Es ist kein Privileg unserer Zeit, auf die zerstörerischen Folgen technischen und ökonomischen Fortschritts aufmerksam geworden zu sein, vor ihnen gewarnt und nach Auswegen aus dem Labyrinth widerstrebender Interessen gesucht zu haben. Die Träume von einer Welt, in der die Armut zurückgedrängt, Krankheiten beseitigt, die Zivilisation sich verbreiten und die Welt dank neuer Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel nach dem Vorbild westeuropäischer Staaten organisiert und zusammenwachsen werde, erschienen bereits vor Beginn des großen Krieges, den man später zum Ersten Weltkrieg erklärte, manchen als Alptraum; andere blickten hinter die Fassaden, die namenloses Elend, brutalen Kolonialismus, Kultur- und Naturzerstörung in bislang ungeahntem Ausmaß verbargen. Nicht wenige freilich meinten, einer Morgenröte ansichtig zu werden, bevor sie, wie rückblickend Stefan Zweig schrieb, einsehen mussten, dass es „der Feuerschein des nahenden Weltbrandes“ gewesen war. Andere spürten, dass die Zivilisation, so angenehme Folgen sie auch haben mochte, Leere und Barbarei nur verdeckte, und sie ahnten, wie brüchig der Glaube war, an dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt teilzuhaben würde auch bedeuten, ebenfalls voranschreiten auf dem Gebiet des Ethos. Noch bevor im 20. Jahrhunderts eine Reihe schlagender Beweise geliefert wurden, dass es sich um einen Wahn, eine Illusion und einen leeren Irrglauben gehandelt hatte, waren es Philosophen wie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche gewesen, die ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Selbstbild artikuliert hatten, mit der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr eigenen Rationalität beginne ein neues, allen Glück nicht nur verheißendes, sondern ein wahrhaft beglückendes Zeitalter. Um zu wissen, dass diesem Bild wenig entsprach, bedurfte es nicht einmal geschärfter Aufmerksamkeit für das tiefe Elend, das in den Quartieren der Arbeiter und kleinen Handwerker herrschte. Da die Vorstellungen von einem geglückten Leben unmittelbar an Erfolg, und zwar den materiellen Erfolg geknüpft waren, an den Gelderwerb, bildete sich jener u.a. von Max Weber beschriebene Geist des Kapitalismus mit einer charakteristischen Brutalität und gefühlskalten Rationalität aus, der alles nach dem Nutzen misst, im Reichtum das Zeichen Wohlgefallens eines Gottes erkennt, an den man freilich kaum mehr glaubt, Armut hingegen als Folge versagter Erwählung bzw. als Ausdruck der Untüchtigkeit deutet und daher verachtet. Balzac, Dickens und Zola haben diesem erbarmungslosen Streben nach Ansehen und materieller Sicherheit Ausdruck ver- liehen: der Selbstgefälligkeit und Kälte derer, die siegreich aus diesem Kampf ums Dasein hervorgingen, zugleich der Verwahrlosung der unteren Gesellschafts- schichten, der materiellen, aber auch der moralischen.
Die Welt der vermeintlich von Gott oder vom Schicksal so begünstigten Europäer ähnelte nur wenig den christlichen Idealen, von denen kaum mehr als die Mahnungen zur Keuschheit übrig geblieben waren, begleitet von beständigen
Erinnerungen daran, der Geistlichkeit Verehrung und der Obrigkeit Gehorsam zu schulden und sein Los, so es sich nicht durch zähen Fleiß und skrupellose Zielstrebigkeit verbessern ließ, in Demut zu ertragen. Es ähnelte auch nicht den Erwartungen, die die Aufklärung geweckt hatte; von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war die Rede längst nicht mehr. In Wahrheit, so stellten scharfsichtige Beobachter fest, befand sich diese Welt in einer tiefen Krise, denn heimgesucht wurde sie von ihren eigenen Erfolgen. Wissenschaft und Technik erlebten einen rasanten Aufschwung, gewiss. Die beispiellose Überlegenheit der fortgeschrittenen europäischen Staaten versetzte sie in die Lage, nahezu den gesamten Globus zu beherrschen, die dortigen Lebensordnungen zu schädigen oder gar weitgehend zu zerstören, um die eigene Ordnung zu implementieren. Das war eine beachtliche und staunenswerte Leistung, und doch erwies sich dieser Triumph der westlichen Zivilisation als zutiefst ambivalent. Joseph Conrad hat in „Heart of Darkness“ die Augen dafür geöffnet, dass die Barbarei, die man im lichten Europa weit hinter sich gelassen zu haben wähnte, dort, in den Tiefen des afrikanischen Kontinents, erneut erstand, dass all die schönen Worte und die guten Absichten, das Licht der kultivierten Welt über den Globus zu verbreiten, von der Finsternis des namenlosen Grauens verschlungen wurde. Die hemmungslose Gier, kaschiert von wohlklingenden Phrasen, den Fortschritt der Völker zu befördern, erzeugte im Herzen Afrikas, allem voran in dem berüchtigten „État indépendant du Congo“, jene undurchdringliche Dunkelheit, in der Millionen Afrikaner faktisch versklavt und in den Tod gestoßen wurden, die aber auch den Geist der Europäer, der vorgeblichen Wohltäter und geschäftigen Kolonialwarenhändler, erfasste. An der Figur des talentierten Mr. Kurtz, eines als Visionär gerühmten Elfenbeinhändlers, musisch und literarisch begabt und politisch ambitioniert, verdeutlicht Conrad die Fall- höhe der europäischen Zivilisation in den Abgrund schrankenloser Barbarei, in der jede erdenkliche Grausamkeit wirklich wird, weil nichts der Entfaltung der eigenen Macht im Wege steht: nicht die eigene kulturelle Bildung, keine Tugend wie Barmherzigkeit, geschweige denn die zu „Bestien“ degradierten Eingeborenen.
Albert Schweitzer, dessen Geburtstag sich im Jahre 2025 zum 150. Male jährt, gehörte zu denen, die ein waches Gespür für vom Menschen verursachtes Leid hatten. Die Sensibilität für Elend, Schmerz und Qual darf man wohl als ein entscheidendes Motiv für seine Ethik ansehen, die sich auf die Formel „Ehrfurcht vor dem Leben“ bringen lässt, die aber auch sein Leben bestimmte. Hinlänglich bekannt ist, dass er, der in Frankreich oder Deutschland als Musiker, Philosoph oder Theologe hätte Karriere machen können, im Jahre 1913 eine recht ähnliche Route in den afrikanischen Kontinent nahm wie der Erzähler aus Conrads Roman, freilich nicht, um den dortigen Elfenbeinhandel zu inspizieren und ohne dabei auf die monströsen Grausamkeiten zu stoßen, denen jener Kapitän Marlow begegnet war. Die Gründung eines Spitals in Lambarene in Französisch Äquatorialafrika, das er bis zu seinem Tod als Arzt leitete und mit Hilfe der ihm eigenen Mischung aus größtem persönlichem Einsatz und geschicktem Lobbyismus finanzierte, reagierte auf die Not, an der ein Europäer, mochte er daran nun Schuld haben oder nicht, allein deshalb nicht vorübergehen konnte, weil er um sie wusste. Es fällt gerade in unserer Zeit, die Gesten, Entrüstung und Empörung ungleich höher schätzt als hilfreiche Tätigkeit, schwer zu akzeptieren, dass Schweitzer die koloniale Herrschaft nicht geißelte, sie vielmehr voraussetzte. Das stets auf bescheidene Mittel angewiesene Spital verstand sich nicht als Anklage des europäischen Imperialismus, eher bedeutete es, der Verantwortung für etwas gerecht zu werden, wofür man nun einmal die Verantwortung hatte, da man in diese Gegenden nicht als Besucher gelangt, sondern als Eroberer eingedrungen war.
Nicht das Krankenhaus in Lambarene soll uns hier beschäftigen, sondern Schweitzers Versuche, jene Krise, in der das weltdominierende Europa seiner Auffassung nach steckte, theoretisch zu bewältigen. Das Spital war Resultat eines Entschlusses, Hilfe an einem Ort zu leisten, wo sie seiner Meinung nach nötig und moralisch geboten war; in seinen zahlreichen Vorträgen und Schriften hingegen wandte er sich grundsätzlicheren Problemen zu, die, auch das mag für die postkolonialistischen Leser erstaunlich sein, jedenfalls anfangs sehr wenig mit dem afrikanischen Kontinent und seinen Bewohnern zu tun hatten. Seine „Kulturphilosophie“, insbesondere die 1923 veröffentlichte Abhandlung „Kultur und Ethik“, die auf Vorträge an der Universität Uppsala zurückgingen, war eine kritische Durchmusterung der Ethik des Abendlandes, dieser seit den Griechen des fünften vor- christlichen Jahrhunderts in zahlreichen Facetten ausgeprägten Überlegungen zu Bedingungen und Formen glückenden Lebens. Schweitzer bot keine akademische Darstellung ihrer Geschichte, sondern ging von einem Problem aus, das er mit dem vieldeutigen Wort „Krise“ der Kultur bezeichnete: „Unsere Kultur macht eine schwere Krise durch“, lautet lapidar der erste Satz jener Vorträge.
Mit einer solchen Diagnose stand Schweitzer natürlich nicht allein. Immerhin schrieb er kurz nach dem Ende eines Krieges, der ein bislang nicht vorstellbares Ausmaß an Zerstörung über den Kontinent gebracht hatte; als Folge dieser zivilisatorischen Katastrophe war die politische Ordnung in den östlichen Teilen Europas zusammengebrochen und durch neue, zutiefst fragile, absehbar provisorische ersetzt worden. Wer hätte da nicht von Krise und Katastrophe, von Niedergang sprechen, sich nicht der grellen Bildwelt der Apokalypse bedienen sollen wie manche Dichter in der „Menschheitsdämmerung“? Oswald Spengler hatte 1918 den ersten, 1922 den zweiten Band seines geschichtsphilosophischen Monumentalgemäldes „Der Untergang des Abendlandes“ publiziert. Mochte er sich auch gegen die Deutung des Wortes „Untergang“ in dem Sinne wehren, in dem vom Versinken der Titanic spricht, und versuchen, es semantisch Ausdrücken wie „Abend“, „Herbst“ oder gar „Vollendung“ anzunähern, so war den Lesern doch klar, dass Spengler die europäische Kultur ihrem Ende nahe wusste. Und rasch wurde ihnen auch deutlich, dass Spengler für all die Phänomene einer solchen Spätzeit, das Epigonenhafte, die gesteigerte Sensibilität, den Hang zum Künstlichen, die viel- berufene décadence, keinerlei Sympathie hegte, sondern seine Zeit mit der kalten Ungerührtheit eines Mediziners betrachtete, der Symptome von Alterserscheinungen feststellt und das baldige Ableben in Aussicht zu nehmen empfiehlt. Schweitzer freilich hielt von Spenglers Ausführungen wenig; bereits auf der ersten Seite fertigte er das ihnen zu Grunde liegende Modell, wonach Kulturen einen Lebensbogen beschreiben, also wachsen, gedeihen und verenden, als völlig unzureichend ab. Nicht nur, weil ihn die Naturalisierung der Kultur störte, sondern vor allem auf Grund der Überlegung, dass die stillschweigende Annahme, nach dem Ableben der europäischen Kultur würden andere an ihre Stellen treten, verfehlt sein musste. Denn diese Kultur dominierte faktisch nun einmal die gesamte Welt, sie hatte sich über die Welt verbreitet und ihr den Stempel aufgedrückt. Somit waren auch die Gründe für jene Krise exportiert, ja die Welt gleichsam von ihnen angesteckt worden. Gesundung konnte deshalb ausschließlich von den eigenen Kräften erwartet werden.
Worin besteht nun eigentlich jene Krise? Sie besteht, so Schweitzer, darin, dass Wissenschaft Technik und Industrie seit zwei oder drei Generationen einen gewaltigen Aufschwung nahmen, ohne dass die „geistige“ Dimension der Kultur in an- nährend gleicher Weise gepflegt und entwickelt worden wäre. Den Menschen über- holen seine Leistungen; wie von Naturereignissen wird er von seinen Erzeugnissen mitgerissen. Von den unabwendbaren Entwicklungen überrollt büßt er seine Freiheit ein und damit das Vertrauen in die Fähigkeit, die Welt bestimmten Idealen entsprechend zu gestalten, sie nicht nur unablässig zu verändern. Es ist dieser Vertrauensverlust, den Schweitzer als Kern jener Krise ausmacht, die Resignation der freien Person vor der Übermacht ökonomischer, politischer, technologischer Verhältnisse.
Es ist nicht zu übersehen, dass Schweitzers Bild der Gegenwart Überschneidungen aufweist mit demjenigen, das sein etwas älterer Zeitgenosse Max Weber entworfen hatte. Der kühle Analytiker des Kapitalismus hatte schon 1905, im zweiten Teil seiner berühmten Studie, die namentlich in der calvinistischen und puritanischen Ethik den geistigen Boden für den Erfolg des Kapitalismus ausmachte, von dem „stahlharten Gehäuse“ gesprochen, in das der nach materiellen Gütern strebende Mensch der Gegenwart gesperrt sei. Freilich veranschlagte der Soziologe und Nationalökonom die Stärke dieses Gehäuses höher als Schweitzer, die dem Einzelnen, der eben nur noch Teil der Gesellschaft und keine selbstbestimmte Person mehr war, ein Entkommen aus dieser Art von Käfig im Grunde unmöglich machte. Gerade weil all die Tugenden wie Fleiß, Disziplin und asketischer Genussverzicht allmählich jeden höheren, ihren geistigen, ja spirituellen Sinn eingebüßt hatten, sie aufgehört hatten, Mittel zu sein für ein Gott gefälliges und um Selbstvervollkommnung ringendes Leben, erwies sich das Gehäuse als unentrinnbar: es war gegenüber allem fest verschlossen, was ein höherer, ein geistiger Sinn genannt zu werden verdient.
Entrinnbar mochte es allenfalls um einen hohen Preis sein, den nicht wenige Künstler zu zahlen bereit waren, dieser Gesellschaft in dieser oder jener Weise den Rücken zu kehren und das unsichere Leben eines „Bohemien“ zu führen. Der Ge- danke liegt nahe, Schweitzers (letztlich bereits 1896 gefassten) Entschluss, auf eine akademische Karriere zu verzichten und sich schließlich als Mediziner an einen Ort fernab jenes stahlharten Gehäuses der Zivilisation zu begeben, in der Nähe zu einem derartigen „Ausstieg“ zu suchen. Wie bei Dichtern und Malern, die den Rand der bürgerlichen Gesellschaft aufsuchten, je nach Begabung und Geschick ein mehr oder weniger auskömmliches Leben führten, sich nicht selten mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielten oder aber die sprudelnden Quellen hilfreichen Mäzenatentums zu erschließen in der Lage waren, bedeutete auch Schweitzers Auszug selbstverständlich keine radikale Zäsur, keinen vollständigen Bruch. Aber die Distanz zu den Räumen, in denen Anpassungsleistungen zu erbringen unumgänglich ist, bot die Möglichkeit, auf die Gesellschaft und ihre Funktionsweise den Blick aus der Ferne zu richten, sie von einer Warte aus zu betrachten, ohne sich ihren Zwängen zu unterwerfen. Künstler zu sein bedeutet ja, gerade keinen „Beruf“ im Sinne des modernen kapitalistischen Berufsethos auszuüben, das Weber geschildert hatte, sondern in gewisser Weise eine randständige, ja prekäre Existenz zu führen, und zwar auch dann, wenn sie nicht von materiellen Sorgen überschattet ist. Der Verzicht auf eine Professur und die Tätigkeit in Lambarene sicherten Schweitzer nicht allein die intellektuelle Freiheit, sie boten ihm auch die Chance, sich von politischen Parteinahmen so weit wie möglich fernzuhalten. „Parteinahme“ kam für ihn nur insoweit in Frage, als sie im Interesse der Menschheit insgesamt erfolgte, somit gerade nicht Belangen und Anliegen derer nachkam, die erklärtermaßen einen Teil repräsentierten. Von dieser aus der Dis- tanz resultierenden Freiheit des Urteils hat Schweitzer bis an sein Lebensende Gebrauch gemacht, nicht selten zu Befremden und Ärger derer, die sich seiner moralischen Autorität gern bedient hätten: Er blieb auch während des Kalten Krieges für keine Seite ein verlässlicher Verbündeter; seinem Cousin Jean Paul Sartre beispielsweise galt er als willfähriger Lakai des amerikanischen Großkapitals und Figur der kolonialen Unterdrückung Afrikas, andere misstrauten ihm als mindestens naiven Parteigänger des Kommunismus, der sich namentlich von den Gunsterweisen seitens der DDR-Regierung habe blenden und vereinnahmen lassen; der Pazifist und erklärte Mahner gegen den Einsatz von Atomwaffen war ohnehin verdächtig. Dass Krieg eigentlich Frieden, die abertausendfache Vernich- tung menschlichen Lebens die wahre Humanität bedeute, erweist sich somit als ein altes und bekanntlich nicht allein gegen Albert Schweitzer angesungenes Lied. Europa also erlitt eine Krise, es war geistig verkümmert. Das Anfang der 1920er Jahre zu sehen war selbst alles andere als bemerkenswert, und auch, es mit dem enormen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in Verbindung zu bringen, der ja das Ausmaß der Zerstörung erst ermöglicht hatte, die der Krieg hinter- lassen hatte, dürfte die Hörer in Uppsala und die Leser seines Buches nur wenig überrascht haben. Erstaunt dürfte sie allenfalls haben, dass Schweitzer sich mit Darlegungen der krisenhaften Symptome nicht lange aufhielt, sie nicht als unaus- weichliches Phänomen des geschichtsphilosophisch begründbaren Niedergangs deutete. Vielmehr fasste er die verbreitete Neigung seiner Zeitgenossen, die Gegenwart in den düsteren Farben zu malen, den Blick auf Verfall und Dekadenz, auf Empfindungen wie Einsamkeit, Leere oder Hoffnungslosigkeit zu fokussieren, selbst als Symptom, ja mehr noch: als Grund dieser Krise auf.
Es war der Pessimismus, den vor allem Schopenhauer philosophisch begründet hatte, dessen Bücher sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmender Beliebtheit unter einer stets wachsenden Leserschaft erfreuten, den Schweitzer als Kern des ethischen Problems ausmachte. Denn der Antipode Hegels, der von Fortschritt und dem wachsenden Bewusstsein von Freiheit nichts wissen wollte, dem das Leben eine sinnlose Qual bedeutete, der man sich in selbst- gewählter Einsamkeit so weit als möglich entziehen sollte, dieser Denker markierte laut Schweitzer einen Bruch in der Geistesgeschichte, der weit tiefer ging als all die Differenzen zwischen philosophischen Auffassungen und Systemen. Von Kant ausgehend, als dessen einzig wahren Erben er sich betrachtete, hatte Schopenhauer den Menschen von der Welt isoliert; die Erscheinungen, denen er gegen- überstand, waren weniger Erscheinungen der Welt denn vielmehr trügerischer Schein: Maya. Doch im Unterschied zum Autor des Höhlengleichnisses forderte Schopenhauer nicht, ein inszeniertes Schattenspiel als solches zu identifizieren, um dann, wenn möglich, dem Gefängnis zu entkommen und ans Tageslicht der Wahrheit vorzudringen, sondern lediglich, sich von den Trugbildern abzukehren. Denn es gibt nichts zu entschleiern. Schopenhauers Empfehlung der Bedeutsamkeitsreduktion kann sich nicht als Vorstufe zur besseren Einsicht gerieren, sondern ist ein, im Grunde das Mittel, die Welt gerade noch erträglich zu halten. Friedrich Rückerts „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ verleiht mit seinem Rückzug aus dem „Weltgetümmel“ und der Einkehr in Kunst und sich selbst dieser Grundhaltung dichterischen Ausdruck:
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh’ in einem stillen Gebiet!
Ich leb’ allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!
Es war der Pessimismus, ob er nun in der von galliger Resignation gefärbten Philosophie eines Arthur Schopenhauer, in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, der Negation legitimer Geschichtsphilosophie überhaupt wie in Theodor Lessings „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ auftrat, oder auch nur in der Erwartung des Hanno Buddenbrook, es werde nichts mehr kommen, weshalb es an der Zeit sei, einen Strich zu ziehen ‒ es war die lähmende Kraft des Pessimismus, die Schweitzer für die Erkrankung hielt, die Europa heimsuchte. Mochte er auch künstlerisch so überragende Werke inspirieren wie Mahlers 9. Symphonie, in der Tat so etwas wie eine ‚Rücknahme der 9. Symphonie Beethovens‘, deren letzter Satz dem Erlöschen jeden Willens musikalisch Gestalt verleiht, mochten die Schreckensbilder der Joseph Conrad, Franz Kafka oder Alfred Kubin das verhängnisvolle Grauen in Worte fassen, was einige erahnten und fürchteten ‒ versteht man sie einmal als historische Dokumente, nicht als Kunstwerke, so illustrieren sie eben die Zukunftsangst und die Resignation, die bereits für die Zeit vor dem Weltkrieg so charakteristisch waren. In welchem Umfang Schweitzer diese ästhetisch beeindruckenden Leistungen zur Kenntnis genommen hat, ja inwieweit er sich für sie überhaupt interessierte, bedarf an dieser Stelle keiner Untersuchung. In jedem Fall hätten sie seinen Eindruck bestärkt, der moderne Mensch „glaubt eigentlich nicht mehr an den geistigen und ethischen Fortschritt der Menschen und der Menschheit, der doch das Wesentliche der Kultur ausmacht.“ Und wenige Seiten später heißt es: „Für uns Abendländer besteht Kultur darin, daß wir zugleich an unserer Vollendung und an der der Welt arbeiten.“ In dieser Formulierung klingt ein Grundmotiv der praktischen Philosophie Kants an, mit der sich Schweitzer bereits im Rahmen seiner philosophischen Promotion befasst hatte. Eine der Formulierungen des Kategorischen Imperativs lautet bekanntlich: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Sich selbst und jeden anderen als Zweck zu betrachten, nicht nur als Mittel, bedeutet ja, sich selbst und die Gesamtheit der Menschen zu verbessern, sich ihnen gegenüber als wohltätig zu erweisen; das konnte man wohl als Arbeit an der „Vollendung“ verstehen.
Um in diesem Sinn tätig zu sein, bedarf es eines Grundvertrauens in die Welt, der stillschweigenden Voraussetzung, dass gutes, wohltätiges Handeln letztlich doch glückt. Selbstverständlich war sich selbst Kant darüber im Klaren, dass es im Einzelnen oft scheitert, gleichwohl war diese Voraussetzung für ihn unaufgebbar, um überhaupt moralisch handeln zu können. Schweitzer interessierte sich recht wenig für die philosophischen Argumentationen selbst, mit denen sie aus der Tiefe des Stillschweigenden ans Licht der Vernunft verbracht und in ein theoretisches System eingefügt wurde. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der Grundhaltung selbst, einer von Spekulationen gar nicht erreichbaren Einstellung, auf der das Nachdenken über Begründungen von ethischen Normen allererst sinnvoll war. Schweitzer wusste sehr wohl, dass man zwar viel und scharfsinnig über Ethik lehren und schreiben konnte, dass aber das moralisch richtiges Handeln keine Sache ausschließlich der richtigen Einsicht war – andernfalls könnte man es ja auch nur von solchen verlangen, die an einer Universität Philosophie studiert haben –, sondern auf einem Verhältnis zu sich selbst und zur Welt gründet, das im Menschen selbst verankert ist, wofür er den Ausdruck „Weltanschauung“ verwendete. War sie von jenem Grundvertrauen geprägt, sprach er von einer „optimistischen“ Weltanschauung. Sie zeichnet aus, dass sie allen negativen Erfahrungen zum Trotz, die man während eines Menschenlebens mit dem eigenen Scheitern, den Enttäuschungen über den Charakter seiner Mitmenschen und den oft beängstigenden Zeitläuften zu machen genötigt wird, die Hoffnung auf die eigene Kraft zum Guten und die Verbesserungsfähigkeit der Welt nicht aufgibt. Darin sah Schweitzer, was das ethische und politische Denken der Neuzeit getragen hatte, so verschieden die philosophischen Akzente auch gesetzt worden waren: Von der vorsichtigen Skepsis eines Erasmus von Rotterdam über Leibniz’ erklärten Optimismus und die gesamte Breite der Aufklärung bis hin zu den hoch aufragenden idealistischen Systemen eines Fichte und Hegel spannte sich laut Schweitzer ein gewaltiger Bogen: Die optimistische Einstellung zur Welt, die beim Streben nach Glück die Arbeit an sich selbst als Beschreiten eines Weges in eine bessere Zukunft hatte sehen können.
Von ihr trennten Schweitzer und damit, was er als Gegenwart wahrnahm, namentlich zwei Denker. Da war zum einen Schopenhauer, der den Blick auf sinn- verschlingende Tiefen des Leids richtete und als einzige moralische Regung das Mitleid kannte. Mitleid aber führt zu Resignation, nicht zu Tätigkeit; empfohlen hatte er folglich vornehme Askese, nicht Engagement. Und da war der mächtige Rebell Friedrich Nietzsche, der von sich gesagt hatte, er sei kein Philosoph, vielmehr Dynamit. Es war nicht allein Schopenhauers Lebensverneinung, die er verabscheute, es war die gesamte europäische Denkgeschichte, die er hatte überwinden und einen radikalen Bruch mit den überkommenen Philosophien einschließlich ihrer moralischen Vorstellungen herbeiführen wollen. Denn das, was man unter „Moral“ verstand, sei infiziert vom christlichen Ressentiment gegen alles Natürliche, das Starke, Edle, das Leben selbst, das als das Böse verworfen werde. Nietzsche predigte die Umwertung aller Werte. „Was ist gut?“ fragte er, und gab zur Antwort: „Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.“ Und schlecht sei „alles, was aus der Schwäche stammt.“ Nietzsche beschwor die Gesinnung von Titanen und der grausam kämpfenden Götter, oder auch der vorzeitlichen Helden, wie sie die Ilias beschreibt: kräftig, stolz und unbeugsam, lebenstrunken und todesbereit.
Es ist schwer vorstellbar, dass Nietzsches wort- und klangreiches Raunen und Tosen, das den Todesmut gewappneter Recken als wahres Menschentum verherrlichte, das Schwache und Überzählige hinweggefegt sehen wollte, das in den heraufbeschworenen Bildern ur- und frühzeitlichen Kriegerethos’ und seiner spezifischen Tugenden schwelgte und seinen Zarathustra sprechen ließ: „So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!“, oder auch: „Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“ – es ist schwer vorstellbar, dass Schweitzer den Phantasmagorien von Gewalt und Übermensch, die der kurzsichtige und kränkliche Privatgelehrte da zu Papier gebracht hatte, mit einer gewissen Sympathie begegnete. Stand doch nahezu alles, was Nietzsche als sein geistiges Vermächtnis betrachtete, die Überwindung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit als Kern jener verhassten Sklavenmoral, zu dem, was er selbst nicht nur theoretisch für richtig hielt, sondern auch für die eigene Lebensgestaltung als maßgeblich betrachtete, in diametralem Gegensatz.
Zu nahezu allem ‒ freilich nicht zu allem. Schweitzer setzte die fundamentale Kritik an der traditionellen, in irgendeiner Weise mit einem göttlichen Schöpfer und Gesetzgeber operierenden Ethik voraus, wie sie Nietzsche vorgetragen hatte. Mochte er selbst auch Theologe und auf seine spezifische Weise aufrichtig fromm gewesen sein: die vehemente Ablehnung des überkommenen Gottesglaubens durch Schopenhauer und Nietzsche zog als bloße Tatsache eine Linie, hinter die er nicht zurückweichen wollte. Als Fundament der Ethik sollte gelten, dem Leben Ehrfurcht zu erweisen, von Gott hingegen war nicht die Rede.
Mit der Orientierung auf das Leben selbst, das als Faktum unhintergehbar ist, knüpfte Schweitzer an zeitgenössische Strömungen der Philosophie an, die selbst entscheidende Impulse von jenen beiden Denkern erhalten hatten und seine eigenen Reflexionen über die Krise der Gegenwart und die Möglichkeiten lenkten, über sie hinauszukommen. Leben ist nicht bloßes Existieren, es ist mit einem Willen verbunden, die Existenz zu erhalten, wie schemenhaft dieser Wille bei einfachen Organismen oder bei Pflanzen auch erkennbar sein mag, womöglich von einer bloßen Zuschreibung kaum zu unterscheiden. Leben jedenfalls tritt für uns in Erscheinung durch den Unterschied zwischen Innen und Außen; lebendige Organismen existieren, indem sie mit der Außen- bzw. Umwelt kommunizieren. Sie erhalten sich durch Selbstreproduktion, die durch Einverleiben von Nahrung gesichert wird, sie pflanzen sich fort und schützen sich wiederum dagegen, selbst zerstört zu werden. Selbsterhaltung bedeutet deshalb Entfaltung, Wachstum und Vermehrung ‒ etwas, was bei Dingen wie Gasen oder Festkörpern nicht auftritt. Diese oft als „dynamisch“ bezeichneten Phänomene der biotischen Welt verstand man als Ausdruck des „Willens“ zum Leben.
Es erübrigt sich an dieser Stelle, Probleme mit der philosophischen Bildungssprache, angewandt auf das Gebiet der Biologie, zu benennen, da die Begriffsfelder von Leben und Wille von vorn herein auf Fragen zugeschnitten waren, die den Menschen betrafen. In diesem Horizont signalisierten sie Zurückhaltung, mehr noch Ablehnung eines an Mathematik und Physik orientierten rationalistischen Ideals der Erkenntnis, ja des Menschen überhaupt. Das Leben, nicht das mathematische Denken, in den Mittelpunkt der Überlegungen über den Menschen zu stellen, hieß, Emotionen und Spontaneität anzuerkennen, dem rational nicht Zugänglichen, dem Unberechenbaren Raum zu geben. Und es hieß, den Menschen vom absoluten Beobachter zum Teil der Welt zu machen, ihn unter die Lebewesen zurückzustellen. Mag auch der menschliche Geist von allem Gegebenen abstrahieren, sein Leib vermag es nicht. In ihm erlebt der Mensch nun freilich nicht die Welt, sondern seine konkrete Umwelt, in der er sich behaupten muss.
Schweitzer teilte diese Perspektive, und nicht zuletzt in seiner Geringschätzung philosophischer Spekulationen klingt Nietzsches Verachtung für die „Hinterwäldler“ nach, deren Sinnen und Denken sich stets auf die als wahr geltende Welt jenseits der erlebten richtet: „Ihrem Leibe und dieser Erde nun entrückt wähnten sie sich, diese Undankbaren“ sprach Zarathustra. Der Mensch, der lebt, will leben wie jedes der anderen Lebewesen; es ist allererst das reflektierende Denken, das mit dem Dichter Bakchylides verkündet: „Nicht geboren zu werden ist für die Bewohner der Erde am besten,/ gar nicht zu schauen die Strahlen der glänzenden Sonne.“ Ganz wie für Nietzsche bedeutet der Pessimismus auch für Schweitzer eine Ge- fahr, der der seiner Natur nach freie Geist des Menschen stets ausgesetzt ist und der er standzuhalten hat. Im Gegensatz zu den übrigen Lebewesen ist er nicht in lebenserhaltenen Instinkten gefangen und geschützt, vielmehr ist von ihm verlangt, das Leben ausdrücklich bejahen.
An dieser Stelle nun trennen sich die Wege Schweitzers und Nietzsches. Denn während dieser die auf das einzelne Subjekt konzentrierte Philosophie, wie sie in einigen idealistischen Systemen angelegt war, auf die Spitze trieb und der bedenkenlosen Selbstverwirklichung in Gestalt des Willens zur Macht das Wort redete, lenkte Schweitzer den Blick auf die Gesamtheit derer, die leben und damit leben wollen, auf den ‚geheimnisvollen, universellen Willen zum Leben, von dem ich eine Erscheinung bin‘. Sich selbst als eine Erscheinung unter anderen zu begreifen, im Anderen den Gleichen, das war die Einsicht, die Schweitzer ohne Zweifel dem biblischen Gebot abgelernt hatte, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, wobei die Formel sich auch als Forderung mit Begründung lesen lässt, da das Hebräische auch übersetzbar ist mit: er ist wie du.
Schweitzer blieb beim Menschen aber nicht stehen. Ehrfurcht vor dem Leben reicht über die Grenzen des Menschengeschlechts hinaus, es umfasst die gesamte Natur. „Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, unergründlichen, vorwärts treibenden Willen, in dem alles Sein gegründet ist“, heißt es, und der Leser Schopenhauers wird sich an dessen Deutung des Vedānta-Lehrsatzes „tat tvan asi“, das bist du, aus den „Parerga und Paralipomena“ erinnert haben. Für Schopenhauer basierte Ethik genau auf dieser „mystischen“ Einsicht der Einheit der Wirklichkeit, „welche mit Hindeutung auf jedes Lebende, sei es Mensch oder Thier, ausgesprochen wird“. Das ist der Punkt, an dem sich Schweitzers Gedanken mit der Ethik Schopenhauers berührten.
Mystisch heißt diese Einsicht, da das Hinausgehen über die eigenen Grenzen und die Empfinden, mit Größerem eins zu werden, sich argumentativer Begründbarkeit entzieht. Ergriffenheit lässt sich allenfalls und in bestimmten Grenzen plausibel machen, aber nur schwer mitteilen, geschweige denn herbeiführen. Sie mag sich einstellen beim Anblick einer heilen Landschaft, beim Hören einer musikali- schen Passage, beim Betrachten eines Bildes, beim Erfassen eines Gedankens und bei vielen anderen Gelegenheiten. Goethes Faust spricht sie aus, nachdem den zum Freitod Entschlossenen das Brummen der Glocken und ein Gesang der Engel unterbrochen und Erinnerungen an die Kindheit geweckt hat:
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt’ ich mir eine Welt entstehn. […]
Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O tönet fort ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.
„Die Erde hat mich wieder“ – man kann diesen dankbaren Seufzer als für das Verständnis der Ehrfurcht vor dem Leben in hohem Maße aufschlussreiche Wendung bezeichnen. Ausgestoßen in dem Moment, in dem ein Wahngebilde zerfließt, Fausts Hoffart und die Enttäuschung des Scheiterns, die in Selbsthass flüchtet, sich als bloße Kopfgeburten erweisen, gleicht er dem Erwachen aus einem Albtraum. Der andringende Glockenton dröhnt in eine abgeschlossene Innenwelt und signalisiert, dass der Träumer lebt. Und diese Tatsache wird zum Erlebnis. Die immer wieder beschworene Ehrfurcht wurzelt für Schweitzer einzig und allein in der dankbaren Bejahung des eigenen, des irdischen Lebens; in ihr sah er den Grund für die Einstellung zur Welt, die moralisch verantwortliches Handeln ermöglicht. Nicht abstrakte Normen, Imperative, nicht juristisch ausgefeilte Verträge waren seiner Meinung nach in der Lage, den Menschen zu motivieren, die anderen nicht nur als Mittel einzusetzen, sondern stets auch als Zweck zu betrachten, eher nach Frieden zu streben als Konflikte in mörderischen Kriegen lösen zu wollen. Nur indem er sich der Tatsache bewusst werde, dass jeder Mensch, ja jedes Lebewesen leben will wie er selbst, würde er in der Lage sein, seine Annahme zu revidieren, alles sei dem Stärkeren zu freier Verfügung gestellt. Es gehört sicher zu den noch immer bedenkenswerten Einsichten Schweitzers, in den Ansprüchen, die eigenen Möglichkeiten zur Machtentfaltung durchzusetzen, auch deren Kehrseite gesehen zu haben, den düsteren Pessimismus, der mit dieser Einstellung einhergeht. Der „Nihilismus“ beglückt nicht einmal seine Protagonisten und Anhänger, sondern verschlingt auch sie. Der Prototyp dessen, der sich aller Bindungen, Vorurteile, Skrupel entledigt hat und sich darum frei wähnt, jener Mr. Kurtz aus Joseph Conrads Roman, während des 20. Jahrhunderts kopiert in den zahllosen Exemplaren, die in schmucken Uniformen in Sträflings- und Konzentrationslagern ihr Wesen trieben, dieser Prototyp des Übermenschen ist selbst nichts anderes als ein krankes Wrack in lichtloser Finsternis. Nicht minder erbärmlich als die, die für seinen von besten Absichten genährten Größenwahn ihr Leben ließen und deren abgeschnittene Köpfe der Einfassung seiner Residenz als Zierde dienten. Noch die gedörrten Schädel sollten ihm ihre Reverenz erweisen.
Schweitzer hat sich von persönlichen Rückschlägen, vor allem aber von den welthistorischen humanitären Katastrophen, die er erleben musste, nicht von den 1923 festgehaltenen Grundsätzen und Einsichten abbringen lassen. Er wusste, dass auch globale Institutionen wie der Völkerbund, völkerrechtliche Vertragswerke, die so etwas wie Frieden zwischen verfeindeten Staaten zu sichern versprachen, Kriege und Völkermorde nicht verhindert hatten und würden verhindern können. Von dem Gleichgewicht des Schreckens, das die atomare Aufrüstung nach 1945 errichtete, hielt er wenig, selbst wenn es vorläufig die Kriegsbereitschaft dämpfte. Die Menschheit, so war er bis an sein Lebensende fest überzeugt, konnte sich aus ihrer Krise nur befreien, wenn man bereit war, das je eigene Leben als einen Teil des universellen Lebens ernst zu nehmen. Ernster als ökonomische und ideologische Versprechen, ernster als abstrakte Ideen oder Hirngespinste, für die Menschen noch immer, wie es in pseudosakraler Gewandung beschönigend heißt: „geopfert“, in Wahrheit aber nur verbraucht werden.
Liest man Schweitzer heute, sechzig Jahre nach seinem Tod, mehr als ein Jahrhundert nach Erscheinen seines ethischen Hauptwerkes, das in zahlreichen Auflagen verbreitet ist, so erstaunt, ja erschüttert die Feststellung, dass jene Krise andauert, ihre Symptome aber nicht weniger bedrohlich geworden, an Stärke eher noch zugenommen haben. Was bei Schweitzer nur impliziert war, ein anderer, behutsamer Umgang mit der Natur, ist zwar zum festen Bestandteil der öffentlichen Meinungsbildung, politischer Programme samt geräuschvoller Aktionen und profitabler Geschäfte geworden, an der Einstellung zu Natur und Umwelt aber hat sich in Wahrheit wenig verändert. Vielmehr verbreitern sich die Schneisen der Verwüstung, die Beschädigung der Landschaften und damit der Lebensräume für das nichtmenschliche Leben schreitet unablässig und beschleunigt fort. Von Ehrfurcht vor dem Leben keine Spur.
Auch die Erfahrung, dass Kriege nur wenige Gewinner kennen, aber zahllose Verlierer haben, scheint mittlerweile verblasst. Krieg gilt mittlerweile als realistische Option, selbst ein atomar geführter Weltkrieg. Dass Staaten sich an Verträge nur zu halten gewillt sind, soweit sie den eigenen Absichten nutzen, hätte Schweitzer vermutlich wenig überrascht, war er doch grundsätzlich misstrauisch gegen derartige Vereinbarungen. Den von Kant auf der Basis von gerechten Friedensschlüssen für möglich gehaltenen ewigen Frieden hielt er deshalb für illusionär. Überrascht und verstört hätte Schweitzer wohl eher, dass Krieg vielen wieder als faszinierendes Spiel erscheint, als ersehnter Nervenkitzel, die Verheißung des großen Abenteuers ‒ als „ganz großes Kino“. Möglicherweise sind solche Einstellungen nicht einmal unverständlich in einer Welt, die zwar an materiellen Gütern noch immer reich ist, aber intellektuelle und emotionale Herausforderungen kaum noch kennt. Geistige Langeweile, Sorgen um die Sicherung der Besitzstände und den Aufstieg auf Karriereleitern erzeugen vielmehr eine Gemeinschaft von Individuen, die der Konformität einen sehr hohen Wert beimessen. Damit aber schwindet die Basis, auf der Schweitzer seine lebenslang nicht preisgegebenen Hoffnungen gründete, auf das notwendig individuelle Erleben des Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins.
Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ umschließt keine Lehre im engeren Sinne, begründet kein moralphilosophisches System, formuliert erst recht keinen ethischen Katechismus. Was Schweitzer in seinen Vorträgen, Publikationen und den nach- gelassenen Papieren zum Thema einzig wollte, bestand darin, das Empfinden für das Wunder des Lebens, des eigenen und allen Lebens, zu wecken. Darin bestand für ihn der Sinn von Ethik überhaupt. In den Aufzeichnungen der 40er Jahre heißt es: „Ethik ist die Gesinnung, in der ich mir, den Mitmenschen und der Welt angehöre“.
Es scheint an der Zeit, sich diese elementare Einsicht zu Herzen zu nehmen.
Zum Autor: Michael Weichenhan ist promovierter Wissenschaftshistoriker und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der a Lasko Bibliothek in Emden.
Bildquelle: Gert Chesi, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons