Völlig zu Recht wird auf dem Hintergrund des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine kritisiert, dass gerade in Deutschland, aber auch in weiteren Ländern der EU, viele Parteien, Politiker:innen, gesellschaftliche Institutionen zu lange die Augen vor der aggressiv-imperialistischen Politik Putins verschlossen haben. Hinzu kommt, dass sich seit 1990 die Entwicklung einer europäischen Friedensordnung zunehmend auf die Sicherung und den Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen zu Russland und hier auf den Kauf des billigen russischen Gases beschränkte. Nicht zuletzt haben diese Versäumnisse begünstigt, dass das Putin-Russland schon seit über 15 Jahren ziemlich ungestört einen Zersetzungsfeldzug gegen die Europäische Union und ihre Ausrichtung auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftliche Vielfalt führen kann.
Fast gleichzeitig ist die Europäische Union (EU) durch die internationale Vernetzung der Rechtsnationalisten unter Druck geraten. Als Beginn dieser Entwicklung kann das Jahr 2010 gelten. Da erschien zum einen das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“, begleitet von einem erstaunlichen Hype. Dieser sollte offensichtlich den Rechtsnationalismus diskurstauglich machen. Zum andern wurde Viktor Orbán zum Ministerpräsidenten Ungarns gewählt – eine Zäsur für die demokratische Ausrichtung der EU. Orbáns Ideologie einer „illiberalen Demokratie“ wurde zur Blaupause für rechtsextreme und nationalistische Bewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten. Sie erweist sich als kompatibel mit dem ideologischen Autokratismus mit imperialem Anspruch des Putin-Russland. Insofern befindet sich Europa seit über 10 Jahren im ideologischen Zangengriff zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, deren rechtsnationalistische Ideologen wie Steve Bannon den Zersetzungsprozess des demokratischen Europas seit über 10 Jahren systematisch betreiben.
Das wirft die Frage auf: Verschließen vor dieser, die freiheitliche Demokratie bedrohenden Entwicklung nicht wieder viele Parteien, Politiker:innen, gesellschaftliche Institutionen in Deutschland und Europa die Augen? Man denke nur an die Brexit-Entscheidung in Groß-Britannien 2016, die ohne den massiven Einfluss des im selben Jahr zum Präsidenten der USA gewählten Donald Trump und des Putin-Russland während der Brexit-Kampagne nicht erklärbar ist. Ebenso ist das Erstarken der rechtsnationalistischen Parteien in Europa – PiS in Polen, Fides in Ungarn, Rassemblement National in Frankreich, Fratelli d’Italia in Italien, FPÖ in Österreich, AfD in Deutschland – ohne die massiven Interventionen der Vorfeld-Organisationen der Trumps und Vance insbesondere über die sozialen Netzwerke nicht denkbar. Dabei fällt auf, dass diese Parteien fast ausnahmslos Putin-freundlich agieren, die EU als einigendes Projekt zerstören wollen und verstärkt auf das setzen, was den Keim eines nächsten Krieges in sich trägt: Nationalismus. Das erklärt auch, warum all diese Parteien die inzwischen offen faschistische Politik Donald Trumps nicht nur unterstützen, sondern diese sich auch zum Vorbild nehmen. Diese Politik basiert auf den drei Säulen, die die rechtsnationalistischen Parteien bis hin zu Putin ideologisch tragen: Gott, Nation, Familie – wobei „Gott“ für eine den Autokratismus, Nationalismus, Rassismus absegnende Herren-Religion steht, die „Familie“ unterschiedlich ausgerichtete Lebensentwürfe und sexuelle Orientierungen neu tabuisieren soll und die „Nation“ die Eigeninteressen und Pfründe derer sichern soll, die sich als Autokraten der Institutionen der jeweiligen Länder bemächtigen und sich an deren Vermögen bereichern. Darum gehört zum ideologischen Feldzug der international vernetzten Rechtsnationalisten:
- die Gleichschaltung der Medien und Flutung der sozialen Netzwerke mit ihrer Umwertung aller Werte;
- die Aufhebung der Gewaltenteilung insbesondere zwischen Legislative, Exekutive und Judikative;
- die Aufkündigung der Freiheit von wissenschaftlicher Forschung und Lehre an den Universitäten;
- die bewusste Missachtung bzw. Zerstörung internationaler Vereinbarungen und Organisationen.
Dass sich die Rechtsnationalisten bei Ihrem zerstörerischen Treiben der Verharmlosungsstrategie bedienen und ihre Absichten mit dem kaschieren, was sie bekämpfen, gehört zu den Erkennungsmerkmalen des Rechtsnationalismus – und gleichzeitig ist dies der Grund dafür, dass noch immer so getan wird, als könne man diese Entwicklung durch „gutes Zureden“ aufhalten. Nein: Wir können jetzt schon erkennen, dass Rechtsnationalisten eben „nur einmal“ gewählt werden wollen. Denn danach sind die Bedingungen demokratischer Prozesse wie Wahlen und rechtsstaatliche Verfasstheit auf Dauer zerstört.
Leider sind dies keine Beschreibungen drohender Entwicklungen, sondern der schon eingetretenen Wirklichkeit. Der Wahlkampf um das Präsidentenamt in Polen wie das niederschmetternde Ergebnis belegen dies in erschreckender Weise. Wenn sich aber das demokratische Europa nicht aus diesem west-östlichen Zangengriff befreit, dann wird es zum Spielball von Trump-Amerika und Putin-Russland. Also ist jetzt der Moment, wo die Europäische Union alles unternehmen muss, um den politischen Einigungsprozess zu forcieren: Auf der einen Seite muss die EU Länder wie Ungarn, die schon längst die rechtsstaatliche Demokratie ausgehöhlt haben, strikt sanktionieren; auf der anderen Seite muss die EU sich außen- und verteidigungspolitisch handlungsfähig machen und vor allem das internationale Recht wie die Menschenrechtscharta und das Völkerrecht als unveräußerlich achten. In diesem Sinn ist dem Ausbau der EU die absolute Priorität einzuräumen, insbesondere vor der gefährlichen Hochrüstung der NATO. Schließlich gehören dieser Staaten an, die wesentlich dazu beitragen, die EU zu zerstören. Um es pfingstlich auszudrücken: Wir müssen die Geister scheiden!
Dieser Beitrag wurde am 4.6.2025 im Blog unseres Autors Christian Wolff erstveröffentlicht
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