Dieter Wellershoff wäre am 3. November 2025 einhundert Jahre alt geworden. Er hat ein umfangreiches, viele Genres umfassendes Werk hinterlassen: Romane, Erzählungen, Novellen, Hörspiele, Drehbücher und literarische Essays, in denen er Werke der zeitgenössischen Literatur interpretierte. Und immer wieder hat er auch Stellung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen bezogen.
Gleichwohl wandte sich Wellershoff entschieden gegen jede Einvernahme oder Instrumentalisierung der Literatur für politische oder ideologische Zwecke. Weder konnte er einer zeitweise in Mode gekommenen Losung vom Ende der Kunst zugunsten des Nachweises ihrer praktischen Nützlichkeit etwas abgewinnen, noch einer Richtung, in der sich die Sprache als Medium selbst genügt, zum Experiment verkommt und damit zum Selbstzweck wird. Dagegen formulierte er erweiterte und vertiefte Ansprüche an das realistische Schreiben. Für Wellershoff war Literatur kein apartes, von der Realität getrenntes Unterfangen. Auch nicht die Umsetzung einer literaturtheoretischen Konzeption. Er entlehnte die Stoffe seines Schreibens dem Leben selbst. Seine Texte handeln von den existentiellen Problemen der Menschen, die sich in einer komplexen, zunehmend undurchschaubaren Wirklichkeit zurechtfinden müssen. Einer Wirklichkeit, der die verbindlichen Weltbilder abhandengekommen sind. Dieser Realität sind sie ausgeliefert – mehr oder weniger gut ausgestattet mit materiellen und intellektuellen Ressourcen. In dieser Welt müssen sie ihren Lebensweg finden, ihre Wahlen treffen, sich anpassen oder widersetzen. Fast immer schilderte er Figuren, die sich in extremen Lebenslagen befinden: Verlierer, Gescheiterte, Verzweifelte, Außenseiter und selbst Verbrecher. An deren Beispiel zeigt er, wie prekär die Verhältnisse sind, an die wir uns gewöhnt haben und die wir für selbstverständlich halten. Gesellschaftliche und individuelle Krisen sind für ihn daher kein Extrem, sondern Normalität.
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Geradezu allergisch reagierte Wellershoff auf Fragen nach der Zielgruppe seines Schreibens. Für ihn war dies der Versuch, Literatur auf krude Marktmechanismen auszurichten. Für eine Zielgruppe zu schreiben hieße, für eine Konsumentengruppe, für den Absatz auf dem Literaturmarkt zu schreiben, Marketingstrategien zu verfolgen, um erfolgreich zu sein. Er wollte nicht verrechnet werden für feste soziale Positionen.
Gegen Tendenzen der Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Literatur für fremde Zwecke betont Wellershoff die Kraft des Poetischen: es ist ein Zustand gesteigerter Phantasietätigkeit, der sich Eindeutigkeiten und vordergründigen Zwecksetzungen verweigert, der die praktischen Erfordernisse der Realitätsbewältigung transzendiert und den Dingen einen neuen Sinn entlockt. Der Gegenstand des Poetischen führt ein den alltäglichen Erfordernissen entrücktes Eigenleben, voller Symbolik und Transzendenz und ist doch etwas Reales. Er verweist darauf, dass es zwischen den Bereichen Poesie, Imagination und Spiel auf der einen Seite und der Praxis auf der anderen Seite vielfältige Abgrenzungen und Vermittlungen gibt, die es zu bearbeiten gilt, damit der Mensch sich als historisches Wesen begreifen kann, das unabgeschlossen ist und in keiner Gestalt zur Ruhe kommt.
Denjenigen, die in den 60er und 70er Jahren den Praxiszwang der Literatur betonten, widersetzte er sich. Indem sie unterstellten, dass nichts artikulierungswürdig sei, was nicht als Handlungsanweisung für politische Aktionen dienen könne, würden sie Maßeinheiten für Erlaubtes einführen und die Phantasie an das Bestehende binden. Damit ginge der Literatur ihre überschießende Kraft verloren und das Bewusstsein dafür, was in künftigen Realisationen der Freiheit eingelöst sein müsste, damit sie diesen Namen verdient.
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Schon früh war Wellershoff bemüht, die literaturwissenschaftliche Diskussion in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Er interessierte sich für Entwicklungen in den „Nachbarkünsten“ Malerei und Musik (Duchamp; Warhol; Cage u.a.), deren Intentionen auf Entgrenzungen des ästhetischen Bereichs zielten, auf oszillierende Übergänge von Kunst und Wirklichkeit. Die Auseinandersetzung mit diesen Positionen führte ihn zu grundsätzlichen Fragen an Kunst und Literatur. Er sah die Gefahr ihrer Selbstaufhebung stellte Fragen zu ihrer künftigen Bedeutung und Legitimation: Zerfallen Kunst und Literatur vor dem Hintergrund bestehender Marktmechanismen und Produktionszwänge in bedeutungslose Beliebigkeiten? Handelt es sich lediglich um Ersatzfreiheiten? Dienen sie der Entlastung und folgenlosen Sensibilisierung? Oder besitzen sie nach wie vor einen utopischen Aspekt? Und wie ist ihr Verhältnis zu den neuen Massenmedien und zur Wissenschaft? Und wie ist überhaupt ihre Stellung in der Gesellschaft und ihr Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu sehen?
Diese und ähnliche Fragen beherrschten seinerzeit die ästhetische Diskussion, an der sich Wellershoff engagiert beteiligte. Sie gipfelten in der Frage, ob in Zukunft eine demokratische Massenkunst zu erwarten ist (Beuys: „Jeder ist ein Künstler“) oder ob Kunst nicht ein Asyl des Widerstands gegen eine falsche Versöhnung mit der schlechten Wirklichkeit sein müsste? Am Beispiel zahlreicher Konzepte und praktischer Versuche diskutierte Wellershoff die Entwicklungen in den Bereichen Literatur, Theater, Malerei; Musik und den neu aufkommenden Medien, um Möglichkeiten der Erfahrungserweiterung auszuloten.
Das Hauptproblem sah er immer wieder darin, dass Kunst und Literatur sich immer stärker den Marktbedingungen unterwerfen müssten, Indem Kunst zur Ware wird, können ihr Gebrauchswert und Tauschwert auseinanderklaffen. Mit anderen Worten: Billige verlogene Machwerke werden zu Publikumserfolgen, und bedeutende Dichtungen geraten ins soziale Abseits und werden nur noch von kleinen, exklusiven Konsumentengruppen wahrgenommen. Die fortschreitende Literaturproduktion durch organisierte Prinzipienlosigkeit bringt eine sprunghafte Informationsvermehrung mit sich und damit auch neue Formen der Entfremdung. Heute werden die kontraselektiven Mechanismen des manipulierten Marktes immer deutlicher. Der immer raschere Umsatz der Waren hat längst den Charakter eines systematischen ruinösen Verschleißes geistiger Arbeitskraft angenommen. Das meiste ist kurz nach Erscheinen schon wieder vergessen, und auch Kritik wird im schnellen Verbrauch entkräftet, durch Scheinkühnheit oder Scheintoleranz. Und die Schriftsteller laufen Gefahr, dass sie nur noch `Reizlärm` machen für den fröhlichen Betrieb, wie Martin Walser es genannt hat.
Weitere Ursachen für die drohende Agonie der Literatur sieht Wellershoff im Aufkommen der audiovisuellen Massenmedien. Ihre stärkere, sinnliche Unmittelbarkeit übe zusammen mit der Passivität, die sie ihrem Konsumenten erlauben, eine Reiz- oder Stimulationsbedürftigkeit ein, die es immer mühsamer erscheinen lässt zu lesen. Dieser Prozess hat sich durch das Aufkommen der digitalen Medien noch erheblich verschärft. Die Folge ist eine drohende Abwertung der Literatur, die in eine privatisierte Konsumsphäre abgedrängt wird. Damit wird gleichzeitig ein ganzer Bereich oppositioneller Phantasie und abweichender, nicht reglementierter Erfahrung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit entzogen.
Dagegen betont Wellershoff, worin für ihn die Bedeutung der Literatur liegt: Sie ist ein Medium sozialer Selbsterfahrung im Kontext geschichtlicher Allgemeinerfahrung. Sie kann zur Bewusstseinsveränderung im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen beitragen und zur Artikulation utopischer Hoffnungen und Entwürfe. Und sie kann die Erinnerung an menschenwürdige Verhältnisse wachhalten, indem sie Erfahrungen an Kämpfe, Träume und Hoffnungen historischer Subjekte bewahrt. Das alles kann sie nicht in direkter, resultathafter Simplizität vermitteln; vielmehr muss sie Unübersichtlichkeit, Scheitern, Ab- und Umwege zur Kenntnis nehmen; nur so bleibt Literatur ein Medium der Erkenntnis und der individuellen und gesellschaftlichen Veränderung.
Bildquelle: Wikipedia, Bodow, CC BY-SA 4.0













