielle Angst. Diese meint kein bestimmtes Hier und Jetzt, aus dem das Bedrohliche wächst. Sie weiß nicht, was es ist, wovor sie sich ängstigt. Von diesen Grundeinsichten aus entwickelt Lange seine literarischen Anliegen. Nicht mehr die Gewissheit der Hegelschen Geschichtsphilosophie; auch nicht mehr das Marxsche Gesellschaftsverständnis – die Existenzphilosophie bestimmt fortan sein Denken und Schreiben.
Man kann es auch mit den Worten meines alten Philosophieprofessors Odo Marquard sagen, der Langes Buch für die FAZ kommentiert hat: Wenn Vollendung nicht mehr von der Geschichte zu erwarten ist, rettet sie sich in die Kunst. Das wollte er wohl unbedingt dem lange Zeit überzeugten Marxisten Lange ins Stammbuch schreiben, der allerdings selbst längst über das Stadium unhinterfragter Gewissheiten hinausgelangt war, wie sein Tagebuch eines Melancholikers zur Genüge beweist. Darin beschreibt er seine literarische Entwicklung, die parallel zu seinen philosophischen Erkenntnissen verläuft.
Seine Ansichten spiegeln sich in einigen seiner Novellen wieder, die ich im Anschluss lese, z.B. in: Die Bildungsreise; Der Therapeut; Die Kränkung oder Der Hundekehlesee. Sie enden meist im Unbestimmten. Eingängige Lösungen für die menschlichen Probleme gibt es darin nicht. Das mag nicht tröstlich sein, ist aber wahrhaftig.
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